Amnesty Journal Griechenland 08. April 2024

Unsichtbare Mauern einreißen

Menschen, die ein Theaterstück auf einer Bühne aufführen. Eine Frau filmt. Eine andere Frau singt in ein Mikro. Ein Mann breitet seine Arme aus.

Für manche eine Provokation: Auf der Bühne stehen Rom*nja nicht als Minderheit, sondern als Mitmenschen. 

Die Regisseure Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris thematisieren in ihrem dokumentarischen Theaterstück "Romaland" die noch immer starke Marginalisierung der Rom*nja in Griechenland.

Interview: Astrid Kaminski

Worauf verweist der Titel "Romaland"?

Anestis Azas: Unsere Methode ist es, Geschichten für die Bühne zu entwickeln aus der Perspektive von Menschen, die ansonsten kaum die Möglichkeit haben, mit ihren Interessen in der Öffentlichkeit vertreten zu werden. "Romaland" ist eine Erzählung über Griechenland, nur dass der Titel nach jenen Bürger*innen benannt ist, die am schlechtesten dastehen. So wird die Bühne zu einem Ort, an dem sich der Blick auf das Land ändert – und das Land zu einem unbekannten Terrain.

Rom*nja sind in Griechenland sehr präsent im Straßenbild. Man sieht sie als Schrott- und Recyclingmaterialsammler*innen, als Korbflechter*innen, Gemüseverkäufer*innen, Bettler*innen. Wie haben Sie Rom*nja wahrgenommen, bevor Sie das Stück gemacht haben?

Anestis Azas: Ich erinnere mich, dass im Dorf meiner Mutter regelmäßig Korbflechter vorbeikamen, um die typischen griechischen Landstühle zu reparieren. Inzwischen gibt es aber keinen Bedarf mehr an Reparaturen; man kauft Sachen neu, wenn sie kaputt gehen. Und weil es nur wenige Rom*nja gibt, die Schulen ­besuchen oder in anerkannten Berufen arbeiten, gibt es im Alltag wenig Berührungspunkte. Es besteht eine Art unsichtbare Mauer.

Wie hat sich Ihre Perspektive durch die künstlerische Arbeit geändert?

Anestis Azas: Das wichtigste Stereotyp ist, dass Rom*nja so leben, wie sie leben, weil sie es wollen. Aber das ist falsch. Wir haben gemerkt, dass der Unterschied zwischen Rom*nja und anderen Griech*innen gar nicht so groß ist, sondern dass vor allem die soziale Klasse ausschlaggebend ist. Wenn man sich ansieht, wie die Balamos, also die Nicht-Rom*nja, bis in die 1960er Jahre gelebt haben, dann gibt es viele Parallelen.

Prodromos Tsinikoris: Der Sohn übernimmt das Geschäft des Vaters, ohne zu studieren. Die Tochter heiratet jung ­beziehungsweise wird verheiratet, bekommt eine Mitgift und wird Hausfrau. Auf Schulabschlüsse wird nicht viel Wert gelegt. Man bildet Großfamilien oder Clans, um eine soziale Machtposition zu erhalten. Bei den Rom*nja ist das Gefühl von Verbundenheit mit ihrer Gemeinschaft aufgrund ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung besonders stark. Sie wurden auf dem osmanisch besetzten Balkan bis Ende des 19. Jahrhunderts versklavt und von den Nazis verfolgt und ermordet. Wenn man dann noch bedenkt, dass sie bis 1979 in Griechenland keine Bürgerrechte hatten, etwa 90 Prozent von ihnen Analphabet*innen sind und daher keine Chance haben, mit der Bürokratie umzugehen, dann wird schnell klar, warum sie eine Parallelgesellschaft gebildet haben.

YouTube freischalten

Wir respektieren deine Privatsphäre und stellen deshalb ohne dein Einverständnis keine Verbindung zu YouTube her. Hier kannst du deine Einstellungen verwalten, um eine Verbindung zu den Social-Media-Kanälen herzustellen.
Datenschutzeinstellungen verwalten

Ein Stereotyp ist die Musikalität der Rom*nja. Für Ihr Stück haben Sie den hitverdächtigen Rap-Song "Listen up, balamo" produziert. Das Publikum war betroffen und begeistert. Ist Rom*nja-Musik in Griechenland ­bekannt?

