Amnesty Report 24. April 2024

Die Welt im Blick: Menschenrechte im Jahr 2023

Das Foto zeigt zehn Personen, die jeweils Schilder mit Buchstaben vor ihre Gesichter halten. Dies ergibt den Schriftzug: "SOS Planet". Die vierte Person von rechts hält einen Globus vor ihr Gesicht.

Aktion von Amnesty-Mitgliedern in Togo im Rahmen des weltweiten Amnesty-Briefmarathons für Menschen in Not und Gefahr (Dezember 2023)

Auch im Jahr 2023 waren Menschenrechtsverstöße an der Tagesordnung. Staaten und bewaffnete Gruppen verübten regelmäßig rechtswidrige Angriffe und töteten Menschen in bewaffneten Konflikten, deren Zahl immer weiter anstieg. Rund um den Globus unterdrückten staatliche Stellen abweichende Meinungen, indem sie die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit rigoros einschränkten und widerrechtlich Gewalt gegen Protestierende ausübten. Menschenrechtsverteidiger*innen, politische Gegner*innen und andere Aktivist*innen wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert. In manchen Fällen gefoltert oder in anderer Weise misshandelt. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Ungleichheiten und der Klimakrise ergriffen zahlreiche Staaten keinerlei Maßnahmen, um die Rechte der Menschen auf Nahrung, Gesundheit, Bildung und eine gesunde Umwelt zu gewährleisten. Regierungen begegneten Flüchtlingen und Migrant*innen oft mit Feindseligkeit und Rassismus. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) sowie Frauen, indigene Bevölkerungsgruppen und von Rassismus betroffene Menschen oder religiöse Gemeinschaften wurden weiterhin diskriminiert und ausgegrenzt. Deswegen liefen sie unverhältnismäßig stark Gefahr, Gewalt ausgesetzt zu werden oder dass ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte verletzt werden. Für manche dieser Verstöße waren multinationale Unternehmen mit verantwortlich.

Diese globale Analyse konzentriert sich auf vier Themenbereiche, die einige dieser Entwicklungen auf globaler Ebene veranschaulichen:

  • den rücksichtslosen Umgang mit Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten
  • die wachsende Gegenreaktion auf die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit
  • die unverhältnismäßigen Auswirkungen von Wirtschaftskrisen, Klimawandel und Umweltzerstörung auf ausgegrenzte Gemeinschaften
  • und die Bedrohung durch neue und bereits bestehende Technologien, darunter auch generative künstliche Intelligenz (KI)

Aus Sicht von Amnesty International sind dies kritische Herausforderungen für die Menschenrechte auf der ganzen Welt, für das Jahr 2024 wie auch darüber hinaus. Staaten müssen gemeinsam an ihrer Bewältigung arbeiten und die Entstehung bzw. Verschärfung weiterer Konflikte und Krisen abwenden.

Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten

Staaten und bewaffnete Gruppen legten in bewaffneten Konflikten ein Verhalten zutage, das darauf schließen ließ, dass sie die Zivilbevölkerung als entbehrlich betrachteten. Manche dieser Konflikte hatten ihre Ursachen in rassistischer und ethnischer Diskriminierung. Das aktuelle internationale Menschenrechtssystem hat sich im Allgemeinen als unfähig erwiesen, Regierungen dazu zu bewegen, unverzügliche und wirksame Schutzmaßnahmen für Zivilpersonen zu ergreifen, da es mitunter durch eine rassistische Doppelmoral und Rivalitäten zwischen mächtigen Staaten gelähmt war.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Das humanitäre Völkerrecht, auch als Kriegsrecht bekannt, wurde von den Konfliktparteien häufig nicht oder nur unzureichend eingehalten. Das hatte verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung. In vielen Konflikten führten Streitkräfte Boden- und Luftangriffe mit großer Reichweite durch und setzten dabei Waffen mit großflächiger Wirkung in bewohnten Gebieten ein. Dies trug maßgeblich zu hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung und weitreichender Zerstörung von Wohnhäusern und Infrastruktur bei.

Manche Konfliktparteien agierten, als sei die Einhaltung des humanitären Völkerrechts nur eine Option. Der russische Angriff auf die Ukraine war durchgehend von Kriegsverbrechen gekennzeichnet. Russische Streitkräfte griffen unterschiedslos bewohnte Gebiete sowie Infrastruktur für zivile Energie und Getreideexporte an und folterten oder misshandelten Kriegsgefangene. Durch die offenbar vorsätzliche Zerstörung des Kachowka-Staudamms verursachten sie zudem enorme Umweltschäden. In Myanmar verübten das Militär und mit ihm verbundene Milizen gezielte Angriffe gegen Zivilpersonen; hinzu kamen wahllose Angriffe, bei denen im Jahr 2023 über 1.000 Zivilpersonen ums Leben kamen. Berichte über solche eklatanten Verstöße konnten meist weder die russische noch die myanmarische Regierung zu einer Reaktion bewegen, entsprechende Untersuchungen gab es nicht. Beide Länder erhielten finanzielle und militärische Unterstützung von China.

Im Sudan zeigten beide Konfliktparteien – die sudanesischen Streitkräfte und die paramilitärischen Rapid Support Forces – wenig Achtung vor dem humanitären Völkerrecht: Sie führten gezielte Angriffe durch, bei denen Zivilpersonen verletzt und getötet wurden, und feuerten Explosivwaffen aus dicht besiedelten Gebieten ab. Zwischen dem Ausbruch der Kämpfe im April 2023 und dem Jahresende kamen mehr als 12.000 Menschen ums Leben, während mehr als 5,8 Millionen zu Binnenvertriebenen wurden und 1,4 Millionen aus dem Land flohen.

