Amnesty Journal 12. April 2024

Überleben im Sahel wird schwieriger

Ein Junge sitzt in einer Schule in Niger, einem Gebäude aus Holzzweigen, durch dessen Wände Sonne fällt, hinter ihm sitzen andere Schüler*innen, die Mädchen tragen Kopftuch.

Glück gehabt: Kinder und Jugendliche können hier noch zur Schule gehen (Liboré, Niger, April 2023).

Die Menschenrechtslage in den Sahelstaaten Burkina Faso, Mali und Niger hat sich weiter verschlechtert. Tausende Menschen wurden getötet, Millionen sind auf der Flucht. Angriffe bewaffneter Gruppen, Entführungen und Raub gehören für die Bevölkerung in den drei Ländern zum Alltag.

Von Bettina Rühl

Es ist vergleichsweise still geworden um die Länder im zentralen Sahel, also um Burkina Faso, Mali und Niger. Seit den diversen Militärputschen – fünf waren es seit 2020 – und dem Ende der UN-Mission MINUSMA in Mali im Jahr 2023 schafft es kaum noch eine Meldung in die deutschsprachigen Medien. Dabei ist die Lage dort weiterhin alarmierend: Der Sahel bleibt nach Zahlen der US-Regierung eine Weltregion mit extrem vielen gewalttätigen Ereignissen (2.912 zwischen Anfang 2021 und Mitte 2023) sowie damit zusammenhängenden Todesfällen (fast 10.000). 

Was die Weltgesundheitsorganisation als Fazit des Jahres 2023 schreibt, ist nüchtern und gerade dadurch erschütternd: "Die Krise in der Sahelzone ist eine der am schnellsten wachsenden, und sie gehört gleichzeitig zu den am meisten vergessenen Krisen der Welt. Die Region sieht sich aufgrund von bewaffneten Konflikten, Ernährungsunsicherheit, Klimawandel, Krankheiten, Verlust von Lebensgrundlagen und politischer Instabilität mit einem noch nie dagewesenen Bedarf an humanitärer Hilfe konfrontiert. (…) Sicherheitsvorfälle, Angriffe und Entführungen sind für Millionen von Menschen zur täglichen Realität geworden."

Kein einziges Menschenrecht garantiert

Es gibt nicht ein einziges Menschenrecht, das die drei Staaten der Region ihrer jeweiligen Bevölkerung garantieren können. Angefangen vom Recht auf Leben über das Recht auf Eigentum bis hin zu den Rechten auf ausreichend Nahrung, auf Bildung oder größtmögliche Gesundheit. 

Nach Angaben des Welternährungsprogramms erreichte der akute Hunger schon Mitte Juli 2023 für mehr als 44.000 Menschen in Mali und Burkina Faso ein "katastrophales Ausmaß". In Niger wussten 3,3 Millionen Menschen nicht, wo ihre nächste Mahlzeit herkommen soll. Millionen Menschen waren Ende November 2023 vertrieben; die meisten waren vor Gewalt geflohen. 9.000 Schulen mussten wegen bewaffneter Konflikte mittlerweile schließen, heißt es in einer gemeinsamen Studie von Unicef, UNHCR und dem Norwegian Refugee Council. 

Nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen, von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen ­begehen in der Sahelzone sowohl Militärs als auch bewaffnete Gruppen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Zu den nicht-staatlichen bewaffneten Akteuren zählen islamistische Gruppen mit Verbindungen zu Al-Qaida im Islamischen Maghreb und zum IS in der Größeren Sahara, aber auch teils staatlich unterstützte sogenannte Selbstverteidigungsmilizen. 

Weitere Gewaltakteure sind ethnisch geprägte Milizen, die in einigen Regionen zunehmend um die Vorherrschaft und die Kontrolle der Ressourcen in den Gemeinden kämpfen, also vor allem um Wasser, Ackerflächen und Weideland. 

Der junge Malier Adamu Magadji* schildert bei einem Gespräch auf dem Viehmarkt von Bamako ein Beispiel für "Kriegsverbrechen der Militärs an der ­Bevölkerung". Der junge Mann, der zwischen Tieren und Händler*innen Zuflucht gesucht hat, wirkt zerbrechlich. Das liegt nicht nur daran, dass seine schmal geschnittene schwarze Trainingshose flattert, als gäbe es darunter kaum einen Körper. Es liegt auch daran, dass er schon nach wenigen Sätzen zu weinen beginnt. Eine Pause oder gar den Abbruch des Gesprächs lehnt er trotzdem ab, wenn auch unter Tränen. Er habe über das, was in seinem Heimatdorf vorgefallen sei, bisher noch nie sprechen können. Jetzt wolle er reden, trotz aller Angst. 

Die Armee hat das Dorf umstellt, viele Menschen festgenommen und drauflos geschossen.

