Amnesty Journal 17. April 2024

Schmatzender Brokat

Eine Moorlandschaft; Sträucher, umgefallene Bäume, Wasserlöcher, die im Nebel liegen

Die Zerstörung riesiger Moorflächen steht für Proulx symbolisch für die Plünderung der Welt im Namen des Fortschritts.

Die US-Autorin Annie Proulx liebt Moore und ist fassungslos über deren Zerstörung. "Moorland" ist eine sorgenvolle Liebeserklärung an eine besondere Landschaftsform, die für den Klimaschutz sehr wichtig ist.

Von Patrick Loewenstein

Mit ihrer Mutter teilt sie das Gefühl, im Moor "in eine komplexe Welt seltsamer Überraschungen und schauriger Schönheit einzutauchen". Erregt betritt Annie Proulx in ihrer ersten Erinnerung "ein bebendes Büschel". Ihr Sujet wird bildhaft mal als "schmatzender Brokat", mal als "schimmelige Lasagne" geschildert.

Mit großer Sorgfalt beschreibt die US-Autorin ("Schiffsmeldungen") in ihrem neuen Buch "Moorland" die vielen Facetten von Nieder-, Hoch- und Waldmooren verschiedener Kontinente. Autobiografischen Szenen folgen detaillierte Schilderungen von Flora und Fauna der artenreichen und einzigartigen Feuchtbiotope. Proulx widmet sich erdgeschichtlicher Entstehung und systemischen Zusammenhängen des "wimmelnden interaktiven Zoos" ebenso wie der Mystik. Ergänzt durch unzählige Zitate aus der Moor-Rezeption in Kunst und Wissenschaft von Dante und Tacitus bis Thoreau und Darwin.

Reicher Lebensraum mit schlechtem Image

Seit der Steinzeit war das Moor für die Menschheit ein reicher Lebensraum, hatte aber ein eher schlechtes Image. Für die "Hochländer" war es ein Ort von "Nebel und üblen Ausdünstungen" sowie der Armut. Das wandelte sich radikal, als man entdeckte, dass trockengelegte Moore die "ertragreichsten Böden der Welt" sind. Die oft unumkehrbare Zerstörung riesiger Moorflächen steht symbolisch für die "Plünderung der Welt" im Namen des (kapitalistischen) Fortschritts. Darum ist für Proulx "das Glück beim Betrachten von Landschaften und unberührter Natur zunehmend mit Schmerz verknüpft". Mehrfach weist sie in diesem Zusammenhang auf die immens wichtige Rolle der Moore als CO2- und Methan-Speicher im Kampf gegen die Klimakrise hin.

Proulx fasziniert, dass Moore "sich ständig verändern" und so "den Schock des Wandels abfedern können". Aber nur bis zu einem gewissen Punkt, denn sie haben "über Generationen hinweg all ihre Kämpfe" verloren. Dem Verlust der Moore vor allem durch die maschinisierte Landwirtschaft folgte innerhalb weniger Generationen "das Vergessen des dazugehörigen Vokabulars" und somit jahrtausendealten Wissens. Sie beklagt in diesem Zusammenhang auch das mangelnde Harmonieverständnis der westlichen Welt: "Wir erkennen die langsamen Metamorphosen der Natur nicht, weil wir uns von ihr gelöst haben", denn "die Stunden und Tage eines Moores sind Jahrhunderte und Jahrtausende".

Am Ende gibt sich die Autorin versöhnlich. "Es ist gut, sich daran zu erinnern, dass unsere alte Erde sich (…) ständig verändert hat." Sie wünscht sich, dass ihre Leser*innen zumindest an "geistiger Flexibilität" gewinnen mögen. Durch die elegante Mischung aus Tatsachen und Subjektivität schafft die Pulitzer-Preisträgerin in "Moorland" die selten gelungene Verbindung von Wissenschaft, Kulturgeschichte und Belletristik. Ein gutes und wichtiges Buch zur richtigen Zeit.

Annie Proulx: Moorland. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Luchterhand, München 2023, 254 Seiten, 24 Euro.

Patrick Loewenstein ist Biologe und freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

 

WEITERE BUCHTIPPS

Plattenbau mit Radio

von Till Schmidt

"Die Entwurzelten" werden in Bosnien jene genannt, deren Lebenswerk infolge von Kriegstraumata und Flucht unterbrochen oder gar zerstört wurde. So erging es auch der Mutter des Schriftstellers Tijan Sila. Die einst stolze Universitätsdozentin wurde psychisch krank und ging daran zugrunde. Jahrzehnte später verarbeitete Sila sein Leben im Krieg, das auch ihn immer wieder in Albträumen heimsuchte und zu einem reizbaren Choleriker machte, zu einem literarischen Text.

Im Vordergrund von "Radio Sarajevo" stehen aber weder das Kriegsgeschehen und seine Vorgeschichte noch die Flucht seiner Familie nach Deutschland. Das wäre eine ganz "andere Geschichte", deutet Sila an. Stattdessen wählte der 43-Jährige Schriftsteller einen kurzen Ausschnitt seiner Kindheit in einer Plattenbausiedlung am Rand von Sarajevo, während der Belagerung der Stadt. Den emotionalen Kern dieser Zeit schildert Sila in einer feinfühligen und zugleich trockenen, direkten Sprache.

