Amnesty Report Palästinensische Autonomiegebiete 24. April 2024

Palästina 2023

Das Foto zeigt Männer, die einen Mann auf einer Trage tragen, inmitten von Schutt und zerstörten Gebäuden.

Bergung eines verletzten Mannes aus einem bei einem israelischen Angriff zerstörten Gebäude in der palästinensischen Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens (15. Oktober 2023).

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Vom 10. bis 13. Mai 2023 feuerten bewaffnete palästinensische Gruppen Hunderte ungelenkte Raketen wahllos auf Israel ab. Am 7. Oktober drangen Angehörige des bewaffneten Flügels der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen in den Süden Israels ein und töteten mindestens 1.000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilpersonen, darunter 36 Minderjährige. Sie nahmen zudem etwa 245 Personen als Geiseln oder Gefangene. Ab Oktober wurden aus dem Gazastreifen rund 12.000 Raketen auf Israel abgefeuert, die dort 15 Menschen töteten. Die palästinensischen Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen unterdrückten die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Es gab Berichte über Folter und andere Misshandlungen in palästinensischen Haftanstalten. Angehörige bewaffneter palästinensischer Gruppen töteten summarisch mehrere mutmaßliche "Kollaborateure". Im Gazastreifen wurden Todesurteile verhängt und Hinrichtungen vollzogen. 

Hintergrund

Sowohl die Palästinenser*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel als auch palästinensische Flüchtlinge litten nach wie vor unter den Auswirkungen des israelischen Apartheidsystems. 

Weniger als 40 Prozent des besetzten Westjordanlands wurden weiterhin von der palästinensischen Partei Fatah verwaltet, während die islamistische Partei Hamas den besetzten und belagerten Gazastreifen verwaltete. Seit 2006 hatten keine nationalen Wahlen mehr stattgefunden. Im Juli 2023 trafen sich die Anführer der beiden rivalisierenden palästinensischen Parteien in Ägypten, um einen "Versöhnungsausschuss" zu gründen, der jedoch nicht zustande kam. 

Nach Angaben der Weltbank erreichte die Armutsquote unter den Palästinenser*innen 25 Prozent. Betroffen war insbesondere der Gazastreifen: Bereits vor Oktober 2023 waren 73 Prozent der dortigen Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Im Januar 2023 behielten die israelischen Behörden Steuern ein, die sie im Namen der palästinensischen Behörden eingezogen hatten. Dies führte zu einem Finanzierungsdefizit der palästinensischen Verwaltung und verschärfte die Armut unter den Palästinenser*innen, da die Löhne der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gesenkt werden mussten und Wirtschaftsunternehmen ohnehin bereits durch Israel eingeschränkt waren. Im November 2023 wurden die Überweisungen der Steuereinnahmen an die palästinensischen Behörden im Westjordanland teilweise wieder aufgenommen. 

Im Gazastreifen führten die Verschärfung der seit 16 Jahren anhaltenden rechtswidrigen israelischen Blockade und die Zerstörungen durch israelische Militäraktionen ab Oktober 2023 zu einem vollständigen Zusammenbruch der Wirtschaft und der Infrastruktur. Nach dem ersten Monat des Konflikts stellte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) fest, dass 96 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen grundlegende Unterstützung zum Überleben benötigte. Der Konflikt beeinträchtigte auch die Wirtschaft im Westjordanland. 

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen töteten die israelischen Streitkräfte in dem Gebiet 21.600 Palästinenser*innen (siehe Länderkapitel Israel und besetzte palästinensische Gebiete). Im Westjordanland töteten israelische Sicherheitskräfte 493 Palästinenser*innen, womit 2023 für die Palästinenser*innen im Westjordanland das tödlichste Jahr seit mindestens 1967 war.

Im Oktober und November 2023 führten Verhandlungen von Katar und anderen Vermittlern dazu, dass die Hamas 109 Geiseln freiließ und Israel 240 Palästinenser*innen aus israelischer Haft entließ. 

