Amnesty Journal Iran 07. Dezember 2022

Frau, Leben, Freiheit

Das Bild zeigt zwei Frauen von hinten, sie zeigen das Victory-Zeichen, ein Mann der ihnen entgegenkommt, zeigt ebenso das Victory-Zeichen.

Viele Menschen protestierten in den vergangenen Wochen im Iran gegen Repression und für Freiheit. Vorneweg gehen dabei die Frauen.

Ein Essay von Gilda Sahebi

Sie spielen im Basketball-Nationalteam. Sie sind Schauspielerinnen. Sie sind Transfrauen. Sie sind Mütter. Sie sind Bogenschützinnen. Sie sind Kletterinnen. Sie sind Sängerinnen. Sie sind Ärztinnen. Sie sind Studentinnen. Sie sind überall in der iranischen Gesellschaft: Frauen, die ihr Kopftuch öffentlich ablegen, um für ihre Freiheit und für die Freiheit aller im Iran zu demonstrieren. Sie tun dies in dem Wissen, dass sie dafür inhaftiert, vergewaltigt, misshandelt und getötet werden können. Und sie tun es dennoch.

Seit Mitte September erreichen uns ­jeden Tag Videos, Fotos und Berichte aus dem Iran, die den üblichen Blick infrage stellen, den viele im Westen auf den sogenannten Nahen Osten haben. Beeinflusst von der medialen Berichterstattung, von Einlassungen aus der Politik, von Klischees und Vorurteilen, sah man die Frauen in Ländern wie Iran, Afghanistan oder Irak lange als schwach an, als Menschen, die sich in einem Zustand der Unterwerfung eingerichtet haben.

Jahrelanger Kampf im Verborgenen

Wer aber Verbindungen in die Region hatte, sah etwas anderes und kannte die Netzwerke der Frauen, ihre Stärke und ihre Kämpfe im Alltag, die viele schon seit Jahren oft im Verborgenen führten. Im Iran sind diese Kämpfe nun nicht mehr versteckt: Die Frauen wehren sich offen und mutig gegen die Gewalttätigkeit und Repression des Regimes. Sie kämpfen dabei nicht allein. Viele stehen an ihrer Seite, zahlreiche Männer, die LGBTI-Community, die Kurd*innen, die Belutsch*innen, die Sunnit*innen, die ­Afghan*innen und andere Minderheiten, die in der Islamischen Republik seit Jahrzehnten unterdrückt werden. Eine Frau aus Teheran, die sich seit Beginn an den Protesten beteiligt, schildert ihre Beobachtungen: "Alle sind auf den Straßen. Und die Frauen sind ganz vorne mit dabei. Alle schauen auf die Frauen, denn sie sind die Anführerinnen. Das ist großartig."

Alle schauen auf die Frauen, denn sie sind die Anführerinnen. Das ist großartig.

Demonstrantin
Teheran
Auf einer Straße steigt Rauch von einem Feuer auf, Menschen stehen ringsum und mitten auf der Straße: ein Blumenbouqet.

Um die Wucht des Widerstands und des Kampfs zu verstehen, muss man die Wucht der Unterdrückung kennen. Es wurde bereits viel darüber geschrieben, dass Frauen in Iran rechtlich nur die Hälfte eines Mannes wert sind. Vor Gericht müssen zwei Frauen aussagen, um der Aussage eines Mannes gleichzukommen; bei einem Autounfall erhält die Familie einer Frau nur die Hälfte der Entschädigung, die die Familie eines Mannes bekommt. Frauen können sich nicht einfach scheiden lassen, den Männern steht das Sorgerecht für die Kinder zu. Bekannt ist auch, dass Frauen weder öffentlich singen noch tanzen dürfen, dass sie sich verschleiern und den Kleidervorschriften beugen müssen.