"Radio Saravejo" folgt keinem linearen Erzählmuster. Ereignisse, Dialoge und zwischenmenschliche Konstellationen werden häufig nur bruchstückhaft wiedergegeben und sind im Text verstreut. Zu Silas Alltag als Junge gehörten neben Kälte, Mangelversorgung und prügelnden Eltern auch die internationale Pop- und Rock-Musik der 1990er Jahre. Der Titel "Radio Sarajavo" verweist daher nicht nur auf eine damals zentrale Informationsquelle, sondern auch auf den individuellen Sound des Zehnjährigen.
Tijan Sila gelingt es, die Sozialisationsbedingungen in einer von toxischen Autoritätspersonen und Gruppendynamiken geprägten Gesellschaft so zu schildern, dass der Bosnienkrieg als Fortsetzung einer allgemeinen gesellschaftlichen Brutalisierung und Abstumpfung erscheint, er in seiner Besonderheit aber nicht unkenntlich wird. "Radio Sarajevo" ist komplex, lehrreich und humorvoll – und daher unbedingt lesenswert.

Tijan Sila: Radio Sarajevo. Hanser, Berlin 2023, 175 Seiten, 22 Euro.

Unterwegs im Niemandsland

von Marlene Zöhrer

Safi, Ruhi, Omid, Melika und Olena – das sind die Namen der Menschen, die Isabel Schayani in ihrem neuen Buch ausführlich zu Wort kommen lässt. Ihre Lebensgeschichten sind unterschiedlich, doch bewegen sich alle fünf im Niemandsland der Fluchtrouten – in der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit. Und sie alle wollen nach Deutschland.

Auf der Grundlage biografischer Interviews beschreibt die von Amnesty International im Jahr 2022 mit dem Marler Medienpreis Menschenrechte ausgezeichnete Journalistin die Lebensumstände ihrer Protagonist*innen zum Teil sehr detailliert. Dass dies auch dazu dienen soll, den Geflüchteten, die so häufig als anonyme Masse dargestellt werden, ein Gesicht zu geben, legt Schayani transparent dar. Immer wieder finden sich im Buch Einschübe, in denen sie ihre Rolle als Interviewerin, die mit den Geflüchteten in Kontakt tritt, reflektiert. 

Safi, Ruhi, Omid, Melika und Olena werden weder als politisch-widerständig romantisiert noch als Opfer ohne Handlungsmacht und eigenes Denkvermögen dargestellt. Das tut gut, doch persönlich nah kommt man den fünf Asylsuchenden auf den knapp 300 Buchseiten nicht. Zudem bleibt unklar, worum es sich bei "Nach Deutschland" handelt: um eine Reportage, eine Sammlung biografischer Porträts oder um eine Hintergrundanalyse, die konkrete Politikveränderung bewirken will?

Die Hintergründe etwa zur Bahai-Religion oder zu afghanischen Flüchtlingen im Iran sind allesamt lesenswert. Vieles davon ist hierzulande kaum bekannt, und gerade die Minderheiten im Nahen Osten werden häufig ignoriert. Dennoch lässt einen die Lektüre von "Nach Deutschland" etwas ratlos zurück. Das liegt an der frustrierenden Asylpolitik in Deutschland und Europa sowie am weltweiten Anstieg der Fluchtursachen, aber auch an der Darstellung dieser Zusammenhänge im Buch.

Isabel Schayani: Nach Deutschland. Fünf Menschen. Fünf Wege. Ein Ziel. C. H. Beck, München 2023, 319 Seiten, 26 Euro.

Schützende Norm

von Marlene Zöhrer

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist ­Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes ist Grund- und Leitsatz für ein friedliches und demokratisches Miteinander in Deutschland. 2024 wird unsere Verfassung 75 Jahre alt. Angesichts der aktuellen Ereignisse und politischen Entwicklungen sind die darin verankerten Rechte und Werte umso wichtiger und schützenswerter. So kommt das von Christine Olderdissen und Milla Olderdissen geschriebene Sachbuch genau zur rechten Zeit.

Die Juristin, die heute als Journalistin arbeitet, und ihre 18-jährige Tochter zeigen darin vor allem eines: Das Grundgesetz ist kein abstraktes, weltfremdes Konstrukt, sondern beeinflusst das Leben jeder und jedes Einzelnen unmittelbar. Die Grundrechte zählen und gelten immer, egal ob es um Generationengerechtigkeit (etwa beim Klimaschutz), politische Mitbestimmung, unbefugt gesprühte Graffiti, Beiträge in der Schülerzeitung, Mobbing im Klassenchat, Gewalt in der Familie, Ungleichbehandlung, Selbstbestimmung, das Asylrecht oder um die Privatsphäre geht.

Neben allgemeinen Informationen zum Grundgesetz und kurzen, verständlich formulierten Erklärungen zu Artikel 1 bis 19 zeigt "Jede*r hat das Recht" anhand konkreter Fallbeispiele, was Grundrechte bedeuten, wie sie ausgelegt und angewendet werden. Das Buch erklärt auch, dass sich das Verständnis mancher Grundrechte in den vergangenen 75 Jahren gewandelt hat: Einzelne Artikel wurden verändert oder ergänzt. Im Zusammenspiel mit Wiebke Kubitzas Illustrationen, die die Kapitel einleiten, bietet dieses Sachbuch Jugendlichen wie Erwachsenen eine niedrigschwellige und fundierte Möglichkeit, sich mit den Grundrechten zu beschäftigen.

Christine Olderdissen, Milla Olderdissen und Wiebke Kubitza: Jede*r hat das Recht. Fälle, Fakten und Gedanken zum Grundgesetz. Gabriel, Stuttgart 2023, 192 Seiten, 15 Euro. Ab 12 Jahren.

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