Dem Sturm trotzen: Einsatz für die Menschenrechte in der Türkei

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In der Türkei ist es gefährlich, die eigene Meinung zu sagen.

Nach fast zwei Jahren im Ausnahmezustand leben Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger in der Türkei in einem ständigen Klima der Angst. Sie werden entweder inhaftiert, strafverfolgt oder bedroht bzw. kennen viele andere, denen das widerfahren ist. Sie sind vorsichtig mit dem, was sie sagen, schreiben oder twittern. Eine gepackte Tasche steht immer bereit für den Fall, dass es früh morgens an der Tür klopft und die Polizei sie mitnimmt. 

Ihre Organisationen fühlen den Druck ebenso. Manche sind einfach geschlossen worden, wodurch sehr viele Menschen, die auf ihre Unterstützung angewiesen sind, ihrer Stimme beraubt wurden. Und nichts davon ist zufällig geschehen. Im Gegenteil: Es ist der bewusste Versuch, die unabhängige Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen.

Deshalb müssen wir über die Türkei sprechen.

Wir müssen darüber sprechen, dass das landesweite harte Durchgreifen zu Massenfestnahmen und Entlassungen, dem Aushöhlen des Rechtssystems und der Unterdrückung abweichender Meinungen mittels Drohungen, Schikanierung und Inhaftierung geführt hat.

 

Ziel ist es, das Klima der Angst aufrechtzuerhalten. In Polizeigewahrsam hat man große Angst um die eigene Familie. Wir haben alle Angst.

Osman
İşçi
Menschenrechtsverteidiger

Ein Klima der Angst und Einschüchterung

Seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wurden gegen mehr als 100.000 Personen strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet, mindestens 50.000 Menschen befinden sich in Untersuchungshaft. In der Türkei sind weltweit die meisten Journalistinnen und Journalisten inhaftiert; zurzeit befinden sich mehr als 120 hinter Gittern, nur weil sie ihrer Arbeit nachgegangen sind.

Menschen, die sich nach wie vor für die Menschenrechte einsetzen, zahlen für ihr Engagement einen hohen Preis. Verleumdungskampagnen in den sozialen Netzwerken und regierungsnahen Medien sind oft nur der Anfang. Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler können jederzeit festgenommen und aufgrund haltloser Vorwürfe monatelang inhaftiert werden. Dieses Klima der Angst führt zur Selbstzensur. Aktivistinnen und Aktivisten beginnen zu zögern, wenn sie ihre Stimme erheben wollen, da sie wissen, dass sie für ihre geäußerten Ansichten ins Gefängnis kommen können.

Wie die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin Amnesty International berichtete: "Ich versuche, meine Ansichten frei zu äußern, aber ich denke ganz klar zweimal nach, bevor ich etwas sage oder schreibe." Gegen Eren Keskin laufen derzeit mehr als 140 separate Strafverfahren wegen Artikeln, die sie als symbolische Chefredakteurin von Özgür Gündem veröffentlicht hat.

Porträt einer Frau in einem Sessel

Ich versuche, meine Ansichten frei zu äußern, aber ich denke ganz klar zweimal nach, bevor ich etwas sage oder schreibe.

Eren
Keskin
wiederholt strafrechtlich verfolgte Menschenrechtsanwältin

Unfaire strafrechtliche Verfolgung

Antiterrorgesetze werden dazu benutzt, Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger und Andersdenkende zu kriminalisieren und einzusperren, um sie zum Schweigen zu bringen.

Einer von ihnen ist der Anwalt für Flüchtlingsrechte Taner Kılıç, Gründungsmitglied und Ehrenvorsitzender von Amnesty International in der Türkei. Er wurde am Morgen des 6. Juni 2017 festgenommen und drei Tage später ins Gefängnis überstellt. Insgesamt 400 Tage saß Taner Kılıç unrechtmäßig in Untersuchungshaft. Erst am 15. August 2018 ordnete ein Gericht in Istanbul seine Freilassung aus einem Gefängnis im westtürkischen Izmir an. 