Magadji*
Name aus Sicherheitsgründen geändert

Anfang 2020 lebte der heute 29-Jährige noch mit seiner Familie in einem Dorf in der Nähe des Ortes Mondoro im Zentrum von Mali. Eines Morgens gegen sechs habe er seiner chronisch kranken Mutter wie immer ihre Medikamente gegeben, traditionelle Medizin, die jeden Tag sehr früh verabreicht werden müsse. Während er bei seiner Mutter saß, hörte er draußen erst Schritte, dann Schüsse. Immer mehr Schüsse. "Die Armee hat das Dorf umstellt, viele Menschen festgenommen und drauflos geschossen", erzählt Magadji. Zwischenzeitlich hätten sie immer wieder geschrien: "Hier wohnen schlechte Menschen!"

Gemeint war vermutlich, dass die Dorfbewohner*innen verdächtigt wurden, Sympathisant*innen oder Mitglieder einer der vielen bewaffneten islamistischen Gruppen in Mali zu sein. Grundlage dieser Verdächtigung ist wahrscheinlich die Tatsache, dass die Dorfbewohner*innen zum Volk der Fulbe gehören. Ein radikaler Prediger namens Amadou Koufa rekrutiert vor allem Männer seines Volkes, der Fulbe. Und Koufas Gruppe Katiba Macina ist mit dem Netzwerk Al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen in Mali verbündet. Die Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe stünden deshalb bei Regierung und Armee unter Generalverdacht, kritisieren Menschenrechtsorganisationen und Vereinigungen der Fulbe immer wieder. 

Töten ohne Unterschied

"Die Soldaten haben überhaupt nicht darauf geachtet, wen sie vor sich haben", ­erzählt Magadji. "Für sie waren wir alle gleich." Am Ende hätten 23 Menschen tot auf dem Boden gelegen, darunter seine Mutter, seine Frau, ihr gemeinsames Kind und sein Zwillingsbruder. "Ob es noch mehr Tote gab, weiß ich nicht. Das sind nur die, die sofort tot waren und die ich gesehen habe."

Er selbst habe zwischen den Leichen gelegen und sich leblos gestellt. "Die Soldaten gingen zwischen ihren Opfern herum und überprüften, ob sie wirklich tot waren. Wer noch lebte, dem schossen sie eine Kugel in den Kopf." Warum sie ihn aussparten, weiß er nicht. Magadji zieht den linken Ärmel seines T-Shirts hoch und zeigt auf eine Narbe: "Mich hat die Kugel nur am Arm getroffen." 

Schließlich hätten die Soldaten ihn und andere Überlebende mitgenommen. In zwei Gefängnissen sei er insgesamt sieben Monate lang festgehalten und schwer gefoltert worden. "Es gibt nichts, was sie mir nicht angetan haben", sagt Magadji. "Das Einzige, was sie mir erspart haben, ist der Tod." Im Oktober 2020 wurde er freigelassen. Seitdem versucht er, zu überleben und zwischen den Tieren und Händler*innen auf dem Viehmarkt möglichst unbemerkt zu bleiben.

Ein Mann, Kinder und Kühe auf einem matschigen Weg vor Wellblechhütten.

Ein Flüchtlingslager, das auch ein Markt ist: Camp Faladie, Bamako, Mali, Juni 2022

Während Magadji noch im Gefängnis saß, putschten sich die Militärs im August 2020 in der malischen Hauptstadt Bamako unter dem Jubel der Bevölkerung an die Macht. Auch in Burkina Faso (2022) und Niger (2023) übernahm inzwischen die Armee gewaltsam die politische Kontrolle. Ein zentrales Argument der putschenden Generäle: Die demokratisch gewählten Regierungen und ihre bis dahin westlichen Verbündeten hätten nichts oder zu wenig getan, um die Bevölkerung vor den Angriffen islamistischer Gruppen zu schützen. 

Die Bevölkerung stand in allen drei Ländern mehr oder weniger deutlich ­hinter den Putschen, weil sich die Menschen von den teilweise korrupten zivilen Regierungen schon lange nicht mehr vertreten fühlten, auch wenn diese formal demokratisch gewählt worden waren. Ähnlich verhasst wie die eigenen Eliten war ihnen auch Frankreich, das mit den Machthabern in Mali, Niger und Burkina Faso kooperierte.

Teile der Bevölkerung begrüßen Bruch mit Frankreich

Große Teile der Bevölkerung fühlten sich von der ehemaligen Kolonialmacht zum einen tatsächlich kaum vor den Morden und Massakern geschützt. Hinzu kam die Erfahrung krasser Ausbeutung. In allen drei Ländern gibt es dafür Beispiele, angefangen bei der gemeinsamen Währung, dem westafrikanischen Francs CFA: Es ist die weltweit letzte bestehende Kolonialwährung, bis heute müssen die ehemaligen Kolonien Frankreichs ihre Währungsreserven in der französischen Zentralbank lagern, der Wechselkurs ist fest an den Euro (in der Nachfolge des Francs) ­gekoppelt. Dank dieser Währungspolitik gelang es Frankreich, die eigene wirtschaftliche Dominanz in den Sahelstaaten für Jahrzehnte abzusichern. 

