Amnesty Report 24. April 2024

Regionalkapitel Naher Osten und Nordafrika 2023

Menschen wärmen sich nachts in in der palästinensischen Stadt Chan Yunis im Gazastreifen an einem Feuer inmitten der Ruinen von Häusern, die bei israelischen Angriffen zerstört wurden (26. November 2023).

Menschen wärmen sich in in der palästinensischen Stadt Chan Yunis im Gazastreifen an einem Feuer inmitten der Ruinen von Häusern, die bei israelischen Angriffen zerstört wurden (26. November 2023).

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die verheerende Gewalteskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die gesamte Region und weltweit. Nach einem Angriff in Israel am 7. Oktober 2023, bei dem die Hamas gezielt Zivilpersonen tötete oder als Geiseln und Gefangene verschleppte, töteten die israelischen Streitkräfte bis zum Jahresende im Gazastreifen mehr als 21.000 Menschen, zumeist Zivilpersonen, viele davon rechtswidrig. Die Ursachen des Konflikts reichen weit zurück. Angefangen von der Vertreibung und Enteignung der Palästinenser*innen durch Israel im Jahr 1948 und der militärischen Besetzung des Gazastreifens und des Westjordanlands im Jahr 1967 bis hin zum fortgesetzten israelischen Apartheidsystem gegen die Palästinenser*innen und zu der seit 16 Jahren anhaltenden rechtswidrigen israelischen Blockade des besetzten Gazastreifens.

Auch die langjährigen Konflikte im Irak, im Jemen, in Libyen und in Syrien überschatteten weiterhin das Leben von Millionen Menschen. Besonders betroffen waren ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen wie Binnenvertriebene, Flüchtlinge und Migrant*innen sowie ethnische Minderheiten, denen vielfach ihre grundlegenden Rechte auf Nahrung, Wasser, angemessenen Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Sicherheit verwehrt wurden. Wahllose Angriffe, die Zerstörung von Infrastruktur, gewaltsame Vertreibungen und die Willkür von Sicherheitskräften, Milizen und bewaffneten Gruppen dauerten an und wurden nicht geahndet.

Die Regierungen reagierten nicht angemessen auf drastisch gestiegene Lebenshaltungskosten, Wirtschaftskrisen und klimabedingte Naturkatastrophen in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, obwohl diese die grundlegenden Menschenrechte von Hunderten Millionen Menschen beeinträchtigten. Stattdessen ergriffen sie Strafmaßnahmen gegen Personen, die auf politische, soziale und wirtschaftliche Missstände aufmerksam machten, um sie zum Schweigen zu bringen. Andersdenkende und Kritiker*innen wurden unbegründet strafrechtlich verfolgt, gefoltert und mit harten Strafen belegt, die von Drohungen, Reiseverboten und anderen Schikanen bis hin zur Todesstrafe reichten. Betroffen waren vor allem Journalist*innen und Personen, die sich online äußerten, politische und gewerkschaftliche Aktivist*innen sowie Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich z. B. für die Rechte von Frauen, lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) oder anderen benachteiligten Bevölkerungsgruppen einsetzten. In Ägypten, im Iran und in Jordanien unterdrückten die Sicherheitskräfte Proteste mit rechtswidriger, manchmal tödlicher Gewalt, massenhaften Festnahmen und Verschwindenlassen. In den allermeisten Fällen wurden diese Menschenrechtsverletzungen nicht geahndet.

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität, der Religion und des rechtlichen oder sozialen Status war noch immer weit verbreitet und in einigen Ländern sogar gesetzlich verankert.

Obwohl extreme Wetterereignisse wie Dürren und extreme Hitzewellen in Teilen des Nahen Ostens und Nordafrikas zu Zerstörung und Todesopfern führten, ergriffen die Regierungen nicht die notwendigen Maßnahmen, um den Klimawandel und die Umweltzerstörung zu bekämpfen. Mehrere Länder kündigten an, die Produktion fossiler Brennstoffe auszuweiten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate, die Gastgeber der Weltklimakonferenz (COP28) waren, sowie Katar und Saudi-Arabien.

Israel-Palästina-Konflikt

Im Oktober 2023 explodierte der seit Langem schwelende israelisch-palästinensische Konflikt. Die Folgen für die politische Situation im Nahen Osten und die internationalen Menschenrechtsnormen betrafen nicht nur die Region, sondern die ganze Welt.

Am 7. Oktober 2023 verübten die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen Kriegsverbrechen, als sie in Israel Hunderte Menschen vorsätzlich töteten und Menschen als Geiseln nahmen. Auch der wahllose Abschuss ungelenkter Raketen auf Israel stellte ein Kriegsverbrechen dar. Die israelischen Streitkräfte reagierten mit schweren Luftangriffen auf den dicht besiedelten Gazastreifen und verübten Kriegsverbrechen, indem sie mit unterschiedslosen und anderen rechtswidrigen Angriffen Zivilpersonen töteten und verletzten und Häuser und andere zivile Objekte beschädigten oder zerstörten, rechtswidrig eine vollständige Belagerung gegen die ohnehin verarmte Zivilbevölkerung verhängten und 1,9 Mio. Palästinenser*innen vertrieben.

In den zwölf Wochen bis zum Jahresende töteten israelische Streitkräfte bei Luftangriffen und Bodenoffensiven nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen 21.600 Palästinenser*innen, von denen ein Drittel Kinder waren. Sie verletzten viele weitere Personen und machten einen Großteil der bebauten Gebiete des Gazastreifens dem Erdboden gleich. Aussagen von Zeug*innen, Satellitenaufnahmen sowie verifizierte Fotos und Videos, die von Amnesty International und anderen NGOs zusammengetragen wurden, bewiesen, dass die israelischen Streitkräfte überfüllte Flüchtlingslager und Wohngebäude bombardierten, dabei ganze Familien auslöschten und Krankenhäuser, Kirchen, Moscheen, Schulen in Trägerschaft der Vereinten Nationen sowie Bäckereien, Straßen und andere wichtige Einrichtungen und Infrastruktur zerstörten. Der allgemeine Aufruf Israels, die Bevölkerung solle den nördlichen Teil des Gazastreifens verlassen, während vermeintlich sichere Gebiete im Süden weiterhin bombardiert wurden, kam einer Vertreibung der Zivilbevölkerung gleich, die einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellt.