Die israelischen Behörden bemühten sich, die auf den Gazastreifen verübten Angriffe so darzustellen, als wären sie mit dem humanitären Völkerrecht im Einklang. In Wirklichkeit verstießen sie gegen den Kern dieser Normen. Indem die israelische Regierung enorme zivile Opferzahlen und die massive Zerstörung ziviler Objekte in Kauf nahm, setzte sie sich über das Unterscheidungs- und das Verhältnismäßigkeitsprinzip hinweg. Bis Ende 2023 waren laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium 21.600 Palästinenser*innen durch den israelischen Beschuss und die Bodenoffensive getötet worden, ein Drittel davon Kinder. Die Beweise für Kriegsverbrechen häuften sich, als die israelischen Streitkräfte überfüllte Flüchtlingslager und Wohngebäude bombardierten. Dabei wurden wiederholt ganze Familien ausgelöscht, Bäckereien und Krankenhäuser sowie andere zentrale Infrastruktur zerstört, darunter von den Vereinten Nationen betriebene Schulen. Die Evakuierungsbefehle und Warnhinweise der israelischen Streitkräfte für den nördlichen Gazastreifen führten dazu, dass fast 1,9 Millionen Palästinenser*innen (83 Prozent der 2,3 Millionen starken Gesamtbevölkerung des Gazastreifens) aus ihren Wohnorten vertrieben wurden. Zudem wurde ihnen durch die anhaltende rechtswidrige Blockade des Gazastreifens gezielt humanitäre Hilfe verweigert. Diese und andere Faktoren, wie der zunehmende Gebrauch rassistischer und entmenschlichender Sprache im Zusammenhang mit Palästinenser*innen durch einige israelische Regierungsangehörige, waren Warnzeichen für einen Genozid.

Amnesty-Posting auf x (ehemals Twitter):

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Unterdessen rechtfertigten die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen den von ihnen am 7. Oktober 2023 verübten Angriff auf Israel – der dem Beschuss und der Bodenoffensive Israels voranging – als Widerstand gegen die dauerhafte militärische Besetzung des Gazastreifens und des Westjordanlandes. Doch die von ihnen begangenen Verbrechen, u.a. das gezielte Töten von Hunderten Zivilpersonen sowie Geiselnahmen und das wahllose Abfeuern von Raketen auf Israel, verstießen gegen das humanitäre Völkerrecht und stellten Kriegsverbrechen dar.

Trotz des rücksichtslosen Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung und der herbeigeführten Zerstörung und Not im Gazastreifen stellten sich die USA und zahlreiche europäische Staaten öffentlich hinter Israel. Manche Länder, allen voran die USA, belieferten Israel weiter mit Waffen, obwohl diese für schwere Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wurden. Angesichts ihrer begründeten Proteste gegen die von Russland und der Hamas begangenen Kriegsverbrechen bewiesen diese Staaten damit eine eklatante Doppelmoral, ließen Respekt vor dem humanitären Völkerrecht vermissen und verweigerten der Zivilbevölkerung den nötigen Schutz. Südafrika reichte vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel ein und warf dem Land vor, mit den Militäroperationen seit dem 7. Oktober gegen die Völkermordkonvention von 1948 zu verstoßen.

Auch in bewaffneten Konflikten in Afghanistan, Äthiopien, Burkina Faso, der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo), dem Jemen, Kamerun, Libyen, Mali, Niger, Nigeria, Somalia, dem Südsudan, Syrien und der Zentralafrikanischen Republik setzten sich Streitkräfte und bewaffnete Gruppen über das humanitäre Völkerrecht hinweg. Die Zivilbevölkerung trug die Hauptlast unterschiedsloser und sonstiger rechtswidriger Angriffe, von denen einige Kriegsverbrechen darstellten.

Geschlechtsspezifische Gewalt war ein Hauptmerkmal einiger dieser Konflikte. Die eritreischen Streitkräfte entführten 2023 mindestens 15 Frauen. Diese wurden fast drei Monate lang in einem Militärlager in der äthiopischen Region Tigray festgehalten und wiederholt vergewaltigt. Aus der DR Kongo wurden im ersten Quartal 2023 allein aus der Provinz Nord-Kivu mehr als 38.000 Fälle sexualisierter Gewalt gemeldet.

Regierungen gingen im eigenen Land scharf gegen Personen vor, die Militäreinsätze und deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung kritisierten. Russland hat 2023 die Zensur in Kriegszeiten auf einen neuen Höchststand getrieben. Menschenrechtsverteidiger*innen, Medienschaffende und politische Aktivist*innen, die sich während und nach Konflikten vor Ort engagierten, wurden angegriffen. Menschenrechtsverteidigerinnen waren dabei mit besonderen Herausforderungen konfrontiert.

Rassistische und ethnische Diskriminierung

Einige der bewaffneten Konflikte konnten auf Rassismus zurückgeführt werden.

Die tiefen Wurzeln des Konflikts in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten liegen zum Teil in einer extremen Form rassistischer Diskriminierung begründet. Mit seinem Apartheidsystem unterdrückt und beherrscht Israel die Palästinenser*innen und greift dabei seit Langem auf geografische Zersplitterung, Segregation und Kontrolle, Enteignung von Land und Eigentum sowie die Verweigerung wirtschaftlicher und sozialer Rechte zurück. "Othering", also die Ausgrenzung und Marginalisierung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, war ein Merkmal der bewaffneten Konflikte in Ländern wie Äthiopien, Myanmar und dem Sudan.

Rassistische Einstellungen manifestierten sich auch in den Reaktionen auf diese Konflikte. Eine diskriminierende Doppelmoral zeigte sich nicht nur in der Rhetorik und Politik der USA und vieler europäischer Staaten gegenüber dem Konflikt in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, sondern auch bei den Auswirkungen. So schränkten viele Regierungen Protestaktionen, bei denen Solidarität mit den Palästinenser*innen geäußert wurde, rechtswidrig ein. In Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, der Schweiz und Ungarn wurden 2023 solche Proteste im Vorfeld verboten und die Verbote mit vage definierten Gefahren für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit und in manchen Fällen mit rassistischen Stereotypen begründet. In den USA, Westeuropa und anderswo verwendeten Medien und Politiker*innen immer wieder diskriminierende Sprache, entmenschlichten Palästinenser*innen, verbreiteten rassistische Narrative und setzten Muslim*innen mit Terrorist*innen gleich.