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen im Gazastreifen

Im Mai 2023 feuerten die mit dem Palästinensischen Islamischen Dschihad verbundenen Al-Quds-Brigaden und kleinere bewaffnete Gruppen Hunderte ungelenkte Raketen auf israelische Städte ab und töteten dabei zwei Zivilpersonen in Israel und drei palästinensische Zivilpersonen im Gazastreifen, darunter zwei Kinder. Zwischen dem 9. und 13. Mai hatten israelische Streitkräfte Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen sowie elf Zivilpersonen im Gazastreifen getötet (siehe Länderkapitel Israel und besetzte palästinensische Gebiete). 

Am 7. Oktober 2023 drangen Mitglieder der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen sowie bewaffnete Einzelpersonen in den Süden Israels ein und griffen militärische und zivile Gebiete an. Videos bewiesen, dass sie gezielt auf Zivilpersonen schossen und Zivilpersonen als Geiseln nahmen. Nach offiziellen israelischen Angaben wurden mindestens 1.000 Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilpersonen. Zu den angegriffenen Gebieten zählte das Gelände des Nova-Musikfestivals nahe Re'im im Südwesten Israels. Dort wurden nach Angaben der israelischen Polizei 364 Menschen getötet. Unter den Getöteten waren auch palästinensische Arbeiter*innen aus dem Gazastreifen und Arbeitsmigrant*innen aus Südostasien.

Geiselnahme

Bewaffnete palästinensische Gruppen nahmen bei dem Angriff am 7. Oktober 2023 etwa 245 Personen als Geiseln oder Gefangene, darunter auch Kinder und ältere Menschen. Geiselnahme ist nach dem Völkerrecht ein Kriegsverbrechen. Unter den Entführten waren auch die zweijährige Aviv Asher und ihre vierjährige Schwester Raz Asher aus dem Kibbuz Nir Oz, die bis zum 24. November als Geiseln festgehalten wurden. Am 20. und 23. Oktober ließ die Hamas in Abstimmung mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) vier Geiseln frei. Zwischen dem 24. und 30. November 2023 entließ die Hamas 105 weitere Geiseln, von denen einige über Misshandlungen berichteten. Dem IKRK wurde der Zugang zu den Geiseln verweigert.

Weitere rechtswidrige Angriffe

Von Oktober 2023 bis zum Jahresende wurden aus dem Gazastreifen etwa 12.000 Raketen wahllos abgefeuert, die nach Angaben der israelischen Behörden 15 Menschen in Israel töteten und Gebäude in Israel und Palästina beschädigten. Eine am 7. Oktober aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete tötete im Beduinendorf Kuhleh in der Wüste Negev/Naqab im Süden Israels fünf Kinder im Alter zwischen 11 und 14 Jahren. Etwa 120.000 Israelis wurden aufgrund der Angriffe bewaffneter palästinensischer Gruppen aus ihren Häusern im Süden Israels vertrieben.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Nach Angaben des Palästinensischen Zentrums für Entwicklung und Medienfreiheit (Palestinian Centre for Development and Media Freedoms – MADA) gab es 2023 vermehrt Angriffe auf Journalist*innen, insbesondere wenn diese über Ereignisse berichteten, bei denen Kritik an den Behörden geübt wurde. Die palästinensische Polizei löste unabhängige Proteste im Allgemeinen schnell auf, wobei sie übermäßige Gewalt anwandte.

Westjordanland 

Palästinensische Sicherheitskräfte schikanierten Kritiker*innen und Organisator*innen von Protesten routinemäßig mit Drohanrufen und Hausbesuchen. 

Am 18. Juni 2023 verprügelten palästinensische Sicherheitskräfte Abdel Majid Hassan, den Vorsitzenden der Studierendenvertretung der Universität Birzeit. Anschließend hielten sie ihn und seinen Kommilitonen Yahya Farah einen Monat lang in Ramallah fest. Die Familien der Studierenden berichteten, dass sie gefoltert worden seien. 