Durch die israelische Blockade und Angriffe auf Krankenhäuser im Gazastreifen mussten Tausende Menschen grundlos ihr Leben lassen. Sie führten auch dazu, dass 2,2 Mio. Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Kraftstoff hatten und das Gesundheitssystem praktisch zusammenbrach.

Während sich die internationale Aufmerksamkeit auf den Gazastreifen richtete, intensivierten sich im besetzten Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem die gewaltsamen Angriffe auf Palästinenser*innen durch israelische Sicherheitskräfte und staatlich unterstützte bewaffnete jüdische Siedler*innen. Dabei wurden 511 Menschen getötet und Tausende Palästinenser*innen zur Flucht aus ihren Häusern gezwungen. Die Angriffe hatten keinerlei strafrechtliche Konsequenzen. Außerdem rissen die israelischen Behörden im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem mehr als tausend Gebäude ohne militärische Rechtfertigung ab, wodurch 2.249 Palästinenser*innen vertrieben wurden, und griffen deutlich vermehrt auf Verwaltungshaft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren zurück.

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Internationale Reaktionen

Obwohl das Blutvergießen, die Zerstörung und das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und in Israel ein erschütterndes Ausmaß annahm, fand die internationale Gemeinschaft darauf keine sinnvolle Antwort. Einige Staaten belieferten die Konfliktparteien weiterhin mit Waffen, die eingesetzt wurden, um eklatante Menschenrechtsverletzungen zu verüben. Dies galt insbesondere für die USA, die außerdem im UN-Sicherheitsrat mit ihrem Vetorecht wirksame Maßnahmen und einen Aufruf zu einem Waffenstillstand verhinderte.

Die USA, viele westeuropäische Staaten und weitere einflussreiche Nationen stellten sich öffentlich hinter Israels Vorgehen und untergruben damit die Achtung des humanitären Völkerrechts und den Schutz der Zivilbevölkerung. Die mangelnde Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, auf die Achtung der Menschenrechte und das Einhalten des humanitären Völkerrechts zu pochen, ermutigte Israel, seine Militäroffensive im Gazastreifen trotz der verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung fortzusetzen.

Am 16. November 2023 mahnte eine Gruppe von UN-Expert*innen, im Gazastreifen würde sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein "Völkermord anbahnen".

Während die internationale Gemeinschaft eine sinnvolle Reaktion vermissen ließ, bekundeten weltweit Hunderte Millionen Menschen bei wöchentlichen Großdemonstrationen ihre Solidarität mit der Bevölkerung des Gazastreifens und forderten einen Waffenstillstand und ein Ende der israelischen Blockade.

Auch im Nahen Osten und in Nordafrika fanden Solidaritätskundgebungen statt, selbst in Ländern, die ihre Beziehungen zu Israel normalisiert hatten und in denen Demonstrationen verboten oder riskant waren. In Ägypten, wo landesweit Zehntausende auf die Straße gingen, nahmen die Behörden zahlreiche Personen willkürlich fest. In Bahrain demonstrierten rund 1.000 Menschen. Auch in Algerien, Jordanien, Libyen, Marokko, Syrien und Tunesien sowie im Iran, Irak, Jemen, Libanon und dem Westjordanland gab es große Demonstrationen.

Die Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit verurteilten bei einem gemeinsamen Sondergipfel am 11. November 2023 die "israelische Aggression gegen den Gazastreifen, die Kriegsverbrechen und die barbarischen und unmenschlichen Massaker der Besatzungsregierung". Im Dezember reichte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof eine Klage und einen Eilantrag ein, mit der Begründung, das Vorgehen Israels im Gazastreifen verstoße gegen die Völkermordkonvention von 1948.

Gleichzeitig wuchs die Besorgnis, dass sich der Konflikt ausweiten könnte. Ab dem 7. Oktober 2023 führten grenzüberschreitende Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hisbollah sowie anderen bewaffneten Gruppen im Südlibanon zum Tod von mindestens vier Zivilpersonen in Israel und mindestens 20 Zivilpersonen im Libanon. Zwischen dem 10. und 16. Oktober 2023 setzte die israelische Armee bei Artillerieangriffen an der Südgrenze des Libanon weißen Phosphor ein. Amnesty International forderte, einen entsprechenden Angriff auf die Stadt Dhayra am 16. Oktober als mögliches Kriegsverbrechen zu untersuchen. Am 13. Oktober 2023 tötete israelischer Artilleriebeschuss im Südlibanon einen Journalisten und verletzte sechs weitere Journalist*innen. Bei israelischen Angriffen im Oktober in Syrien wurden acht Soldaten getötet und der Flughafen von Aleppo viermal getroffen. Ab dem 9. Oktober griff das israelische Militär mehrfach den Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen an. Bei einem der Angriffe wurden ägyptische Grenzsoldaten verletzt.

Weltweit nahmen Hass und Rassismus gegen palästinensische Gemeinschaften und Antisemitismus gegen jüdische Gemeinschaften zu, einschließlich Aufstachelung zu Gewalt, Feindseligkeit und Diskriminierung im Internet. Einige Regierungen unterdrückten die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, um propalästinensische Demonstrationen und Slogans zu unterbinden.

Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet alle Konfliktparteien, Zivilpersonen und zivile Objekte zu schützen. Amnesty International fordert einen sofortigen Waffenstillstand, um weitere zivile Todesopfer zu verhindern und lebensrettende humanitäre Hilfslieferungen zu ermöglichen, die die Bevölkerung des Gazastreifens dringend benötigt. Die Organisation fordert außerdem unabhängige internationale Untersuchungen der völkerrechtlichen Verbrechen, die alle Kriegsparteien verübt haben. Amnesty International fordert, alle zivilen Geiseln, die von der Hamas festgehalten werden, und alle Palästinenser*innen, die von Israel willkürlich inhaftiert wurden, umgehend freizulassen. Die internationale Gemeinschaft sollte gegen alle Konfliktparteien ein umfassendes Waffenembargo verhängen.