Vor diesem Hintergrund nahmen antisemitische und muslimfeindliche Hassverbrechen in Europa und den USA zu. Im Internet war eine beunruhigende Zunahme an Hetze und anderen böswilligen Inhalten zu verzeichnen, mit denen palästinensische und jüdische Gemeinschaften ins Visier genommen wurden. Inhalte, die von Palästinenser*innen und Verfechter*innen ihrer Rechte in den Sozialen Medien gepostet wurden, fielen Berichten zufolge auf einigen Plattformen potenziell diskriminierender Moderation zum Opfer.

Ein im Oktober 2023 veröffentlichter Amnesty-Bericht über Äthiopien zeigte auf, dass das Betreiberunternehmen Meta zu wenig unternommen hat, um hetzerische Facebook-Posts zu unterbinden. Diese trugen zu Tötungen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen gegen Angehörige der tigrayischen Bevölkerung bei.

Auch im Umgang mit Menschen, die vor Konflikten und anderen Krisen flüchteten, ließ sich Rassismus feststellen. Die Europäische Union sowie andere europäische Staaten und die USA wandten neue oder existierende Strategien zur Abschreckung und Abwehr von Migration an. Menschen, die vor Konflikten oder anderen Krisen flohen, wurden so zu gefährlichen Routen gezwungen. Im Gegensatz dazu standen dieselben Länder fliehenden Ukrainer*innen generell aufgeschlossen gegenüber. Positiv war zu verzeichnen, dass Dänemark, Finnland und Schweden im Mai 2023 Maßnahmen ergriffen, um afghanischen Frauen und Mädchen den Flüchtlingsstatus selbstverständlich zuzugestehen. Im Allgemeinen haben die europäischen Länder aber unzureichend sichere und reguläre Zugangswege bereitgestellt, um afghanischen und anderen Staatsangehörigen auf der Flucht vor Konflikten und schweren Menschenrechtsverletzungen Schutz zu gewähren.

Eine Frau geht auf kargem staubigen Boden auf einem Weg. Rechts und links davon sind Steine zu einer kleinen Mauer aufgeschichtet. Im Hintergrund steht eine Hütte. Es scheint sehr heiß zu sein.

Eine Frau geht im Mai 2023 durch in Dorf in der äthiopischen Region Tigray, in der die humanitäre Lage katastrophal ist.

Internationale Institutionen

Multilaterale Institutionen zeigten sich oft unfähig oder nicht bereit, den nötigen Druck auf Konfliktparteien auszuüben, damit diese das humanitäre Völkerrecht einhalten. Dabei spielten begrenzte Mittel eine gewisse Rolle. Gleichzeitig zeigten viele Vertreter*innen dieser Institutionen schlicht keine Courage und hielten sich nicht konsequent an ihre eigenen Grundsätze.

Dem UN-Sicherheitsrat gelang es nicht, wirksam gegen größere Konflikte vorzugehen. Wie zu erwarten war, nutzten die USA ihre Vetomacht, um wiederholt zu verhindern, dass der Rat einen Waffenstillstand in Gaza einforderte. Allerdings schien der Sicherheitsrat auch bei solchen Themen gelähmt, über die bisher Einigkeit vorherrschte. Im Juli 2023 verlängerte er das Mandat eines grenzüberschreitenden Mechanismus für die Lieferung humanitärer Hilfsgüter nach Syrien nicht. Seine Arbeitsgruppe für Kinder und bewaffnete Konflikte konnte in Bezug auf schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder in Afghanistan, Myanmar, Somalia und Syrien keine Einigung erzielen, obwohl mehr als ein Jahr lang und in manchen Fällen sogar zwei Jahre oder länger darüber verhandelt worden war.

Der UN-Menschenrechtsrat weist eine widersprüchliche Bilanz auf, wenn es um die Bewältigung der Folgen bewaffneter Konflikte geht. Er richtete 2023 einen Überwachungsmechanismus für Menschenrechte im Sudan ein und erweiterte die Menschenrechtsberichterstattung über Russland. Jedoch wurden andere wichtige Mandate nicht verlängert. Dies betraf z. B. die Internationale Kommission von Menschenrechtsexpert*innen zu Äthiopien, obwohl der dortige Konflikt bereits rund 600.000 zivile Todesopfer gefordert hat und eine "akute Gefahr weiterer Gräueltaten" droht", wie die Kommission warnte. Auch die Ermittlungsmission für Libyen wurde nicht verlängert, obwohl dort weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen verübt wurden und straflos blieben. Manche Staaten widersetzten sich aktiv der Verlängerung dieser wichtigen Mandate, während andere Staaten, die ursprünglich deren Einrichtung unterstützt hatten, nun ihre Unterstützung aufgaben.

Immerhin gab es Anzeichen dafür, dass die UN sich der ernsten Bedrohung durch die unregulierte Entwicklung autonomer Waffensysteme widmen will. Bei derartigen Waffensystemen würde die Entscheidung über Leben und Tod von KI-gestützten Algorithmen abhängen. Die UN-Generalversammlung verabschiedete im Dezember 2023 eine breit unterstützte Resolution, in der die dringende Notwendigkeit betont wurde, sich des Themas anzunehmen. Der UN-Generalsekretär und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes forderten die Staaten auf, bis 2026 einen rechtlich bindenden Vertrag über autonome Waffensysteme abzuschließen.

Rechenschaftspflicht für völkerrechtliche Verbrechen im Rahmen bewaffneter Konflikte blieb meist schwer durchsetzbar, und das Amt des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zeigte in seiner Arbeit teilweise Doppelmoral und Selektivität. Der Chefankläger stellte Ermittlungen in Kenia und Uganda ein, und leitete entgegen früheren Ankündigungen in Nigeria keine Untersuchung ein. In mehreren Fällen, in denen Amnesty International völkerrechtliche Verbrechen dokumentiert hatte, ermittelte der IStGH allerdings weiter. So erließ der Strafgerichtshof Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Dadurch waren alle Mitgliedstaaten des IStGH verpflichtet, sie bei Betreten ihres Staatsgebiets festzunehmen und auszuliefern. Der Chefankläger des IStGH erklärte verspätet, dass die laufenden Ermittlungen zur Lage in Palästina alle Handlungen abdecken, die am und nach dem 7. Oktober 2023 in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten verübt wurden.

