Tunesien: Oppositionspolitikerin zu Unrecht vor Gericht

Das Bild zeigt das Porträtbild einer Frau, sie zeigt das Victory-Zeichen mit beiden Händen

Die tunesische Oppositionspolitikerin und Rechtsanwältin Abir Moussi (24. Dezember 2022)

Abir Moussi ist seit Oktober 2023 willkürlich inhaftiert. Gegen sie wird auf Grundlage eines drakonischen Cybergesetzes ermittelt, weil sie ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen hat. Die Wahlbehörde hat in vier Fällen ein Verfahren gegen die Oppositionspolitikerin angestrengt, weil sie öffentlich den Wahlprozess kritisiert hatte. Außerdem laufen gegen Abir Moussi zwei weitere Verfahren wegen der Ausübung ihres Rechts auf Versammlungsfreiheit in Verbindung mit zwei von ihrer Partei organisierten Protesten.

Appell an

Präsident
Kais Saied
President of the Republic
Route de la Goulette, Site archéologique de Carthage
TUNESIEN

Sende eine Kopie an

Botschaft der Tunesischen Republik
S.E. Herrn Wacef Chiha
Lindenallee 16
14050 Berlin

Fax: 030-3082 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn

Amnesty fordert:

  • Bitte sorgen Sie dafür, dass Abir Moussi umgehend freigelassen wird und alle Anklagen gegen sie fallen gelassen werden, die allein auf ihrem friedlichen politischen Aktivismus basieren. 
  • Sorgen Sie dafür, dass sie bis zu ihrer Freilassung regelmäßigen Zugang zu ihrer Familie, ihren Rechtsbeiständen und angemessener medizinischer Versorgung erhält und dass ihre Haftbedingungen den internationalen Standards für die Behandlungen von Gefangenen entsprechen. 

Sachlage

Abir Moussi ist Anwältin, Vorsitzende der Partei Parti Destourien Libre (PDL) und eine bekannte politische Gegnerin von Präsident Kais Saied. Von 2019 bis 2021 war sie Parlamentsabgeordnete. Laut PDL-Mitgliedern wollte sie bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2024 kandidieren. Gegen sie wird auf Grundlage des Datenschutzgesetzes und des drakonischen Gesetzeserlasses 2022-54 über Cyberkriminalität ermittelt.

Die Wahlbehörde hat wegen einiger Social-Media-Posts von Abir Moussi in vier Fällen ein Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht in Tunis angestrengt. Hierzu zählen zwei Videos vom Januar 2023, in denen sie die Parlamentswahlen als "manipuliert" bezeichnet hatte, sowie ein am 12. Juni 2023 geteilter offener Brief, in dem sie Präsident Saied scharf kritisierte. Wegen des offenen Briefs wird ihr unter Paragraf 24 des Gesetzeserlasses 2022-54 "Beleidigung eines Amtsträgers und Verbreitung falscher Nachrichten" vorgeworfen. Am 21. Februar 2024 ordnete das erstinstanzliche Gericht in Tunis an, sie in Untersuchungshaft zu nehmen. Gemäß dem Völkerrecht hat Abir Moussi das Recht, Kritik an behördlichen Vorgängen und Staatsbediensteten zu üben, ohne dafür strafrechtlich verfolgt zu werden. 

Gegen Abir Moussi laufen zudem zwei weitere Verfahren in Verbindung mit zwei von ihrer Partei PDL organisierten Protesten. Das erste Verfahren wurde vom Außenministerium gegen sie angestrengt. Grundlage ist eine von der PDL organisierte Demonstration vor dem Ministeriumsgebäude in Tunis im September 2023, die nach Ansicht des Ministeriums die zulässige Höchstdauer für eine Kundgebung überschritten habe. Das zweite Verfahren wurde von der Vereinigung der tunesischen Ulama, einer religiösen Organisation, angestrengt, nachdem die PDL im August 2022 Sitzstreiks vor der Zentrale der Organisation in Tunis organisiert hatte, bei denen Abir Moussi die Vereinigung sowie Präsident Saied und die Wahlbehörde kritisierte. Ihr wird vorgeworfen, falsche Informationen verbreitet zu haben.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Laut einem Brief, der auf ihrer Social-Media-Seite veröffentlicht wurde, hat sich der Gesundheitszustand von Abir Moussi in der Haft verschlechtert und sie leidet an Kopf-, Nacken-, Bein-, Schulter- und Rückenschmerzen. Am 28. November 2023 trat sie in einen 16-tägigen Hungerstreik. Vom 26. bis 28. Januar 2024 nahm sie zwei Tage lang weder Nahrung noch Wasser zu sich, um gegen ihre ungerechtfertigte Inhaftierung zu protestieren. 