Weitere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Auch andere langjährige bewaffnete Konflikte und deren Auswirkungen zerstörten 2023 das Leben von Millionen Menschen. Konfliktparteien verübten Kriegsverbrechen und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, teilweise mit Unterstützung ausländischer Regierungen.

In dem seit zwölf Jahren andauernden bewaffneten Konflikt in Syrien waren alle Konfliktparteien und deren Verbündete für rechtswidrige Angriffe verantwortlich, die Zivilpersonen töteten und lebenswichtige zivile Infrastruktur zerstörten. Die syrischen Regierungstruppen, die von russischen Truppen unterstützt wurden, unternahmen rechtswidrige Bodenangriffe und ab Oktober 2023 vermehrt Luftangriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte im Nordwesten des Landes. Dabei wurden zahlreiche Zivilpersonen getötet und Zehntausende Menschen vertrieben.

In Libyen verübten Milizen und bewaffnete Gruppen rechtswidrige Angriffe, setzten Waffen mit weitreichender Wirkung in Wohnvierteln ein, töteten und verletzten bei bewaffneten Auseinandersetzungen Zivilpersonen und zerstörten Privateigentum und zivile Infrastruktur. Tausende Menschen waren weiterhin aufgrund ihrer Stammeszugehörigkeit, ihrer politischen Überzeugung oder aus konfliktbezogenen Gründen willkürlich inhaftiert. Im Jemen gingen die bewaffneten Kämpfe und grenzüberschreitenden Angriffe im Vergleich zu den Vorjahren zwar zurück, doch begingen alle Konfliktparteien weiterhin rechtswidrige Angriffe und Tötungen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Alle an bewaffneten Konflikten beteiligten Parteien müssen sich an das humanitäre Völkerrecht halten und insbesondere gezielte Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur sowie wahllose Angriffe einstellen. Ausländische Regierungen müssen Waffenlieferungen stoppen, wenn ein erhebliches Risiko besteht, dass diese genutzt werden, um schwere Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu verüben oder zu ermöglichen.

Eine Rauchsäule steigt empor über der Stadt.

Explosion in der nordsyrischen Stadt Idlib nachdem einem Luftangriff mit Kampfflugzeugen (14. Oktober 2023)

Unterdrückung Andersdenkender

Im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika verletzten die Behörden weiterhin die Rechte von Menschen, die sich online oder anderweitig kritisch über die Regierung oder die Sicherheitskräfte ihres Landes, die Menschenrechtslage, die Wirtschaftspolitik, internationale Angelegenheiten oder vermeintlich "unmoralische" Themen äußerten.

Nach den Protesten unter dem Motto "Frau, Leben, Freiheit" im Iran im Vorjahr gingen die Behörden 2023 noch schärfer gegen Frauen und Mädchen vor, die sich dem Kopftuchzwang widersetzten. Außerdem schikanierten sie Familien, die Wahrheit und Gerechtigkeit forderten, weil ihre Angehörigen rechtswidrig getötet worden waren, als sie an Demonstrationen teilnahmen oder sich zufällig in der Nähe aufhielten. Unzählige Journalist*innen, Rechtsanwält*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen wurden festgenommen. Die Behörden unterbrachen vor und während Protesten die Internet- und Mobilfunknetze, verhinderten Gedenkveranstaltungen, die im September 2023 landesweit an den Beginn der Demonstrationen im Vorjahr erinnern wollten, durch Festnahmen und schlugen kleinere lokale Proteste mit rechtswidriger Gewalt und massenhaften Festnahmen nieder.

In Ägypten verschärfte sich die Repression vor der Präsidentschaftswahl im Dezember 2023, zu der wirkliche Oppositionskandidat*innen nicht antreten durften. Ins Visier gerieten vor allem Oppositionspolitiker*innen und deren Anhänger*innen, Familienangehörige von im Ausland lebenden Dissident*innen, Gewerkschafter*innen, Rechtsanwält*innen, Journalist*innen sowie alle Personen, die die Menschenrechtslage, die Wirtschaftspolitik der Regierung oder die Rolle des Militärs kritisierten. Die Sicherheitskräfte ließen Andersdenkende weiterhin verschwinden, folterten sie, verfolgten sie zu Unrecht und inhaftierten sie willkürlich.

Einige Staaten nutzten Antiterrorgesetze oder fingierte Anklagen, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und jegliche Kritik an der Regierung hart zu bestrafen.

In Algerien gingen die Behörden wegen kritischer Meinungsäußerungen, insbesondere Kommentaren im Internet, strafrechtlich gegen Aktivist*innen und Journalist*innen vor und schlossen Medienunternehmen. Die irakischen Behörden griffen das Recht auf Meinungsfreiheit an und versuchten Gesetze und Verordnungen einzuführen, um dieses Recht zu beschneiden.

In Tunesien verschärften die Behörden ihr Vorgehen gegen Andersdenkende, indem sie zunehmend unbegründete Verschwörungs- und Terrorismusvorwürfe gegen prominente Oppositionelle und andere Kritiker*innen erhoben und ein neues drakonisches Gesetz über Internetkriminalität zur Anwendung brachten. Mitglieder der Oppositionspartei Ennahda waren besonders betroffen, und viele ihrer führenden Vertreter kamen für längere Zeit in Untersuchungshaft. Gegen mehr als 50 politische Aktivist*innen wurde unter dem konstruierten Vorwurf der "Verschwörung" ermittelt, und zahlreiche Demonstrierende, die sich für soziale Rechte oder die Umwelt einsetzten, wurden zu Unrecht strafrechtlich verfolgt.

In Saudi-Arabien gingen die Behörden weiterhin unerbittlich gegen vermeintliche Dissident*innen vor. Das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten verurteilte Personen, die friedlich ihre Rechte auf Meinungs- oder Vereinigungsfreiheit wahrgenommen hatten, nach grob unfairen Verfahren zu langen Haftstrafen, u. a. wegen Kommentaren im Internet. Das Gericht bestätigte auch den Schuldspruch gegen Salma al-Shehab wegen terrorismusbezogener Straftaten und verhängte 27 Jahre Haft und ein anschließendes 27-jähriges Reiseverbot gegen sie. Sie wurde u. a. wegen "Störung der öffentlichen Ordnung und Destabilisierung der staatlichen Sicherheit und Stabilität" verurteilt, weil sie Twitter-Beiträge veröffentlicht hatte, die Frauenrechte in Saudi-Arabien unterstützten.