Im Mai 2023 wurde die Ljubljana-Haager-Konvention für die juristische Zusammenarbeit bei der Untersuchung und Verfolgung von völkerrechtlichen Verbrechen (Abkommen über gegenseitige Rechtshilfe) verabschiedet. Dadurch haben Personen die Möglichkeit, bei völkerrechtlichen Verbrechen mittels nationaler Gerichte Gerechtigkeit zu erlangen.

Alle UN-Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen ergreifen, um den UN-Sicherheitsrat zu reformieren. Ständige Mitglieder sollten ihre Vetomacht nicht unkontrolliert einsetzen können. Mitgliedstaaten sollten das Abkommen über gegenseitige Rechtshilfe ohne Vorbehalte unterzeichnen. Konfliktursachen, darunter auch rassistische und ethnische Diskriminierung, müssen beseitigt und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten muss gewährleistet werden, einschließlich der Schutz der Zivilbevölkerung. Die Mitgliedstaaten sollten die Präventivorgane der Vereinten Nationen schützen, so z. B. den UN-Menschenrechtsrat, das System der UN-Sonderverfahren sowie Gremien, die Nachweise für völkerrechtliche Verbrechen untersuchen, übermitteln und sichern.

Gegenreaktion auf Geschlechtergerechtigkeit

Auch wenn in manchen Ländern Fortschritte zu verzeichnen waren, verschärften sich weltweit die Gegenreaktionen auf die Forderung nach Einhaltung der Rechte von Frauen, Mädchen und LGBTI+. Viele Regierungen höhlten die sexuellen und reproduktiven Rechte sowie die Rechte von LGBTI+ aus und ergriffen keine Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Diskriminierung sowie sexuelle und reproduktive Rechte

In den vergangenen Jahren haben Frauenrechtler*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen die Achtung der Frauenrechte und der sexuellen und reproduktiven Rechte vorangebracht. Diese Fortschritte werden nun jedoch untergraben. Das UN-Organ UN Women mahnte, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zunehme.

Manche Regierungen haben die Diskriminierung von Frauen und Mädchen 2023 weiter verschärft. In Afghanistan verboten die Behörden Frauen jegliche Bildung über die Grundschule hinaus. Außerdem durften sie nicht für Einrichtungen der Vereinten Nationen, in NGOs oder im öffentlichen Dienst tätig sein. Im Iran setzen die Behörden den Kopftuchzwang unerbittlich durch. In beiden Ländern drohten Frauen brutale staatliche Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie ihre Rechte wahrnehmen oder einfordern wollten. Frankreich verbot als religiös ausgelegte Kleidungsstücke an Schulen und beim Sport, wodurch muslimische Frauen und Mädchen diskriminiert wurden.

In Bezug auf sexuelle und reproduktive Rechte waren 2023 in einigen Ländern Fortschritte zu verzeichnen. In Honduras beendete die Regierung das seit 14 Jahren bestehende Verbot der Verwendung und des Verkaufs von Notfallverhütung ("Pille danach"), wobei Schwangerschaftsabbrüche weiter verboten blieben. In Mexiko erklärte der Oberste Gerichtshof die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen für verfassungswidrig. In Finnland und Spanien wurde der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen erleichtert.

In anderen Ländern untergruben die Behörden jedoch die sexuellen und reproduktiven Rechte, unter anderem den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. In den USA verboten 15 Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche komplett oder ließen sie nur noch in wenigen Ausnahmefällen zu, was unverhältnismäßige Auswirkungen für Schwarze und andere von Rassismus betroffene Bevölkerungsgruppen hatte. In Polen kam 2023 mindestens eine Frau ums Leben, weil ihr der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch verweigert wurde. Nachdem der Oberste Gerichtshof der USA im Jahr 2022 den auf Bundesebene gesetzlich verankerten Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch gekippt hatte, unterdrückten Plattformen wie Facebook, Instagram und Tiktok Informationen über grundlegende reproduktive Rechte. Weltweit waren Menschen, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verteidigten, von politischen Aktivist*innen bis hin zu Beschäftigten des Gesundheitswesens, mit Stigmatisierung, körperlichen und verbalen Übergriffen, Einschüchterung und Bedrohung konfrontiert. Und sie wurden durch ungerechtfertigte strafrechtliche Verfolgung, Ermittlungen und Festnahmen kriminalisiert.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Der Einsatz von Frauenrechtler*innen hat in den vergangenen Jahren zur Einführung einiger Maßnahmen zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen geführt. Dennoch war Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor erschreckend weit verbreitet. Länder wie Japan, Nordmazedonien, Usbekistan und die Schweiz stärkten 2023 ihre gesetzlichen Schutzmechanismen zur Verhütung und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt, darunter auch sexualisierte und häusliche Gewalt. In weiten Teilen der Welt versagten die Behörden jedoch systematisch dabei, gegen geschlechtsspezifische Gewalt und die damit einhergehende Straflosigkeit vorzugehen und den langfristigen Bedürfnissen der Überlebenden gerecht zu werden. In Mexiko wurden 2023 pro Tag durchschnittlich neun Frauen ermordet. In Ländern wie Algerien und Tunesien wurden Frauen Opfer von "Ehrenmorden". In Niger warf der Fall einer 16-Jährigen, die sich das Leben nahm, um einer Zwangsverheiratung zu entgehen, ein Schlaglicht auf die Verzweiflung, die durch Frühverheiratung verursacht wird. In Sierra Leone starb ein zweijähriges Mädchen an den Folgen einer Genitalverstümmelung, was die Folgen dieser Praxis deutlich machte.

Das Bild zeigt eine Frau mit einem Protestschild in der Hand

Demonstration für die Rechte von Frauen in der japanischen Hauptstadt Tokio anlässlich des internationalen Frauentages am 8. März 2023

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Der Schutz der Rechte von LGBTI+ machte in einigen Ländern mäßige Fortschritte, während in vielen anderen Erdteilen die LGBTI-Rechte zunehmend torpediert wurden.