Am 24. September veröffentlichte Abir Moussi eine Pressemitteilung, in der sie ihr Interesse äußerte, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen anzutreten. Nur wenige Tage später, am 3. Oktober 2023, wurde sie vor einem zum Komplex des Präsidentenpalastes gehörenden Verwaltungsgebäude festgenommen. Dort hatte sie versucht, bei der zuständigen Behörde Rechtsmittel gegen Präsidialdekrete einzulegen, war aber daran gehindert worden. Abir Moussi protestierte gegen diese willkürliche Behinderung und bestand darauf, vor dem Verwaltungsgebäude stehen zu bleiben und alles live auf Facebook zu streamen. 

Laut Augenzeug*innen und Rechtsbeiständen wurde sie von Sicherheitskräften abgeführt und für zwei Stunden an einen unbekannten Ort gebracht, bevor ihre Rechtsbeistände sie auf der Polizeiwache von La Goulette ausfindig machen konnten, einem Viertel in der Hauptstadt Tunis. Ihre Rechtsbeistände teilten Amnesty International mit, dass Abir Moussi körperliche Verletzungen davongetragen habe, weil die Polizei bei ihrer Festnahme unverhältnismäßige Gewalt angewendet habe. Den Rechtsbeiständen zufolge hatten die Behörden ihnen den Zugang zu ihrer Mandantin während des Polizeiverhörs verweigert, was einen eindeutigen Verstoß gegen ihre Rechte auf ein ordnungsgemäßes Verfahren darstellt. Erst im Anschluss, nachdem sich Abir Moussi bereits 48 Stunden lang in Gewahrsam befunden hatte, wurden sie über die Entscheidung der Staatsanwaltschaft informiert, sie in Untersuchungshaft zu nehmen. Ihren Angaben zufolge ignorierten die Beamt*innen, die Abir Moussi in ihrer ersten Nacht in Gewahrsam festhielten, deren Bitten um Medikamente, die sie täglich zu einer bestimmten Zeit einnehmen muss. Dies führte zu gesundheitlichen Komplikationen, aufgrund derer sie einige Tage später ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Am 5. Oktober wurde Abir Moussi vor dem erstinstanzlichen Gericht in Tunis wegen des Vorwurfs der Absicht, "die Staatsform zu ändern", der "Anstiftung zur Gewalt auf tunesischem Hoheitsgebiet" und des "Angriffs mit dem Ziel, Unruhe zu stiften" gemäß Paragraf 72 des Strafgesetzbuchs vernommen. Außerdem wurden ihr die "Verarbeitung personenbezogener Daten ohne Zustimmung der betroffenen Person" und die "Beeinträchtigung des Rechts auf Arbeit" gemäß Paragraf 27 und 87 des Datenschutzgesetzes vorgeworfen. Laut Abir Moussis Rechtsbeistand wurden die Anklagen unter Paragraf 72 am 30. Januar 2024 fallengelassen.

Am 25. Juli 2021 hatte Präsident Kais Saied das Parlament aufgelöst und sich dabei auf Notstandsbefugnisse aus der Verfassung von 2014 berufen. Seit Februar 2023, als mehrere Oppositionelle ins Visier genommen wurden, hat sich die Lage der Menschenrechte in Tunesien rapide verschlechtert. Die Behörden haben gegen mindestens 74 Oppositionelle und andere vermeintliche Gegner*innen des Präsidenten strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Darunter befinden sich mindestens 44 Personen, denen in Verbindung mit der friedlichen Wahrnehmung ihrer Menschenrechte Straftaten vorgeworfen werden. 

Fortsetzung (Auf Englisch)

The UN Human Rights Committee states in General Comment 34 that "when a state party imposes restrictions on the exercise of freedom of expression, these may not put in jeopardy the right itself." Restrictions which do not comply with this test violate freedom of expression even where there is no resulting penalty. They violate not only the right to freedom of expression of those people on whom the restriction is imposed, but also the right of others to receive information and ideas. Such restrictions must never include the censorship of criticism of public figures and state officials. In fact, as regard the rights and reputation of others, international human rights law and standards require that public officials tolerate a higher degree of scrutiny and criticism than private individuals. And there should not be more severe penalties for insult or defamation of public officials. In this regard, the UN Human Rights Committee states in General Comment 34 that all public figures are legitimately subject to public criticism, and that there should be no prohibition of criticism of public institutions. The Committee said that in "circumstances of public debate concerning public figures in the political domain and public institutions, the value placed by the Covenant upon uninhibited expression is particularly high. Thus, the mere fact that forms of expression are considered to be insulting to a public figure is not sufficient to justify the imposition of penalties." 

Additionally, according to international law, defamation should be treated as a civil, not a criminal, issue and never punished with a prison term. Public officials or others that seek redress on issues relating to defamation, should do so in a civil court not criminal court. The only purpose of defamation, libel, slander and insult laws must be to protect reputations and not to prevent criticism of governments. The use of defamation laws with the purpose or effect of inhibiting peaceful criticism of government or public officials violates the right to freedom of expression.