Die Vereinigten Arabischen Emirate, die im Dezember 2023 die Weltklimakonferenz (COP28) ausrichteten, starteten parallel zur Konferenz einen Massenprozess gegen mehr als 80 Angeklagte, darunter Menschenrechtsverteidiger und gewaltlose politische Gefangene, die bereits seit Jahren wegen konstruierter "Terrorismus"-Vorwürfe inhaftiert waren. Mindestens 26 gewaltlose politische Gefangene, die lediglich friedlich ihre Überzeugungen zum Ausdruck gebracht hatten, saßen dort weiterhin im Gefängnis.

In vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas wurde das Recht auf Versammlungsfreiheit 2023 sogar noch stärker unterdrückt als in den Vorjahren. Abgesehen von propalästinensischen Kundgebungen waren keine großen Demonstrationen möglich, und gegen die wenigen Proteste, die stattfanden, gingen die Behörden in der Regel mit rechtswidriger Gewaltanwendung und Festnahmen vor.

Hunderttausende Israelis gingen auf die Straße, um gegen eine geplante Justizreform zu protestieren. In einigen Fällen reagierte die Polizei mit übermäßiger Gewalt und nahm Menschen willkürlich fest. Gleichzeitig unterdrückte die israelische Militärverordnung 101 das Recht der Palästinenser*innen auf friedliche Proteste und Versammlungen im Westjordanland.

Die jordanischen Behörden unterbanden zunehmend friedliche Aktivitäten von politischen Aktivist*innen, Journalist*innen, Arbeitnehmer*innen, Parteimitgliedern, LGBTI+ und anderen Personen. Ein neues Gesetz über Internetkriminalität schränkte das Recht auf Meinungsfreiheit noch stärker ein. Unter Rückgriff auf repressive und vage formulierte Gesetze wurden gegen mindestens 43 Personen Ermittlungen oder Gerichtsverfahren wegen Meinungsäußerungen im Internet eingeleitet. Neun von ihnen wurden vor ein Militärgericht gestellt.

Die Regierungen müssen die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit respektieren und sicherstellen, dass Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen diese Rechte ohne Schikane, tätliche Angriffe und strafrechtliche Verfolgung wahrnehmen können. Alle diejenigen, die wegen der Ausübung dieser Rechte inhaftiert sind, müssen umgehend freigelassen werden.

Wirtschaftliche und soziale Rechte

Eine hohe Inflation, Versäumnisse der Regierungen und andere lokale wie auch internationale Faktoren sorgten dafür, dass die Kosten für Energie und Lebensmittel in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas 2023 stark anstiegen. Betroffen waren vor allem die ressourcenarmen und bevölkerungsreichen Länder der Region, von denen einige sich von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Coronapandemie noch nicht erholt hatten. Für Millionen Menschen bedeutete dies, dass sie nicht genügend Nahrungsmittel hatten und ihre Rechte auf Trinkwasser, Gesundheit und einen angemessenen Lebensstandard beeinträchtigt waren. Besonders hart wirkten sich die wirtschaftlichen Probleme auf Menschen aus, die in mehrfacher Hinsicht diskriminiert wurden, wie Frauen, Geringverdiener*innen, Flüchtlinge, Migrant*innen und Binnenvertriebene.

Im Libanon verschärfte sich 2023 die Wirtschaftskrise: Die Inflation erreichte dreistellige Werte, und die Lebensmittelpreise stiegen um mehr als 300 Prozent an. Viele Menschen konnten sich Medikamente, Trinkwasser, Lebensmittel, Strom und andere grundlegende Güter und Dienstleistungen nicht mehr im notwendigen Umfang leisten. Dies galt insbesondere für Angehörige benachteiligter Bevölkerungsgruppen. In Ägypten hatte die Wirtschaftskrise massive Folgen für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Menschen. Die Regierung wandte etwa die Hälfte des Haushalts für den Schuldendienst auf. Sie hielt sich bezüglich der Ausgaben für Gesundheit und Bildung nicht an die Vorgaben der Verfassung und passte staatliche Sozialprogramme nicht entsprechend an. In Verbindung mit der steigenden Inflation trieb dies Millionen Menschen in die Armut.

Aufstrebende Länder mit Öl- und Gasvorkommen, aber auch andere Staaten schützten Menschen mit geringem Einkommen nicht ausreichend vor Ausbeutung und verweigerten Arbeiter*innen das Recht, unabhängigen Gewerkschaften beizutreten und zu streiken. In den Golfstaaten litten unterbezahlte Arbeitsmigrant*innen weiterhin unter extremer Ausbeutung und Lohndiebstahl durch ihre Arbeitgeber*innen sowie unter Diskriminierung, unzumutbaren Unterkünften, körperlichen wie psychischen Misshandlungen und mangelnder Gesundheitsversorgung.

Katar hatte zwar im Jahr 2022 anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft eine öffentlichkeitswirksame Kampagne bezüglich der Rechte von Arbeitsmigrant*innen gestartet, in der Praxis herrschten jedoch nach wie vor zahlreiche Missstände, wie Lohndiebstahl, Zwangsarbeit und Restriktionen, wenn Arbeitsmigrant*innen ihren Arbeitsplatz wechseln wollten. Außerdem hatten sie keine ausreichenden rechtlichen Beschwerde- und Abhilfemöglichkeiten. Der Mindestlohn war zu niedrig, um ihnen einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Er reichte auch nicht aus, um sich aus der Schuldknechtschaft zu befreien, in die sie geraten waren, weil man Anwerbegebühren von ihnen verlangt hatte, obwohl diese rechtswidrig waren. In Katar und anderen Staaten litten Hausangestellte, in der Mehrzahl Frauen, weiterhin unter harten Arbeitsbedingungen und liefen Gefahr, körperlich und seelisch misshandelt zu werden, auch durch sexualisierte Übergriffe.