In einigen Ländern waren 2023 positive Veränderungen in Recht und Politik zu verzeichnen. In Lettland erkannten die Behörden eingetragene Lebenspartnerschaften an. Die taiwanesischen Behörden gewährten den meisten transnationalen gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht auf Eheschließung. Der Oberste Gerichtshof in Namibia erkannte das Recht von Ehegatt*innen namibischer Staatsbürger*innen an, ihren Einwanderungsstatus auf der Grundlage von im Ausland geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehen zu legalisieren. In Deutschland, Finnland und Spanien erleichterten die Behörden die geschlechtliche Selbstbestimmung.

Jedoch galten weltweit in 62 Ländern Gesetze, die gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Strafe stellten. Diese Strafgesetze gehen in vielen Fällen auf den Kolonialismus zurück. 2023 brachte neue Gerichtsverfahren und Gesetzesvorschläge, mit denen die Rechte von LGBTI+ eingeschränkt werden sollten. Ein neues Gesetz führte in Uganda die Todesstrafe für "schwere Homosexualität" ein. In Ghana billigte das Parlament ein LGBTI-feindliches Gesetz, und auch Russland verabschiedete neue transfeindliche Gesetze. Bulgarien schaffte die Möglichkeit für trans Personen ab, ihr amtliches Geschlecht zu ändern und damit ihre Geschlechtsidentität offiziell anerkennen zu lassen. In Großbritannien verhinderte die Regierung das Inkrafttreten eines vom schottischen Parlament verabschiedeten Gesetzes zur Geschlechtsanerkennung. In Indien urteilte der Oberste Gerichtshof gegen die rechtliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

In vielen Regionen wurden LGBTI+ festgenommen und strafrechtlich verfolgt. Außerdem wurden Einschränkungen gegen Organisationen verhängt, die sich für die Rechte von LGBTI+ einsetzten. 2023 wurden in Ländern wie Ägypten, Burundi, Libyen und Tunesien unzählige Menschen festgenommen und in manchen Fällen aufgrund von Paragrafen inhaftiert, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen kriminalisieren. In Nigeria kamen Menschen in Haft und vor Gericht, weil sie Hochzeiten oder Feiern für Homosexuelle geplant haben sollen. In China musste eine bekannte LGBTI-Organisation schließen, weil die Regierung gegen sie vorging. Russland verbot praktisch jegliche mit LGBTI-Rechten verbundene Aktivität in der Öffentlichkeit, indem es die sogenannte "internationale LGBTI-Bewegung" als "extremistisch" einstufte.

Nach wie vor kam es weltweit zu gewaltsamen Übergriffen gegen LGBTI+, die in vielen Regionen straflos blieben. In Guatemala, wo die gleichgeschlechtliche Ehe weiter illegal war, wurden mindestens 34 Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität getötet. Im Libanon riefen die Behörden zu Gewalt gegen LGBTI+ auf. Im Irak wiesen die Behörden die Medien an, den Begriff "Homosexualität" durch "sexuelle Abweichung" zu ersetzen.

Alle Regierungen sollten Bewegungen für Geschlechtergerechtigkeit und ähnliche Anliegen unterstützen, um die Diskriminierung von Frauen abzubauen und die sexuellen und reproduktiven Rechte zu stärken. Programme zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt und zur Deckung der langfristigen Bedürfnisse der Überlebenden sollten priorisiert werden. Regierungen sollten sich stark machen für die Aufhebung von Gesetzen und Maßnahmen, die LGBTI+ diskriminieren.

Auswirkungen von Wirtschaftskrisen und Klimawandel

Menschen am Rande der Gesellschaft hatten 2023 unverhältnismäßig stark unter Wirtschaftskrisen, Klimawandel und Umweltzerstörung zu leiden. Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für die Rechte dieser Gemeinschaften einsetzten, gerieten ebenfalls unter Druck, da Staaten kritische Stimmen unterdrücken wollten.

Wirtschaftliche und soziale Rechte

Konflikte, Klimawandel und die Nachwirkungen der Coronapandemie trugen ihren Teil zu einer Reihe wirtschaftlicher Krisen bei. Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation kommen weltweit 4,1 Milliarden Menschen (mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung) nicht in den Genuss von Sozialschutzmaßnahmen, die über eine medizinische Grundversorgung hinausgehen. Vor diesem Hintergrund wirkten sich diese Wirtschaftskrisen gravierend auf die Menschenrechte aus. Zudem war auch die Einhaltung der Ziele für Nachhaltige Entwicklung bedroht. Ein Bericht des UN-Generalsekretärs machte im April 2023 publik, dass "von etwa 140 bezifferten Zwischenzielen nur etwa zwölf Prozent erreichbar scheinen". Aktuellen Prognosen zufolge werden im Jahr 2030 daher 575 Millionen Menschen in extremer Armut leben, trotz des erklärten Ziels, die Armut komplett auszumerzen.

Wirtschaftliche Schocks trieben die Staatsverschuldung weiter in die Höhe, vor allem in Ländern, die bereits unter einer Schuldenkrise litten. Laut einem Bericht der Weltbank vom Dezember 2023 befanden sich etwa 60 Prozent der einkommensschwachen Länder in einer Schuldenkrise oder waren stark von einer bedroht. Viele weitere Länder gaben riesige Geldsummen für wachsende Schuldenrückzahlungen aus, die sie für die Einhaltung der Menschenrechte gebraucht hätten. Zu den Ländern mit starker Überschuldung zählten Ägypten, Äthiopien, Ghana, Kenia, Pakistan, Sambia, Sri Lanka, Tunesien und die Ukraine.

