Aktuell Blog Deutschland 23. Januar 2024

Kunst und Proteste: Wir stehen auf. Nicht zum ersten Mal, aber umso sichtbarer.

Das Bild zeigt eine große Menge von Menschen mit Protestplakaten

Protest gegen Rassismus, Hass und Hetze am 21. Januar 2024 vor dem Reichstag in Berlin

MARYAM.fyi schreibt in diesem Beitrag, was sie angesichts der aktuellen Proteste gegen menschenverachtende Hetze bewegt, was sie kritisch sieht und was ihr Hoffnung macht.

Mein Name ist MARYAM.fyi. Ich bin Pop-Musikerin, Iranerin und Deutsche. Ich lebe als Künstlerin in einem Land, in dem mein Anderssein der Aspekt sein soll, der mir meine Heimat abspricht? Die Heimat, in der mein Vater seine zweite Heimat gefunden hat, nachdem er Ende der 1970er Jahre den Iran verlassen hatte? Die Heimat, in der ich mit dem Wunsch nach Veränderung und Gerechtigkeit aufgewachsen bin und in der ich immer noch davon träume, sie zu verändern?

Das sind Zusammenhänge, die sich für mich nicht logisch verknüpfen lassen.

In den vergangenen Wochen haben in Deutschland endlich im großen Rahmen Demonstrationen gegen den Faschismus stattgefunden. In den vergangenen eineinhalb Jahren hatte ich mich langsam daran gewöhnt, regelmäßig auf Demos für die Freiheit der Menschen im Iran zu gehen. Ich habe gelernt zu verstehen, wie sehr ich in diesem Rahmen meine Stimme, wortwörtlich, einsetzen kann. Als Sängerin freue ich mich, dass meine Stimme gehört wird. Aber ich habe auch gelernt, dass meine Stimme viel weiter reichen kann, als nur bis ans Ende eines Raumes. Und dieses Gefühl lässt mich nicht mehr los.

Das Bewusstsein für meine Freiheit, für die Möglichkeit, ohne Gefahr ins Mikrofon sprechen und singen zu können, trage ich mit mir umher und ich fühle mich verantwortlich. In einer Mischung aus Druck, Hoffnung, Mut, Hilflosigkeit und Wut bewege ich mich durch die Tage und suche nach einem roten Faden, an den man anknüpfen kann. 

Als ich neulich in München durch die Ludwigstraße zum Siegestor lief, sah ich andere Menschen, als ich sie von den Iran-Demos kannte. Vorwiegend sah ich weiße Deutsche jeden Alters. Ich frage mich, ob dies der Moment ist, in dem ein "WIR" entsteht? Zweifelnd ging ich weiter. An einer Ecke sah ich Jugendliche mit großen Lautsprechern, die Sekt tranken. An der nächsten warf ein Schwarzer Mann den Organisator*innen der Demonstration Rassismus vor. 

Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau mit einem Mikrofon

Die deutsch-iranische Musiker MARYAM.fyi (undatiertes Foto)

Diese großen Demonstrationen sind nicht das, was mir als erstes unter solidarischem Protest eingefallen wäre. Und doch findet hier Solidarität statt. Ich bin überrascht und ermutigt, dass sich so viele Menschen emotional so stark angesprochen fühlen, dass sie ihre Wohnzimmer und auch ihre Komfortzonen verlassen. Ermutigung, die auch auf jahrelange Abstumpfung und Enttäuschung trifft, wenn es um menschlichen Zusammenhalt jenseits von weißer Hautfarbe und deutscher Sprache geht. 

Seit Jahren wünschen sich migrantisch-deutsche Menschen diese Form des Aufstehens. Wo waren all diese Menschenmassen nach Hanau? Wie offen sind die weißen Deutschen, die sich jetzt gegen den Faschismus zusammenfinden, wirklich? Verstehen "sie" die Dimension dessen, wie tief Faschismus in unserer Mitte verankert ist und wissen "sie", dass gerade erst etwas anfängt und nicht schon zu Ende gebracht wird?

Bevor ich auf eine Bühne gehe, wie am 14. Januar auf dem Pariser Platz in Berlin, versuche ich, meine Zweifel und Fragen abzuschütteln: 

Was jetzt passiert, ist gut. Es ist wichtig. Die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums ist kurz und meine Redezeit begrenzt. 

Es lohnt sich nicht, jetzt Ressentiments und Hass zu schüren, und irgendwie möchte ich alle Anwesenden abholen. 

Das Gefühl, Menschen zu bewegen, ihnen Mut zu machen, ist mein Motor und gibt mir Hoffnung. Zusammenhalt, Liebe, Sicherheit. Das sind die Gefühle, die ich verbinde, wenn ich sehe, wie wir bei Demonstrationen zusammen stehen, uns in den Armen halten, gemeinsam weinen und laut Parolen rufen.

Ich wünsche mir, dass unser Bewusstsein für die Mitgestaltung und den Erhalt der Demokratie wieder geschärft wird und wächst. Ich wünsche mir Politiker*innen, die Solidarität auch als Mensch spüren und zu leben versuchen - die sich als Teil des "Wir" verstehen und das Privileg der Freiheit anerkennen.

Freiheit endet nicht an Grenzen, sondern beginnt bei uns selbst.  

Instagram-Beitrag von MARYAM.fyi:

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