Das Verfahren gegen Taner Kılıç ist weiterhin anhängig. Der Hauptvorwurf, der gegen ihn  erhoben wird, ist das angebliche Herunterladen und die vermeintliche Nutzung einer verschlüsselten Messenger-Anwendung für Mobilgeräte namens ByLock, die nach Aussagen der Behörden von denen benutzt wird, die den Putschversuch verantworten. Doch vier verschiedene Expertengutachten zeigen, dass Taner Kılıç diese App weder heruntergeladen noch benutzt hat. Schockierend ist, dass die Staatsanwaltschaft fast ein Jahr später immer noch keine Beweise für ihre Anschuldigungen vorgelegt hat. Hinzu kommt, dass das reine Vorhandensein einer Messenger-Anwendung nicht als Nachweis für eine "terroristische" Straftat dienen kann. 

Porträtfoto eines Mannes in einer felsigen Hügellandschaft vor einer großen Wasserfläche im Hintergrund

Taner Kılıç, Ehrenvorsitzender von Amnesty International in der Türkei, vor seiner Inhaftierung

Hartes Durchgreifen unter dem Ausnahmezustand

Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 hat die Türkei den Ausnahmezustand bereits sieben Mal verlängert. Der Ausnahmezustand versetzt die Regierung vor allem in die Lage, ohne Kontrolle und Ausgleich mit Hilfe von Dekreten zu regieren. Diese Präsidialerlasse haben Gesetzeskraft und entbehren fast jeder parlamentarischen oder gerichtlichen Kontrolle. Im Grunde genommen kann die Regierung tun und lassen, was sie will.

Frauen in gelben T-Shirts und in Handschellen protestieren vor einem Gebäude

Weltweit protestierten Menschen gegen die Verhaftung von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern wie in Paris im Juli 2017 

Leider hat sich die Regierung dazu entschlossen, die Rechte der Menschen in der Türkei zu verletzen, statt sie zu schützen. Die Behörden benutzen die "nationale Sicherheit" als Begründung, um hart erkämpfte Rechte wie die Meinungsfreiheit, friedlichen Protest und friedliche Versammlung mit Füßen zu treten. Die folgenden Zahlen sind der traurige Beweis für die sich verschlechternde Menschenrechtslage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch. 

Zeichnung eines Buchs mit Paragraph-Symbol auf dem Cover

Mehr als 100.000 Personen drohte ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren bzw. die Strafverfolgung.

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Mehr als 170 Medienkanäle wurden geschlossen; in vielen Fällen wurden die Vermögenswerte beschlagnahmt.

Zeichnung eines Bücherstapels

Mehr als 265 Akademikerinnen und Akademiker wurden wegen Unterzeichnung einer Petition für den Frieden strafrechtlich verfolgt.

Die Grafik zeigt eine Gefängnistür mit Gitterstäben.

Mehr als 50.000 Menschen sind in Untersuchungshaft.

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten und Medienschaffende wurden seit Juli 2016 in der Türkei festgenommen oder inhaftiert.

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Mehr als 1.300 Verbände und Stiftungen mussten schließen.

Zerrüttetes Rechtssystem

Inzwischen scheinen faire Gerichtsverfahren in der Türkei als ein immer weiter in die ferne gerückter Traum. Schätzungen zufolge sind im Zuge des scharfen Vorgehens nach dem Putschversuch Strafverfahren gegen Hunderte Anwältinnen und Anwälte eingeleitet worden. Dies ist Teil der beständigen Angriffe auf die Justiz, bei denen auch Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und andere Staatsbeamte ins Visier genommen werden.

Menschenrechtsverteidiger, Journalist und Anwalt Orhan Kemal Cengiz kennt dies nur zu gut. Er wurde im Juli 2016 inhaftiert und anschließend des Versuchs, "die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen", "das Parlament und die Regierung zu stürzen bzw. an der Ausführung ihrer Pflichten zu hindern" und "Mitgliedschaft in einer militanten Terrororganisation" angeklagt. Diese Anklagen können mit lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der Bewährung geahndet werden.

Orhan Kemal Cengiz berichtete Amnesty International, dass er nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts im Fall von Mehmet Altan, einem seiner Mandanten, den Ausgang des Verfahrens in einem Tweet begrüßt habe: "Sofort erhielt ich Nachrichten von Leuten, die sagten: 'Was denkst du dir eigentlich? Du machst nur auf dich aufmerksam. Sie werden dich einsperren.'"