Obwohl die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen nach dem Höchststand im Jahr 2022 ein Jahr später weltweite Preissenkungen für Nahrungsmittel verzeichnete, blieben die Preise im Vergleich zum Zeitraum vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 sehr hoch und stiegen in vielen Märkten sogar weiter. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Jahr 2023 wurde geschätzt, dass 78 Prozent der Bevölkerung in Sierra Leone unter Ernährungsunsicherheit und 46 Prozent der südsudanesischen Bevölkerung unter starker Ernährungsunsicherheit litten, während sich fünf Millionen Menschen in Somalia in einer Ernährungskrise befanden. Mitte Dezember 2023 litten laut der Weltgesundheitsorganisation 93 Prozent der Menschen im Gazastreifen Hunger, wodurch sie Gefahr liefen, an heilbaren Krankheiten zu sterben. Schwangere und stillende Frauen waren besonders gefährdet.

Manche Länder ergriffen Maßnahmen, um die globale Steuerpolitik und andere Formen der Wirtschaftsführung zu verändern. Auf diese Weise sollten wirtschaftliche und soziale Rechte besser erreicht werden. In diesem Rahmen gab es Fortschritte bei der Einrichtung eines globalen Regelwerks für eine gerechtere Besteuerung, das dazu beitragen könnte, Ressourcen für einkommensschwächere Länder zu mobilisieren. Die UN-Generalversammlung verabschiedete eine Resolution, in der ein Zwei-Schritte-Verfahren hin zu einer UN-Rahmenkonvention über die internationale Zusammenarbeit im Steuerbereich gefordert wurde. Der Vorschlag kam aus Nigeria und fand breiten Rückhalt, trotz des Widerstands zahlreicher einkommensstärkerer Staaten wie Großbritannien, Japan, USA und einiger EU-Länder.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Extreme Wetterereignisse und langsam einsetzende Krisen, die durch den Klimawandel häufiger und intensiver auftraten, betrafen alle Länder, wirkten sich jedoch unverhältnismäßig stark die einkommensschwächeren Länder aus. Regierungen und Unternehmen unternahmen weder genug zur Bewältigung dieser Krisen noch zur Verhinderung akuter Umweltzerstörung.

Regierungen haben auch 2023 zu wenig getan, um sich von fossilen Brennstoffen und anderen Treibern des Klimawandels zu verabschieden. Dies gilt vor allem für die Regierungen derjenigen Länder, die historisch von der Erzeugung von Emissionen profitiert haben bzw. einen hohen Emissionssaustoß aufweisen und damit nach dem Rechtsgrundsatz der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit besonderen Verpflichtungen unterworfen sind. In vielen Ländern wurden fossile Brennstoffe sogar weiter ausgebaut, in einigen Fällen mithilfe öffentlicher Gelder.

Die Entscheidung für die Vereinigten Arabischen Emirate als Ausrichtungsort der Weltklimakonferenz (COP28) Ende 2023 war nicht zuletzt deshalb umstritten, weil die Leitung der COP28 einem Mann anvertraut wurde, der auch die im Staatsbesitz befindliche Ölgesellschaft Abu Dhabi National Oil Company leitet. Die Ölfirma hatte zuvor Pläne angekündigt, ihre Produktion fossiler Brennstoffe aggressiv auszuweiten. Die auf der Konferenz erzielte Einigung auf einen "Übergang" weg von fossilen Energieträgern war das erste Mal, dass fossile Brennstoffe in einer Entscheidung der Klimakonferenz erwähnt wurden. Allerdings blieb die Einigung weit hinter dem zurück, was nötig gewesen wäre. Sie ließ Schlupflöcher offen, die es den Fossilbrennstoffunternehmen und Staaten erlauben, so weiterzumachen wie bisher. Gleichzeitig war die Gesamtsumme von 700 Millionen US-Dollar, die auf der COP28 für die Bewältigung klimabedingter Schäden und Verluste versprochen worden war, kaum ausreichend, um einen solchen Fonds aufzulegen. Er ist zur Unterstützung von Gemeinschaften in einkommensschwächeren Ländern gedacht, die unter zerstörerischen Wetterereignissen und anderen durch die globale Erwärmung verursachten Gefahren zu leiden haben.

Positiver war zu verzeichnen, dass mehrere nationale und überregionale Justizinstitutionen, darunter Gerichte in Irland und Zypern sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das Recht von Gruppen und Einzelpersonen anerkannt haben, Regierungen zu verklagen, die zu wenig unternommen haben, um Klimawandel oder Umweltzerstörung zu bekämpfen. Diese Verfahren haben das Potenzial, Regierungen und Fossilbrennstoffunternehmen für bestimmte Schäden haftbar zu machen und eine Grundlage für weitere Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Klimawandel zu schaffen. Im März 2023 unterstützte die UN-Generalversammlung Vanuatu und andere pazifische Inselstaaten, indem sie den Internationalen Gerichtshof aufforderte, eine Expertenmeinung über die Pflichten und Verantwortlichkeiten von Staaten in Bezug auf den Klimawandel abzugeben.

Das Bild zeigt mehrere Menschen, die ein Protestbanner in der Hand halten

In Suva, der Hauptstadt von Fidschi, demonstrieren Menschen gegen die Pläne Japans, radioaktiv verseuchtes Wasser in den Ozean zu leiten (25. August 2023).

Ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen

Von Rassismus betroffene Gruppen wie indigene Gemeinschaften und andere von Mehrfachdiskriminierung betroffene Bevölkerungsgruppen trugen die Hauptlast der menschenrechtlichen Konsequenzen aus Wirtschaftskrisen, dem Klimawandel und Umweltzerstörung.

Diese unverhältnismäßigen Auswirkungen beruhten auf mehreren Faktoren, nicht zuletzt auf den kumulativen Folgen gegenwärtiger und vergangener struktureller und direkter Diskriminierung. Infolgedessen hatten ausgegrenzte Gemeinschaften in Ländern auf der ganzen Welt manchmal keinen Zugang zu Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern wie Trinkwasser, Nahrungsmittel oder Strom. Oder sie konnten sich diese nicht leisten.