In Saudi-Arabien waren zahlreiche nepalesische Arbeitsmigranten, die man für die Arbeit in Amazon-Lagerhäusern angeworben hatte, schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Ihre Behandlung kam möglicherweise Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft gleich. Sie waren vor ihrer Abreise in Nepal über die Art ihrer Arbeit in Saudi-Arabien getäuscht worden, wurden um ihren Lohn geprellt und mussten in menschenunwürdigen Unterkünften wohnen. Einige wurden verbal oder körperlich misshandelt, insbesondere wenn sie sich über ihre Arbeitsbedingungen beschwerten.

Die Regierungen müssen dringend Sozialsysteme einführen, die alle Menschen, auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen, vor den negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen schützen, und darauf hinwirken, dass die internationale Gemeinschaft koordinierte Anstrengungen unternimmt, um die Rechte auf Gesundheit, Nahrung und einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Die Regierungen müssen das Recht der Beschäftigten auf Gründung unabhängiger Gewerkschaften und auf Protest schützen und den arbeitsrechtlichen Schutz auf Arbeitsmigrant*innen ausweiten.

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Diskriminierung

Frauen und Mädchen

Im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika wurden Frauen und Mädchen durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert, u. a. in Bezug auf Bewegungsfreiheit, Meinungsfreiheit, körperliche Selbstbestimmung, Erbangelegenheiten, Scheidung, politische Teilhabe und Arbeitsmöglichkeiten. Geschlechtsspezifische Gewalt war nach wie vor weit verbreitet und wurde nicht geahndet. In einigen Ländern stiegen die Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt, während der Schutz von Frauen abnahm. In Algerien und im Irak konnten Vergewaltiger weiterhin der Strafverfolgung entgehen, wenn sie ihr Opfer heirateten. Marokko lehnte bei der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung (UPR-Prozess) die Empfehlung des UN-Menschenrechtsrats ab, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen. Aus Algerien, Tunesien und anderen Ländern wurden sogenannte Ehrenmorde und andere Femizide gemeldet.

Die kurdische Regionalregierung im Irak schützte Opfer häuslicher Gewalt nicht ausreichend und ließ zu, dass sich die Täter der Strafverfolgung entziehen konnten.

Die iranischen Behörden verschärften die Repression gegen Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzten, und verletzten deren soziale, wirtschaftliche, kulturelle, bürgerliche und politische Rechte, indem sie neue Strafmaßnahmen einführten. So erhielten z. B. mehr als eine Million Frauen SMS-Nachrichten, in denen man ihnen die Beschlagnahmung ihrer Fahrzeuge androhte. Tausende wurden an die Justiz überstellt.

Im Jemen schränkten die De-facto-Behörden der Huthi und bewaffnete Gruppen die Bewegungsfreiheit von Frauen weiterhin stark ein und untersagten ihnen Reisen ohne einen männlichen Vormund oder dessen schriftliche Genehmigung. Die ägyptischen Behörden unternahmen nichts, um sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt durch staatliche und nichtstaatliche Akteure wirkungsvoll zu verhindern, obwohl sich Berichte über die Tötung von Frauen durch Familienmitglieder oder abgewiesene Verehrer häuften. Gleichzeitig mussten Frauen mit Strafverfolgung rechnen, die sexualisierte Gewalt anprangerten oder denen man "Sittenlosigkeit" vorwarf.

LGBTI+

Überall im Nahen Osten und in Nordafrika wurden lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen, strafrechtlich verfolgt oder wegen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen hart bestraft. Im Irak, in Jordanien, im Libanon, in Libyen und Tunesien gerieten die Rechte von LGBTI+ noch stärker unter Druck. Im Libanon hetzten die Behörden die Bevölkerung zu Gewalt gegen Schwule und Lesben auf. Als Reaktion darauf veröffentlichten 18 Medienorganisationen eine gemeinsame Erklärung, in der sie gegen das Vorgehen der Behörden protestierten, und ein Bündnis aus 15 libanesischen und internationalen Organisationen forderte die Behörden auf, geplante Anti-LGBTI-Gesetze zu streichen.

In Libyen nahmen die Internal Security Agency (ISA) in Tripolis und andere Milizen und bewaffnete Gruppen Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität willkürlich fest und veröffentlichten "Geständnisse", die unter Folter erpresst worden waren. Die irakischen Behörden wiesen die Medien an, den Begriff "Homosexualität" durch "sexuelle Abweichung" zu ersetzen. In Tunesien verhängten Gerichte zweijährige Haftstrafen auf der Grundlage von Bestimmungen, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen unter Strafe stellten. In Jordanien starteten Parlamentsabgeordnete eine Kampagne gegen LGBTI+ und forderten die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen, was zu Hassreden und Drohungen gegen LGBTI+ und ihre Unterstützer*innen führte.

Ethnische und religiöse Minderheiten

In der gesamten Region wurden Angehörige ethnischer, nationaler und religiöser Gemeinschaften und Minderheiten weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Dies betraf u. a. ihre Rechte auf Religionsausübung, auf gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Gesundheitsversorgung und auf ein Leben ohne Verfolgung und andere schwere Menschenrechtsverletzungen.

Israel erhielt seine extreme Form der Diskriminierung aufrecht – ein System der Apartheid –, indem es Palästinenser*innen durch territoriale Zersplitterung, Ausgrenzung und Kontrolle, Enteignung von Land und Eigentum sowie Verweigerung von wirtschaftlichen und sozialen Rechten unterdrückte und beherrschte. Zum Erhalt dieses Systems verübte Israel zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser*innen, darunter Zwangsumsiedlungen, Verfolgung, Verwaltungshaft, Folter, rechtswidrige Tötungen sowie die Verweigerung grundlegender Rechte und Freiheiten.

Im Iran wurden ethnische Minderheiten, darunter arabische, aserbaidschanische, belutschische, kurdische und turkmenische Bevölkerungsgruppen, massiv diskriminiert, was ihren Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu angemessenem Wohnraum und zu politischen Ämtern betraf. Auch religiöse Minderheiten wie Christ*innen, Gonabadi-Derwische, Jüd*innen, sunnitische Muslim*innen und Yaresan (Ahl-e Haq) wurden durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Insbesondere Baha'i waren zahlreichen systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt.