Orhan Kemal Cengiz in einem blau-weiß gestreiften Hemd

Der Journalist, Anwalt und Menschenrechtsverteidiger Orhan Kemal Cengiz im April 2018

Geschlossene Organisationen

Wenn Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger zur Zielscheibe werden, man sie inhaftiert, knebelt und zum Schweigen bringt, hat das nicht nur für sie fatale Folgen: Den am stärksten von Menschenrechtsverletzungen Betroffenen – also z. B. LGBTIQ, Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt – wird die lebenswichtige Unterstützung bei der Einforderung ihrer Rechte entzogen. Die Frauenvereinigung Van Kadın Derneği (VAKAD) etwa war eine lebendige Organisation, die in der Osttürkei Präventionsarbeit gegen Gewalt gegen Frauen leistete. Am 22. November 2016 wurden sie aufgrund eines Präsidialerlasses geschlossen. Heute leistet niemand mehr diese lebenswichtige Arbeit in der Region.

Es herrscht nun großer Mangel an Beratungs- und Unterstützungsdiensten für Überlebende. Es bricht mir wirklich das Herz.

Zozan
Özgökçe
Mitgründerin der Frauenorganisation VAKAD

LGBTIQ-Communities wehren sich

Die Auswirkungen der Repression auf die Zivilgesellschaft sind immens, auch auf die LGBTIQ-Szene. Ehemals dynamische und mitgliedsstarke LGBTIQ-Organisationen fühlen sich erneut in die Unsichtbarkeit gedrängt. Sie berichten über einen starken Anstieg an Einschüchterungen und Drangsalierungen gegen Einzelpersonen und im Rahmen geplanter Veranstaltungen.

Viele Menschen demonstrieren auf einer Straße unter einer riesigen Regenbogen-Fahne

Die Istanbul Pride-Demonstration im Juni 2008

Die Istanbuler Pride-Parade war mal eine wunderbare Demonstration von Selbstsicherheit und Diversität und wuchs von Jahr zu Jahr. Doch seit drei Jahren ist sie verboten. In Ankara sind seit November 2017 alle LGBTIQ-Veranstaltungen verboten.

 

Eine aus der Vogelperspektive fotografierte Menschenmenge auf einer Straße mit Regenbogenflaggen, einem Regenbogen-Regenschirm und Schildern

Überall im Land wird hart gegen das Recht auf Meinungsfreiheit vorgegangen. LGBTIQ haben daher immer weniger Freiraum, sie selbst zu sein.

Anonyme LGBTI-Aktivistin
Sicherheitskräfte nehmen in Istanbul eine Aktivistin fest, die sich für LGTBI-Rechte einsetzt, Juni 2016

Die meisten LGBTIQ in der Türkei leben heute mit mehr Angst als je zuvor.

Anonymer LGBTI-Aktivist

Verteidigung der Menschenrechte im Südosten der Türkei

Das Einstehen für die Menschenrechte der kurdischen Bevölkerung war in der Türkei schon immer ein gefährliches Unterfangen. Im aktuellen Klima der Angst spüren Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger im Südosten der Türkei die besorgniserregenden Auswirkungen des scharfen Vorgehens besonders deutlich. Die wenigen verbleibenden unabhängigen Stimmen für die Menschenrechte in der Region müssen nun noch häufiger mit Inhaftierung und Strafverfolgung rechnen.

Die Menschenrechtsverteidigerin und Journalistin Nurcan Baysal wurde im Januar 2018 kurzzeitig inhaftiert und wegen fünf Tweets zum türkischen Militäreinsatz in Afrin im Norden Syriens verhört. Im Mai muss sie sich wegen "Anstiftung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit" vor Gericht verantworten.

Porträt einer lachenden Frau

Ich bin überzeugt davon, dass die Anwesenheit von Menschen aller Schichten und politischen Ansichten am Tag meiner Gerichtsverhandlung dazu beigetragen hat, dass ich aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde. Es hat gezeigt, dass ich nicht alleine bin.

Nurcan
Baysal
Menschenrechtsverteidigerin und Journalistin

Was ist zu tun?

Ein Richtungswechsel ist möglich. Die Türkei kann und sollte den Ausnahmezustand aufheben und die dazugehörigen Präsidialerlasse außer Kraft setzen, die weit über legitime Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit hinausgehen.

Die inhaftierten Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger müssen freigelassen werden. Sie müssen ihrer Tätigkeit ohne Angst und Verfolgung nachgehen können, ohne dass sie von Haft oder Strafverfolgung bedroht werden.

Und die internationale Gemeinschaft sollte all ihren Einfluss auf die Türkei geltend machen, um ein Klima zu fördern, in dem Rechte und diejenigen, die für sie eintreten, geachtet werden.

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