In Myanmar forderte der Zyklon Mocha im Mai 2023 unzählige Todesopfer unter den Rohingya. Dies war in erster Linie den Bedingungen zuzuschreiben, unter denen sie leben mussten, seit sie 2012 vertrieben wurden. In Pakistan sorgte die Klimakrise für sengende Hitzewellen, welche die Gesundheit von in Armut lebenden Menschen und im informellen Sektor Beschäftigten besonders stark beeinträchtigte. In mehreren Regionen, z. B. auf dem amerikanischen und asiatischen Kontinent, führten Großprojekte für die Rohstoffgewinnung zu Umweltzerstörung, die indigene Gemeinschaften und andere ausgegrenzte Gruppen unverhältnismäßig stark betraf.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für die Rechte derjenigen einsetzten, die von Wirtschaftskrisen, dem Klimawandel und Umweltzerstörung betroffen waren, gerieten weiterhin ins Visier von Regierungen und nichtstaatlichen Akteur*innen.

In Ländern wie Ägypten und Südkorea gingen die Behörden gegen Gewerkschaften vor, die sich für Arbeiter*innen in wirtschaftlicher Not einsetzten, und gegen Personen, die den Umgang ihrer Regierung mit Wirtschaftskrisen kritisierten. In West- und Zentralafrika wurden Menschenrechtsverteidiger*innen, die Korruption und deren Folgen für die Ressourcen ihrer Länder anprangerten, bedroht, inhaftiert oder getötet.

Sie gehören zu den zahlreichen Menschenrechtsverteidiger*innen, die weltweit im Namen der Unterdrückung abweichender Meinungen verfolgt, eingeschüchtert oder gar getötet wurden. 2023 wurden drei Bewohner*innen der Gemeinde Guapinol in Honduras getötet. Sie hatten sich gegen ein Bergbauprojekt gestellt, um einen Fluss zu schützen, von dem ihre Existenz abhängt. Menschenrechtsverteidiger*innen waren auch von neuen Gesetzen und Vorschriften zur Einschränkung der Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit betroffen, die im Jahr 2023 unter anderem in Bangladesch, China, Großbritannien, Indien, Jordanien, Kuba, Pakistan, Papua-Neuguinea, Singapur und Ungarn in Kraft traten.

Angehörige indigener Gemeinschaften sowie Personen, die sich für Klimagerechtigkeit und den Schutz der Umwelt und Menschenrechte einsetzten, riskierten Festnahmen und Strafverfolgung, wenn sie sich an friedlichen Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligten. Bei Protestveranstaltungen wurden sie und andere Aktivist*innen kriminalisiert oder mit exzessiver oder unnötiger Gewaltanwendung konfrontiert. Der Einsatz von Gummigeschossen und anderen Projektilen gegen Protestierende führte weltweit zu Todesopfern und Tausenden Verletzten, wobei viele Menschen dauerhafte Behinderungen davontrugen. Die fortgesetzte Militarisierung der Polizei verschärfte diese Gefahr noch. Große Hersteller weniger tödlicher Waffen lieferten diese in verantwortungsloser Weise an Sicherheitskräfte, die dafür bekannt waren, sie widerrechtlich einzusetzen. In diesem Zusammenhang wurden immer mehr Stimmen für einen rechtlich bindenden Vertrag zur Kontrolle des Handels mit Ausrüstung für Sicherheitskräfte laut. Sowohl der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, der UN-Sonderberichterstatter über die Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und die UN-Sonderberichterstatterin über Folter bekundeten 2023 ihre Unterstützung für ein Abkommen zur Kontrolle des Handels mit Folterwerkzeugen.

Regierungen und internationale Finanzinstitutionen sollten sich für die Reduzierung von Schulden einsetzen und Ländern, die aufgrund hoher Schuldendienste ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen können, einen kompletten Schuldenerlass gewähren. Sie sollten in Programme für universellen Sozialschutz investieren, die das Recht auf soziale Sicherheit für alle erfüllen, und zusammenarbeiten, um einen globalen Fonds für Soziale Sicherung einzurichten. Damit könnten einkommensschwächere Länder unterstützt werden. Die Regierungen sollten gemeinsam auf eine UN-Steuerkonvention hinarbeiten. Sie müssten sich im Rahmen eines umfassenderen Pakets zur Energiewende zu einem vollständigen, schnellen und fairen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen verpflichten. Auch wären Bemühungen um ein Abkommen zur Kontrolle des Handels mit Folterwerkzeugen wichtig. Und sie müssen den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen garantieren.

Das Bild zeigt zwei Frauen auf einem schmalen Fischerboot, sie lächeln in die Kamera

Die Fischerinnen Yuly Velásquez, Präsidentin des kolumbianischen Fischereiverbandes FEDEPESAN, und Leosmila Gutierrez Lemos (v.l.). Weil sie sich für den Schutz der Umwelt einsetzen, werden sie bedroht. Für ihren Einsatz erhalten sie den Amnesty-Menschenrechtspreis 2024.

Bedrohungen durch neue und bereits bestehende Technologien

Das Aufkommen generativer KI-Tools machte in den vergangenen Monaten Schlagzeilen und verdeutlichte die Bedrohungen, die diese Tools und bereits existierende Technologien für die Menschenrechte darstellen. Vor allem die Rechte von Menschen am Rande der Gesellschaft sind gefährdet. Staaten haben bisher keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um den weltweiten Handel mit Spionagesoftware einzudämmen und das überwachungsbasierte Geschäftsmodell der Tech-Giganten in seine Schranken zu verweisen.

Risiken der künstlichen Intelligenz (KI)

Im Jahr 2023 wurde ChatGPT-4 eingeführt, ein Tool, das Texte selbständig neu zusammensetzen und erzeugen kann. Es zeigte auf, wie generative künstliche Intelligenz (KI) das Arbeitsleben der Menschen, ihren Zugang zu staatlichen Dienstleistungen und ganz allgemein ihre Interaktion mit Internetplattformen verändern wird. Wie jede neue Technologie kann generative KI neue Chancen mit sich bringen, könnte jedoch ohne ausreichende und wirksame Regulierung in Bereichen wie dem Zugang zu Sozialleistungen, Bildung und Beschäftigung, Arbeitnehmer*innenrechten, Privatleben und Online-Sicherheit auch ein Risiko für die Menschenrechte darstellen. Ungleichheiten zwischen ethnischen und anderen Gruppen könnten verstärkt, immer mehr Lebensbereiche überwacht und Hass im Internet noch großflächiger verbreitet werden.