In Kuwait verwehrte ein diskriminierendes Gesetz den Bidun (einheimischen, aber staatenlosen Kuwaiter*innen) nach wie vor den Zugang zu Bildungseinrichtungen und anderen kostenlosen staatlichen Dienstleistungen, die Staatsbürger*innen zur Verfügung stehen. Die ägyptischen Behörden verfolgten und inhaftierten Angehörige religiöser Minderheiten und andere Personen, die keine staatlich anerkannten religiösen Überzeugungen vertraten.

In Libyen waren Angehörige der ethnischen Minderheiten der Tabu und der Tuareg zunehmend Rassismus ausgesetzt. Weil sie aufgrund diskriminierender Gesetze keine Ausweispapiere erhielten, konnten sie grundlegende staatliche Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen.

Die Regierungen müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, Mädchen und LGBTI+ zu beenden, und die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen müssen entkriminalisiert werden. Die Regierungen müssen die Diskriminierung aufgrund der nationalen Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität und des Ausdrucks der Geschlechtlichkeit beenden und rechtliche und politische Reformen umsetzen, um allen Menschen gleiche Rechte ohne Diskriminierung zu gewähren und die Religions- und Glaubensfreiheit zu schützen, zu fördern und zu garantieren.

Das Bild zeigt mehrere junge Frauen von hinten, die schwarze Kopftücher in die Luft werfen

Iranische Studentinnen protestieren gegen die Verschleierungspflicht und werfen ihre Kopftücher in die Luft (undatiertes Foto).

Rechte von Binnenvertriebenen, Migrant*innen und Flüchtlingen

Im Irak, im Jemen, in Libyen und in Syrien gab es infolge der jahrelangen bewaffneten Konflikte weiterhin unzählige Binnenvertriebene, die um ihr Überleben kämpften. Die meisten von ihnen waren Diskriminierung ausgesetzt und hatten nur eingeschränkten Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen. Dringend benötigte humanitäre Hilfe wurde gekürzt oder erreichte sie nicht. Teilweise verwehrte man ihnen ihr Recht auf Rückkehr, und diejenigen, die ohne Genehmigung in ihre Heimat zurückkehrten, mussten Repressalien befürchten.

Im Irak lebte ein Großteil der mindestens 1,1 Mio. Menschen, die im Zuge des Konflikts mit der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) vertrieben worden waren, knapp sechs Jahre nach dem Sieg über den IS immer noch in prekären Verhältnissen. Im April 2023 schlossen die irakischen Behörden ohne Vorwarnung und ohne Abstimmung mit humanitären Organisationen das letzte noch funktionierende Lager für Binnenvertriebene. Die einzigen verbliebenen Lager befanden sich in Gebieten unter der Kontrolle der kurdischen Regionalregierung.

Im Nordwesten Syriens waren rund 2,9 Mio. Binnenvertriebene weiterhin auf die von den Vereinten Nationen koordinierte humanitäre Hilfe angewiesen. Bewaffnete Auseinandersetzungen vertrieben 2023 mindestens 118.000 weitere Menschen. Die syrische Regierung verhinderte, dass Zivilpersonen lebenswichtige Güter erhielten, unter ihnen zahlreiche Binnenvertriebene, die in den überwiegend kurdischen Gebieten im Norden der Provinz Aleppo lebten und deren Versorgung mit Kraftstoff und Hilfsgütern bereits in den Vorjahren völlig unzureichend gewesen war.

Naturkatastrophen, deren Auswirkungen durch Regierungsversagen, Straflosigkeit und die Herrschaft von Milizen noch verschärft wurden, sorgten dafür, dass sich die Situation von Binnenvertriebenen weiter verschlechterte und Hunderttausende weitere Menschen vertrieben wurden. Am 6. Februar 2023 erschütterten Erdbeben den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Allein in Syrien verloren dadurch rund 400.000 Familien ihr Zuhause, und fast 9 Mio. Menschen benötigten humanitäre Soforthilfe. Viele Familien waren gezwungen, in Notunterkünften und Lagern zu leben. Durch die Erdbeben erhöhte sich auch der humanitäre Bedarf der Menschen, die zu diesem Zeitpunkt bereits als Binnenvertriebene im Nordwesten Syriens lebten. Viele von ihnen waren in Zelten untergebracht und hatten nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung.

Im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika gerieten die Rechte von Migrant*innen und Flüchtlingen 2023 noch stärker unter Druck. Im Libanon lebten schätzungsweise 1,5 Mio. Syrer*innen und mehr als 200.000 palästinensische Flüchtlinge. Weil die Regierung nichts unternahm, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise abzumildern, lebten etwa 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge in extremer Armut, ohne ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln und grundlegenden Versorgungsleistungen. Im Land machte sich zunehmend eine flüchtlingsfeindliche Stimmung breit, die von staatlicher Seite teilweise noch geschürt wurde. Im April und Mai 2023 drangen Armeeangehörige in Häuser syrischer Flüchtlinge ein und schoben die meisten von ihnen direkt nach Syrien ab. Im September beschlagnahmten Sicherheitskräfte bei Razzien in Flüchtlingslagern in der Bekaa-Ebene und in der Ortschaft Arsal Eigentum. In Jordanien waren 2 Mio. palästinensische Flüchtlinge und etwa 750.000 anderer Herkunft von Armut und zunehmend schlechteren Lebensbedingungen betroffen. Ein Grund dafür war, dass internationale Geldgeber ihre Unterstützung gekürzt hatten.

Die tunesischen Behörden brachten ab Juli 2023 Tausende Schwarze Migrant*innen, Asylsuchende und Flüchtlinge, darunter auch Minderjährige, gewaltsam in Wüstengebiete an den Grenzen zu Libyen und Algerien und setzten sie dort ohne Nahrung und Wasser aus. Mindestens 28 Menschen starben. Das Vorgehen der Behörden und diskriminierende Äußerungen von Präsident Kais Saied lösten eine Welle rassistischer Gewalt gegen Schwarze Migrant*innen aus, wie sie das Land noch nie erlebt hatte. Die Polizei setzte Tränengas gegen Migrant*innen, Asylsuchende und Flüchtlinge ein, die vor einem UN-Büro in Tunis eine Sitzblockade abhielten, nahm Demonstrierende fest und folterte sie in Gewahrsam. In Libyen wurden Flüchtlinge und Migrant*innen Opfer von willkürlicher Inhaftierung auf unbestimmte Zeit, Folter und anderen Misshandlungen sowie Erpressung und Zwangsarbeit. Betroffen waren auch Menschen, die von bewaffneten Gruppen oder der von der EU unterstützten Küstenwache auf See abgefangen und an Land zurückgebracht worden waren. Rund 22.000 Menschen wurden kollektiv in Richtung Ägypten, Niger, Sudan und Tschad getrieben.