Im Oktober löste die palästinensische Polizei, offenbar in Abstimmung mit dem israelischen Militär, Demonstrationen, die Solidarität mit den Menschen in Gaza bekundeten, gewaltsam auf. Nach einem Angriff auf das al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt versammelten sich am 17. Oktober 2023 Demonstrierende in Ramallah, dem Verwaltungszentrum des Westjordanlands, um gegen die Untätigkeit des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas zu protestieren. Sie wurden mit Blendgranaten und Tränengas auseinandergetrieben.

Gazastreifen 

Am 30. Juli und 4. August 2023 versammelten sich Tausende Demonstrierende in Gaza-Stadt und Khan Yunis und forderten die Hamas-Verwaltung auf, für eine verlässliche Versorgung mit Kraftstoff und Strom zu sorgen. Sie protestierten außerdem dagegen, dass die Hamas einen Teil der Sozialleistungen für arme Familien einbehielt. Die Demonstrierenden wurden gewaltsam auseinandergetrieben und viele von ihnen festgenommen. Nach Angaben von MADA griffen Sicherheitskräfte in Zivil einen Journalisten an, der am 30. Juli in Gaza-Stadt über die Proteste berichtete. Journalist*innen, die in Khan Yunis vor Ort waren, teilten mit, die Polizei habe die Mobiltelefone von Demonstrierenden zerstört, die die Ereignisse gefilmt hatten.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Westjordanland

Bei der Besetzung von Posten in den Regierungs- und Justizbehörden im Westjordanland wurden die gewünschten Personen stets durch Präsidialdekrete bestimmt, was die Unabhängigkeit der Justiz untergrub.

Am 5. Juni 2023 verhörten Angehörige der Staatsanwaltschaft die Direktor*innen von AMAN, einem Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Förderung der Rechenschaftspflicht der Regierung, und warfen ihnen vor, hochrangige Staatsbedienstete "diffamiert" zu haben. Das Bündnis hatte am 17. Mai seinen Jahresbericht veröffentlicht.

Gazastreifen

Im Januar 2023 störten palästinensische Sicherheitskräfte Workshops, die eine Frauengruppe in Gaza-Stadt für Journalist*innen und Studierende organisiert hatte. Zeug*innen erklärten gegenüber der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats, die Polizei habe die Teilnehmer*innen verhört, weil sie gegen die Vorschriften zur Geschlechtertrennung verstoßen hätten, und sie gezwungen, "Moralverpflichtungen" zu unterschreiben. 

Willkürliche Inhaftierung

Nach Angaben der offiziellen palästinensischen Menschenrechtskommission (Independent Commission for Human Rights – ICHR) waren 2023 im Westjordanland 235 und im Gazastreifen 61 Palästinenser*innen willkürlich inhaftiert. Für den Gazastreifen lagen allerdings ab Oktober 2023 keine Angaben mehr vor. 

Im Westjordanland wurden nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Lawyers for Justice im Juni und Juli 2023 mindestens 20 Journalisten, politische Aktivisten und Anwälte willkürlich festgenommen. Man warf ihnen vor, die palästinensischen Behörden diffamiert, ethnische Konflikte geschürt und den Präsidenten verleumdet zu haben. 

Das Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Tod des Regierungskritikers Nizar Banat, der 2021 im Westjordanland in Gewahrsam gestorben war, war von bürokratischen Verzögerungen und der Einschüchterung von Zeug*innen geprägt und machte keine Fortschritte. 

Folter und andere Misshandlungen

Bei der ICHR gingen 94 Beschwerden wegen Folter und anderen Misshandlungen in palästinensischen Haftanstalten im Westjordanland ein, 86 weitere betrafen Hafteinrichtungen im Gazastreifen. 

Am 23. Mai 2023 nahmen palästinensische Sicherheitskräfte in Hebron im Westjordanland 22 Palästinenser willkürlich fest. Nach Angaben von Lawyers for Justice wurden alle gefoltert. Fünf von ihnen mussten anschließend im Krankenhaus behandelt werden, wie ihre Familien mitteilten. 