Bestehende KI-Systeme und andere Technologien haben bereits für stärkere Ungleichheit gesorgt und dazu geführt, dass ausgegrenzte Gemeinschaften Nachteile beim Zugang zu staatlichen Dienstleistungen erfahren und in den Bereichen Polizeiarbeit, Sicherheit und Migration benachteiligt werden In Serbien führte ein neues, von der Weltbank finanziertes halbautomatisches System für die Vergabe von Sozialleistungen dazu, dass möglicherweise Tausende Menschen den Zugang zu lebenswichtiger Sozialhilfe verloren. Unverhältnismäßig stark betroffen waren Rom*nja und Menschen mit Behinderungen. In den besetzten palästinensischen Gebieten hat der israelische Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verschärft und dazu beigetragen, das Apartheidsystem aufrechtzuerhalten. Die New Yorker Polizei gab 2023 zu, dass sie Gesichtserkennungstechnologie eingesetzt hatte, um die Black Lives Matter-Proteste in der Stadt zu überwachen. Daraufhin stieg der Druck auf den New Yorker Stadtrat, den Einsatz dieser Technologie zu verbieten. Gleichzeitig vernachlässigen Risikokapitalfirmen, die in neue Technologien investierten, oft ihre Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte.

Weltweiter Handel mit Spionagesoftware

Die Staaten haben den weltweiten Handel mit Spionagesoftware nicht in seine Schranken verwiesen. Nachforschungen von Amnesty International trugen 2023 dazu bei, den Einsatz der Pegasus-Spionagesoftware gegen Journalist*innen und die Zivilgesellschaft in Armenien, der Dominikanischen Republik, Indien und Serbien aufzudecken. Umfangreiche Recherchen unter dem Titel Predator Files unter Leitung des Mediennetzwerks European Investigative Collaborations (EIC) mit technischer Unterstützung von Amnesty International enthüllten, dass "in der EU entwickelte und regulierte" Spionagesoftware uneingeschränkt an Staaten in der ganzen Welt verkauft werden konnte. Als Folge dieser Enthüllungen verabschiedete das Europäische Parlament im November 2023 eine Resolution, in der kritisiert wurde, dass nicht genug gegen Verstöße durch Hersteller von Spionagesoftware unternommen wurde. Auch gab es Anzeichen dafür, dass manche Länder politische Maßnahmen gegen den Einsatz dieser Software ergreifen; so erkannten im März 2023 elf Staaten die Bedrohung an, die Spionagesoftware für die Menschenrechte darstellt.

Menschenrechtsverstöße durch große Tech-Konzerne

Die negativen Auswirkungen des überwachungsbasierten Geschäftsmodells der Tech-Giganten wurden 2023 abermals offenkundig: Einerseits im Kontext bewaffneter Konflikte, aber auch im Hinblick auf die Aushöhlung der Rechte von Kindern und Jugendlichen. Tiktok wandte ein System an, das den Nutzer*innen Inhalte empfahl, und legte invasive Datensammelpraktiken an den Tag. Dies war gefährlich für junge Nutzer*innen der Plattform, die dadurch verstärkt Inhalte über Depressionen und Suizid zu sehen bekamen, was das Risiko mit sich brachte, dass bereits bestehende psychische Probleme verschlimmert werden könnten. Auf X (ehemals Twitter) war zudem ein beunruhigender Anstieg von Hetze gegen LGBTI+ zu verzeichnen. Es ist anzunehmen, dass die Verbreitung politischer Fehl- und Falschinformationen noch stärker zunehmen wird. Das ist angesichts der zahlreichen Wahlen im Jahr 2024 höchst besorgniserregend. Um ihre Chancen auf einen Wahlsieg zu steigern, instrumentalisierten in vielen Erdteilen politische Kräfte die Sozialen Medien, um gegen Minderheiten mobil zu machen und Gemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. Die Geschäftsmodelle und Algorithmen der Tech-Giganten , die Klicks und Profite über alles stellen, leisteten dem noch Vorschub. Generative KI-Tools verstärken diese Gefahren zusätzlich.

Einige Aufsichtsbehörden und betroffene Personen bemühten sich, weitere Verstöße zu verhindern. Im Juli 2023 verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union ein zentrales Urteil gegen das überwachungsbasierte Geschäftsmodell von Meta, dem Unternehmen, zu dem Facebook und Instagram gehören. Wenig später wiesen die norwegischen Behörden Meta an, dort keine personalisierte Werbung mehr zu zeigen, die auf der Online-Aktivität und dem mutmaßlichen Aufenthaltsort der Nutzer*innen basierten. In der EU drängte die Zivilgesellschaft mit Nachdruck auf eine effiziente Umsetzung des wegweisenden Gesetzes über digitale Dienste von 2022 – das weltweit erste Regelwerk, das die Beschränkung der Tech-Giganten und die Einhaltung der Menschenrechte versprach. Allerdings wurde in mancher Hinsicht die Chance vertan, den Risiken von KI-Technologien zu begegnen. So gelangte die EU zwar 2023 zu einer Einigung über das EU-Gesetz zur Künstlichen Intelligenz, doch ging der endgültige Gesetzestext nicht weit genug, um gewisse Gefahren abzuwenden. Im Gegenteil, dies könnte sogar zur Ausweitung und Legitimation der Überwachungsaktivitäten von Polizei und Zuwanderungsbehörden beitragen.

Die Regierungen sollten unverzüglich hochinvasive Spionagesoftware und Gesichtserkennungstechnologie verbieten. Belastbare gesetzliche und regulierende Schritte wären nötig, um gegen die von KI-Technologien verursachten Risiken und Schäden vorzugehen. Zudem sollten sie die Tech-Giganten in ihre Schranken verweisen, vor allem indem sie gegen die negativen Auswirkungen ihres überwachungsbasierten Geschäftsmodells vorgehen.

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