Die saudi-arabischen Behörden gingen hart gegen Migrant*innen vor, die keinen regulären Aufenthaltsstatus hatten, und schickten Hunderttausende gegen ihren Willen in ihre Heimatländer zurück. Die schätzungsweise 5 Mio. afghanischen Staatsangehörigen im Iran waren mit tiefsitzenden Vorurteilen konfrontiert und von vielen grundlegenden Dienstleistungen ausgeschlossen. Die Behörden untersagten ihnen, in bestimmten Provinzen zu leben bzw. zu arbeiten, und drohten Personen, die ohne die erforderlichen Papiere eingereist waren, mit der Abschiebung nach Afghanistan.

Die Regierungen müssen konkrete Schritte unternehmen, um die freiwillige, sichere und menschenwürdige Rückkehr von Binnenvertriebenen in ihre Herkunftsgebiete zu gewährleisten. Sie müssen die willkürliche Inhaftierung von Flüchtlingen und Migrant*innen allein wegen ihres Aufenthaltsstatus beenden und sie vor Folter und anderen Misshandlungen in der Haft sowie vor massenhaften Abschiebungen schützen. Außerdem müssen sie die Praxis beenden, sie in Länder abzuschieben, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen.

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Todesstrafe

Die meisten Länder der Region hielten weiterhin an der Todesstrafe fest, und einige verhängten Todesurteile u. a. für völkerrechtlich geschützte Handlungen wie einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen oder "Apostasie" (Abfall vom Glauben), aber auch wegen konstruierter oder vager Vorwürfe, die erhoben wurden, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. In Ägypten, im Iran, im Irak und in Saudi-Arabien wurden Hinrichtungen vollzogen. In Ägypten ging die Zahl der Hinrichtungen zurück, im Iran stieg sie hingegen an, und in Libyen drohte die Wiederaufnahme von Hinrichtungen, die seit 2011 ausgesetzt waren. Ein saudi-arabisches Gericht verhängte zum ersten Mal ein Todesurteil wegen Kommentaren in den Sozialen Medien.

Die Regierungen müssen unverzüglich ein offizielles Moratorium für Hinrichtungen einführen, mit dem Ziel, die Todesstrafe vollständig abzuschaffen.

Das Bild zeigt mehrere Menschen mit einem Protestplakat

Amnesty-Mahnwache für den Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd am 20. Juli 2023 vor der iranischen Botschaft in Berlin 

Klimakrise

2023 zeigten sich die verheerenden Folgen des Klimawandels im Nahen Osten und in Nordafrika u. a. in Form von Wasserknappheit und extremen Wetterereignissen. Sie betrafen gefährdete Gebiete und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen besonders stark und offenbarten, dass viele Länder schlecht auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereitet waren.

In Libyen führte der Sturm Daniel dazu, dass in der Stadt Derna zwei schlecht gewartete Staudämme brachen. In den Sturzfluten kamen 4.540 Menschen ums Leben, 8.500 wurden vermisst und mehr als 44.000 mussten ihr Zuhause verlassen. In Algerien löste eine beispiellose Hitzewelle rund 140 Waldbrände aus, bei denen mindestens 34 Menschen ums Leben kamen und 1.500 vertrieben wurden. In Marokko wurden Rekordtemperaturen gemessen, die in Agadir 50,4°C erreichten. Im Irak und in Syrien herrschte anhaltende Dürre.

Die Staaten der Region reagierten jedoch nicht angemessen auf die Umweltzerstörung und machten auch keine Anstalten, die Produktion fossiler Brennstoffe zu drosseln. Damit trugen sie dazu bei, dass das Ziel, die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, voraussichtlich nicht erreicht werden wird. Der Irak meldete Rekordeinnahmen aus dem Ölverkauf und kündigte neue Bohrungen und eine Steigerung der Ölproduktion an. Saudi-Arabien plante, die Ölproduktion bis 2027 um etwa 1 Mio. Barrel pro Tag zu erhöhen und die Erdgasproduktion bis 2030 um 50 Prozent zu steigern. Auf internationaler Ebene war das Land weiterhin ein Bremsklotz, indem es eine G20-Initiative blockierte, die die Nutzung fossiler Brennstoffe reduzieren wollte, und bei der COP28 zu den striktesten Gegnern eines Ausstiegs aus fossilen Energien zählte. Kuwait hielt an seinen Plänen fest, die Produktion fossiler Brennstoffe bis mindestens 2035 zu steigern. Die staatliche Kuwait Oil Company kündigte an, sie werde bis 2028 mehr als 40 Mrd. US-Dollar in die Ausweitung der Ölproduktion investieren, und Katar weitete die Produktion von Flüssigerdgas aus. Oman startete zwar ein Programm zur Verringerung von CO2-Emissionen, das Zwischenziele für 2030 und 2040 enthielt und Netto-Null-Emissionen bis 2050 anstrebte, doch setzte das Land wirtschaftlich weiterhin auf fossile Brennstoffe und produzierte diese.

Die Wahl der Vereinigten Arabischen Emirate als Gastgeber der COP28 war nicht zuletzt deshalb umstritten, weil der staatliche Erdölkonzern Abu Dhabi National Oil Company, der zu den weltweit größten Erzeugern von Treibhausgasen zählt, ankündigte, er werde seine Produktion fossiler Brennstoffe massiv ausweiten. Dass der Vorstandsvorsitzende des Konzerns, Sultan Al Jaber, zum Präsidenten der Weltklimakonferenz ernannt wurde, rief einen Interessenkonflikt hervor.