Rechtswidrige Tötungen

Am 8. April 2023 töteten Mitglieder einer bewaffneten palästinensischen Gruppe in der Stadt Nablus im Norden des Westjordanlands einen Mann, den sie verdächtigten, für den israelischen Geheimdienst zu arbeiten. Es war die erste Tötung eines mutmaßlichen "Kollaborateurs" seit fast 20 Jahren. Am 24. November 2023 töteten Mitglieder einer bewaffneten Gruppe im Flüchtlingslager Tulkarem westlich von Nablus öffentlich zwei palästinensische Männer, die sie als "Kollaborateure" bezeichneten. Die palästinensische Polizei nahm in beiden Fällen keine Festnahmen vor.

Im Gazastreifen trieben bewaffnete Männer, die mit der Hamas in Verbindung standen, am 21. November 2023 etwa ein Dutzend Männer zusammen, denen sie vorwarfen, für die israelischen Sicherheitskräfte zu arbeiten, und töteten sie summarisch.

Todesstrafe

Nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al Mezan verhängten die palästinensischen Behörden im Gazastreifen 2023 erneut Todesurteile. Am 7. Oktober wurden Gefangene, die wegen "Kollaboration mit dem Feind" zum Tode verurteilt worden waren, hingerichtet.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen hatten weiterhin nicht die gleichen Rechte wie Männer, weil sich das Personenstandsrecht nach dem religiösen Recht richtete. Nach Angaben der palästinensischen Statistikbehörde erlitten 59 Prozent der verheirateten Frauen und Mädchen Gewalt durch ihren Ehemann. Das Frauenzentrum für Rechtshilfe und Beratung (Women’s Centre for Legal Aid and Counselling) ging davon aus, dass die Zahl für 2023 infolge der Konflikte und Notlagen noch steigen könnte. Weniger als 2 Prozent der Opfer häuslicher Gewalt erstatteten Anzeige bei der Polizei, und von diesen Fällen wurden lediglich 40 Prozent untersucht, wie die NGO Palestinian Initiative for the Promotion of Global Dialogue and Democracy mitteilte.

Am 5. Januar 2023 nahmen Sicherheitskräfte der Hamas die Schwestern Wissam und Fatimah al-Tawil ohne Angabe von Gründen in einer Notunterkunft für Frauen im Gazastreifen fest. Sie waren dorthin geflohen, nachdem ihr Vater sie wiederholt misshandelt hatte. Die Sicherheitskräfte übergaben die beiden Frauen ihrem Onkel väterlicherseits, der sie zum Haus ihres Vaters in Rafah im Süden des Gazastreifens fuhr. Danach hörte man nichts mehr von ihnen, weil ihr Vater sie gefangen hielt. 

Am 25. September 2023 eröffnete die palästinensische Polizei in Zusammenarbeit mit UN-Organisationen in Hebron ein Büro zur Untersuchung und Verfolgung von häuslicher Gewalt, nachdem ein ähnliches Büro bereits in Nablus eröffnet worden war.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen waren im Gazastreifen nach wie vor strafbar. Die rechtliche Grundlage dafür war eine britische Mandatsverordnung aus dem Jahr 1936.

Im September 2023 veröffentlichte das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) einen Leitfaden für sein Personal zur Gleichbehandlung aller Geschlechter und LGBTI+. Die Hamas-Behörden verurteilten den Leitfaden, weil er ihrer Ansicht nach "Abweichung und moralischen Verfall" förderte.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Die palästinensischen Behörden im Westjordanland verfehlten ihr Ziel, 30 Prozent des Hausmülls wiederzuverwerten. Nach Angaben der palästinensischen Statistikbehörde fiel sehr viel Müll an: pro Tag 1 Kilogramm pro Kopf. Laut der Heinrich-Böll-Stiftung, einer politischen Stiftung der Partei Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland, wurden weniger als 10 Prozent des Plastikabfalls recycelt, und ein Drittel des Hausmülls landete auf informellen, unregulierten Deponien.

Weitere Artikel