Männer stehen dicht beinander, eine Demonstration, eine Flagge wird hochgehalten und eine Tröte, sie feiern einen Militärputsch in Burkina Faso.

Anhänger des Militärs feiern den Putsch (Ouagadougou, Burkina Faso, Januar 2022) 

Zu den sichtbaren Folgen der Ausbeutung gehört die Präsenz französischer Firmen wie der Telekommunikationsfirma Orange oder des Energieunternehmens TotalEnergiesSE, um nur die bekanntesten zu nennen. Für Frankreich strategisch und wirtschaftlich ungleich wichtiger ist der Uranabbau in Niger – die Förderung begann in den 1970er Jahren und ist bis heute fest in französischer Hand. Dem französischen Staatskonzern Orano (ehemals Areva) gehören mehrheitlich drei gewaltige Bergwerke, von denen zurzeit nur eins produziert. Der nigrische Staat hält nur ein Drittel der Anteile.

2022 kam ein Drittel des in Frankreich verwendeten Urans aus Niger, auch für die Uranimporte der EU spielt das Land eine entscheidende Rolle. Die vier Jahrzehnte Uranabbau bei Arlit und Akokan im Norden Nigers haben dort deutlich sichtbare und für die Bevölkerung gesundheitlich belastende Spuren hinterlassen: Auf einer Fläche von 120 Hektar türmt sich der Abraum 35 Meter hoch. Wie der nigrische Dokumentarfilm "La Colère dans le vent" ("Wut im Wind") 2016 nachwies, gibt es in der Umgebung der Uranbergwerke eine Häufung von Krebserkrankungen, Lungenerkrankungen und Missbildungen bei Neugeborenen. Dort, wo der Wind den radioaktiven Staub hinträgt, sterbe das Vieh außerdem häufiger als anderswo. 

Gewalt nimmt weiter zu

Schlimmer als unter den alten, mit Frankreich verbündeten Eliten könne es nicht mehr kommen, schienen viele zu denken, die den jeweiligen Putsch guthießen. Doch seit die Militärs die Macht übernommen haben, kann sich die Bevölkerung ihres Lebens und ihres Besitzes auch nicht sicherer sein als unter der zivilen Regierung, wie Zahlen des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) und des Africa Center for Strategic Studies zeigen. Seit der Machtübernahme der Militärs haben politisch motivierte Gewalttaten und die Zahl der zivilen Opfer deutlich zugenommen.

Gleichzeitig wird es offenbar immer schwieriger, Kritik an den neuen militärischen Führern zu äußern. Zum Beispiel in Mali: Dort wurde im September sogar Adama Ben Diarra zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er die von Militärs geleitete Übergangsregierung kritisiert hatte. Ben Diarra war Präsident der russlandfreundlichen Bewegung Yerewolo Débout sur les remparts, Mitglied des Übergangsparlaments und bis dahin als treuer Parteigänger der Übergangsregierung bekannt.

"Lügen des Westens"

Noch 2022 hatte er Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch die malische Armee auch gegenüber dem Amnesty Journal als "Lügen des Westens" abgetan. Nun forderte er, dass sich die Übergangsregierung an die selbst gesetzte Frist halte und die Macht im Februar 2024 an gewählte Politiker*innen zurückgebe. 

In Burkina Faso ergeht es kritischen Stimmen nicht viel besser: Nach Erkenntnissen von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen nutzen die nationalen Behörden ein Dekret vom April 2023, um Regierungskritiker*innen zum Schweigen zu bringen. ­Inhalt des Dekrets ist unter anderem die Generalmobilmachung, um dem Staat "alle notwendigen Mittel" im Kampf gegen dschihadistische Angriffe an die Hand zu geben. Am 4. November begann laut der Organisation Reporter ohne Grenzen eine "neue Welle der Einberufungen", die vor allem auf Regierungskritiker abzielte. 

So zeichnet sich in allen drei Ländern ab, dass die Militärs keine Heilsbringer sind. Außer der Sicherheitslage hat sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert. Die Fluchtbewegungen weiten sich aus, Vertriebene können ihre Felder nicht bestellen, der Hunger nimmt weiter zu. Außerdem werden die Menschen von Krisen getroffen, die auch anderswo zu spüren sind. Auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie folgt nun ein drastischer Preisanstieg. Die dramatisch hohe Inflation lässt die Menschen weiter verarmen. Ein Teufelskreis, denn Verzweiflung schürt die Bereitschaft zu Gewalt – und flächendeckende Gewalt zerstört wirtschaftliche Möglichkeiten. Das Recht auf Leben wird im Sahel zu einem Gut, das immer weniger gesichert ist.

*Name aus Sicherheitsgründen geändert

Bettina Rühl ist freiberufliche Journalistin und arbeitet schwerpunktmäßig zu Afrika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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