Im Beschluss, auf den sich die Staaten bei der COP28 einigten, wurden zwar erstmals fossile Brennstoffe erwähnt, gleichwohl blieb er weit hinter den Erfordernissen zurück, weil er u. a. Schlupflöcher enthielt, die es den Produzenten fossiler Brennstoffe und den jeweiligen Staaten ermöglichten, ihr derzeitiges Vorgehen beizubehalten. Zudem machten Staaten, die zu den größten Verursachern der Klimakrise zählen, weder angemessene Zusagen für die Klimafinanzierung, die ärmere Länder bei der Energiewende unterstützen und Klimaanpassungsmaßnahmen fördern soll, noch für den neuen Fonds für Verluste und Schäden.

Die Regierungen müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um der Klimakrise zu begegnen und die globale Erwärmung auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Hierfür müssen die Staaten, insbesondere diejenigen, die für die Emissionen in der Vergangenheit verantwortlich sind, u. a. ihre CO2-Emissionen begrenzen und die Finanzierung der Förderung fossiler Brennstoffe beenden. Alle Staaten, die über die notwendigen Ressourcen verfügen, sollten die Finanzmittel für Länder, die Unterstützung für menschenrechtskonforme Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen benötigen, deutlich erhöhen.

Das Bild zeigt eine Bühne, davor Zuschauer, und große Bildschirme, die eine Person am Rednerpult zeigen

Sultan Al-Dschaber, der Präsident der Klimakonferenz (COP28), bei seiner Eröffnungsrede am 30. November 2023 in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten

Folter und andere Misshandlungen

In Ägypten, im Iran, in Libyen, Saudi-Arabien und Syrien waren Folter und andere Misshandlungen in offiziellen und inoffiziellen Haftanstalten weiterhin an der Tagesordnung, ohne dass die dafür Verantwortlichen strafrechtlich belangt wurden. Es gab einige Todesfälle in Gewahrsam. Berichte über Folter gab es nach wie vor auch aus Algerien, aus dem Irak, aus Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, aus dem Libanon, aus Marokko, Palästina und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Häufig war das Ziel der Folter, "Geständnisse" zu erpressen. Zu den Foltermethoden gehörten Schläge, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, das Aufhängen in schmerzhaften Positionen, Vergewaltigung und andere sexualisierte Gewalt, die Verweigerung medizinischer Hilfe und lang andauernde Isolationshaft.

In Ägypten wurden Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen, Polizeistationen und Einrichtungen des Nationalen Geheimdiensts weiterhin regelmäßig angewandt. Man verweigerte Inhaftierten absichtlich medizinische Versorgung, hielt sie lange Zeit in Isolationshaft, setzte sie grellem Licht aus, überwachte sie rund um die Uhr mit Kameras und verwehrte ihnen Familienbesuche. In Libyen und im Iran war Folter weit verbreitet und wurde systematisch angewandt. Erpresste "Geständnisse" wurden gefilmt und öffentlich verbreitet. In nahezu allen Fällen, die im Nahen Osten und in Nordafrika dokumentiert wurden, untersuchten die Behörden Foltervorwürfe und verdächtige Todesfälle in Gewahrsam nicht gründlich. In Algerien sagte der Whistleblower Mohamed Benhlima im Juli 2023 vor Gericht aus, er sei von Sicherheitskräften gefoltert worden. Man habe ihn u. a. nackt ausgezogen, an Beinen und Händen gefesselt und mit kaltem Wasser übergossen. Außerdem sei er sexuell belästigt, geschlagen und bedroht worden. Das Gericht leitete jedoch keine Untersuchung der Vorwürfe ein, sondern verurteilte ihn zu sieben Jahren Haft.

Die Regierungen müssen bei Vorwürfen über Folter und andere Misshandlungen unabhängige, unparteiische und gründliche Untersuchungen einleiten und Maßnahmen ergreifen, um diese Verbrechen zu verhindern.

Straflosigkeit

Die Straflosigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen im gesamten Nahen Osten und in Nordafrika wurde von staatlicher Seite weiterhin erleichtert und war ein Zeichen dafür, dass die äußerst mangelhaften nationalen Justizsysteme versagten.

In Ägypten blieben völkerrechtliche Verbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen straflos, die 2023 und in den Vorjahren verübt wurden. Dies galt auch für das Blutvergießen im August 2013, als bei der gewaltsamen Auflösung einer Sitzblockade von Anhänger*innen des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo mindestens 900 Menschen rechtswidrig getötet wurden. Im Libanon lagen die Ermittlungen bezüglich der Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020, bei der mindestens 235 Menschen ums Leben kamen, seit Dezember 2021 auf Eis, weil Politiker, die in das tragische Ereignis verwickelt waren, Beschwerden gegen den Untersuchungsrichter eingereicht hatten. Die iranischen Behörden zogen keinen einzigen Staatsbediensteten für die 2023 und in den Vorjahren verübten völkerrechtlichen Verbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft, darunter rechtswidrige Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und andere Misshandlungen, Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt.

Die internationale Gemeinschaft bekämpfte die Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen nicht konsequent. So beendete der UN-Menschenrechtsrat das Mandat der Erkundungsmission zur Untersuchung der seit 2016 in Libyen begangenen völkerrechtlichen Verbrechen, obwohl diese in ihrem Abschlussbericht vom März 2023 festgestellt hatte, es gebe Grund zu der Annahme, dass Sicherheitskräfte und bewaffnete Milizen eine Vielzahl von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt hätten. Die in Tripolis ansässige Generalstaatsanwaltschaft kündigte an, sie wolle bezüglich der Todesopfer und Schäden infolge des Sturms Daniel untersuchen, ob die libyschen Behörden bzw. diejenigen, die den Osten des Landes faktisch kontrollierten, das Recht auf Leben der Bevölkerung nicht geschützt hätten. Es gab jedoch Zweifel, ob diese Ermittlungen unparteiisch, unabhängig, transparent und wirksam erfolgen würden. 

Die Regierungen müssen Straflosigkeit bekämpfen, indem sie Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtliche Verbrechen gründlich, unabhängig, unparteiisch, wirksam und transparent untersuchen und die mutmaßlich Verantwortlichen in fairen Verfahren vor zivilen Gerichten zur Rechenschaft ziehen.

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