Prodromos Tsinikoris: Ich glaube nicht, dass irgendwer in meinem Bekanntenkreis ein Rom*nja-Lied kennt. Es wäre toll, wenn sich das durch unser Lied – das allerdings eine Koproduktion mit dem Balamo-Musiker Panagiotis Manouilidis ist – ändert. Die Rolle, die Rom*nja in der griechischen Musikgeschichte spielen, ist paradox. In früherer Zeit war der Beruf des Musikers eher verpönt. Es war eine Tätigkeit, die eher von Ausgestoßenen, also von Rom*nja, ausgeübt wurde. Mittlerweile ist anerkannt, dass Rom*nja auf diese Art zum Erhalt der traditionellen griechischen Musik beigetragen haben. Durch ihren nomadischen Lebensstil haben sie die Lieder von einem Dorf ins andere transportiert, also sozusagen einen positiven musikalischen Virus verbreitet. Heute sind daher die besten Instrumentalist*innen Rom*nja. Gleichzeitig sind sie die begehrtesten und teuersten – für griechische Volksmusik!

Mussten Sie viel Überzeugungsarbeit leisten, um Menschen zu finden, die auf der Bühne ihre Geschichte erzählen wollen?

Anestis Azas: Wir können und wollen ­niemanden überzeugen, die eigene Geschichte auf der Bühne zu erzählen. Es muss dazu einen Wunsch, eine Notwendigkeit geben. Dennoch verlief die Arbeit anders als in unseren bisherigen Projekten: Wir trafen auf Leute, die überhaupt keine Vorstellung davon hatten, was Theater ist, die ganz andere Sorgen hatten, als sich darüber Gedanken zu ­machen. Wir haben daher erst einmal ­Gespräche über Theater geführt, was es ist und was es im besten Fall kann.

Prodromos Tsinikoris: Das war auch für uns sehr bereichernd, weil der Aufbau von Beziehungen viel wichtiger war als sonst. Das Team bildet inzwischen unter sich, aber auch mit uns eine Art nicht-verwandtschaftliche Familie. Es gibt einen starken Zusammenhalt, der, denke ich, auch halten wird – was im Theater nicht unbedingt selbstverständlich ist …

Normalerweise lernen Schauspie­ler*in­nen für ein Stück Texte auswendig. Wie ist das, wenn sie nicht lesen können?

Prodromos Tsinikoris: Wir haben mit dem Live-Regisseur Avraam Goutzeloudis gearbeitet, der selbst Rom ist. Auf diese Weise konnten wir immer wieder Brücken zum Bühnengeschehen bauen. Der andere Weg ging über Musik. Rhythmus und Melodie helfen bekanntlich beim ­Erinnern.

Wir zeigen Menschen, die arm sind, die im Gefängnis waren, die verkauft wurden, die Gewalt und Diskriminierung erfahren mussten. Was wünschen sich diese Menschen? In erster Linie Liebe, Arbeit und in Frieden leben zu können.

Prodromos
Tsinikoris
Fünf Stühle in einem großen Kasten, der eine Theaterbühne ist, auf zwei von ihnen sitzen zwei mitteallte Männer, vor dem Kasten getrockente Pflanzen, die als Theaterdeko dienen.

Künstlerische Auseinandersetzung mit Migration, Diskriminierung und Obdachlosigkeit: Prodromos Tsinikoris (rechts) und Anestis Azas 

Wie hat das griechische Publikum auf "Romaland" reagiert?

Anestis Azas: Nach der Premiere gab es in den Online-Netzwerken einen Sturm des Hasses. Man warf uns vor, wir würden die Rom*nja reinwaschen, die kriminelle Seite nicht zeigen. Die Berichterstattung in der Presse ging teilweise in dieselbe Richtung. Für uns war der positive Zugang jedoch eine strategische Entscheidung. Wir hätten ein Mafiastück machen können, das negative Stereotype bestätigt. Aber wir wollten ein Stück über das machen, was uns verbindet und näherbringt – ohne Probleme zu verschweigen.

Prodromos Tsinikoris: Im Gegenteil, die Probleme sind ja alle da. Wir zeigen Menschen, die arm sind, die im Gefängnis waren, die verkauft wurden, die Gewalt und Diskriminierung erfahren mussten. Was wünschen sich diese Menschen? In erster Linie Liebe, Arbeit und in Frieden leben zu können. Auf dieses versöhnliche Element kam es uns an.

Prodromos Tsinikoris wurde in Deutschland als Kind griechischer Eltern geboren. ­Anestis Azas wuchs in Griechenland auf und studierte an der Berliner Ernst-Busch-Hoch­schule Regie. Das Duo hat in deutschsprachigen Ländern sowie in Griechenland zahlreiche Stücke aufgeführt, unter anderem zu Migration, Diskriminierung, Obdachlosigkeit und zum Arbeitsmarkt. Bis zum letzten Regierungswechsel leiteten sie die Experimentalbühne des griechischen Nationaltheaters. "Romaland" wurde im November 2023 in Athen uraufgeführt. In diesem Jahr ist eine Europatour geplant.

Astrid Kaminski ist freie Journalistin und Autorin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Weitere Artikel