Frauenhass als Staatsdoktrin

Doch was heißt das für den moralischen und gesellschaftlichen Stellenwert eines Frauenlebens? Der Geistliche Sadeq Shirazi drückte es so aus: Gott habe drei Arten von Tieren geschaffen. Zum einen Tiere, die dafür geschaffen wurden, die Menschen zu transportieren, wie Pferde und Kamele. Dann Tiere, die ­erschaffen wurden, um Menschen zu ernähren, wie Ziegen, Schafe und Kühe. Die dritte Art von Tieren seien die Frauen. Wie Ziegen, Schafe und Kühe seien sie geschaffen worden, damit Männer sie benutzen könnten. Gott habe diesen Tieren das Aussehen von Frauen gegeben, damit Männer keine Angst vor ihnen haben müssten.

Shirazi ist im Iran ein bekannter und einflussreicher Kleriker. Sein Blick auf Frauen ist repräsentativ für den Blick der theologischen Fundamen­talisten. Dieser menschenverachtende Blick auf Frauen ist Staatsdoktrin. Er führt dazu, dass Frauen als Objekte gelten und systematischer sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind – ausgeführt von Männern, die trainiert werden, Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden. Im November veröffentlichte der US-Nachrichtensender CNN einen Bericht von der iranisch-irakischen Grenze, in dem eine Frau zu Wort kam, die sexualisierte Gewalt in einem iranischen Gefängnis ­erlebt hatte, bevor sie fliehen konnte. CNN erhielt zudem geleakte Berichte von medizinischem Personal aus Kliniken, in denen Vergewaltigungsopfer behandelt wurden. Die Täter waren staatliche Milizionäre und Beamte.

Frauen werden vom Staat sexualisiert

Der CNN-Bericht schilderte nur einen Bruchteil dessen, was die meisten Menschen im Iran schon seit Beginn der Islamischen Revolution im Jahr 1979 wissen: Frauen werden vom Staat sexualisiert und zu Objekten degradiert. Wenn sie fundamentale Rechte einfordern, gelten sie als "promisk" und "Prostituierte". Ähnlich ist die offizielle Argumentation gegen jegliche Opposition im Gottesstaat: Das Gerede von Freiheitsrechten und universellen Werten sei aus dem Westen importiert und Ausdruck einer verkommenen Sexualmoral. Dies müsse bestraft werden. Frauen, die sich wehren, das Kopftuch abnehmen und "Frau, Leben, Freiheit" rufen, sind aus Sicht der Regierung eben nur "Prostituierte", die vergewaltigt werden müssen. Gottes Gesetz sehe es so vor.

Es ist auch diese perverse Logik der Machthabenden, der sich die Menschen mit der Forderung "Frau, Leben, Freiheit" widersetzen. Denn sie wissen genau, dass der Grad der Freiheit der Frau den Grad der Freiheit aller bestimmt. Deshalb kämpfen auch Männer, die eigentlich Nutznießer dieses Systems sind, mit den Frauen und für sie. So zeigt ein Video, das sich rasch in den Online-Netzwerken verbreitete, einen Mann, der mit einem Strauß Blumen durch die Straßen geht und jeder Frau, die kein Kopftuch trägt, eine Blume schenkt mit den Worten: "Danke, dass du die Stadt mit deinen Haaren schöner machst." Viele Männer haben verstanden: Frauenrechte sind Menschenrechte.

Die iranische Führung und alle Angehörigen des Führungs- und Machtzirkels konnten ihren Frauenhass jahrzehntelang vor den Augen der Welt verstecken. Sie galten als anerkannte Gesprächspartner, als normaler Teil der internationalen Gemeinschaft. Diese Zeiten sind vorbei. Nun kann jede*r die Gewalttaten und die Frauenverachtung des Regimes sehen, auf unzähligen Videos, in zahlreichen ­Berichten. Genauso sichtbar sind aber auch die Frauen, die erhobenen Hauptes "Jin, Jiyan, Azadî" rufen – Frau, Leben, Freiheit.

Gilda Sahebi ist Ärztin, Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Die Autorin auf Twitter.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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