Amnesty Journal Belarus 26. März 2019

Der Schicksalszug in Richtung Polen

Ein Zug fährt über eine Brücke, die über einen Fluss führt.

Über den Bug gelangen tschetschenische Flüchtlinge von Weißrussland in die Europäische Union. Manche von ihnen können dort einen Asylantrag stellen. 

Morgen für Morgen brechen tschetschenische Flüchtlinge aus dem weißrussischen Brest mit dem Zug in Richtung Grenze auf – in der Hoffnung, zu den sogenannten Überlebenden zu gehören, den Auserwählten, den Gewinnern.

Von Bartholomäus von Lafferty (Text) und Moritz Richter und Paul Louis Wagner (Fotos)

Wenn es in Brest in Weißrussland zu dämmern beginnt, die Straßenlaternen noch leuchten und sich der Himmel pink verfärbt, kann man beobachten, wie Dutzende senfgelbe Taxis zum 130 Jahre alten Zentralbahnhof schwirren wie Motten zum Licht. Aus den Autos steigen dann Kinder, Frauen, Männer mit bunten Rucksäcken, Sporttaschen und klappernden Ziehköfferchen.

Fast alle kommen aus Tschetschenien, alle haben an diesem Morgen ein Ziel: den Zug um 6.22 Uhr, der sie hinüberträgt über den Fluss Bug, über die weißrussisch-polnische Grenze, zehn Kilometer weiter nach Terespol, in die Europäische Union. Dort wollen sie einen Asylantrag stellen. 

Nacheinander schieben sich die Familien durch die hohen, hölzernen Schwingtüren der Bahnhofswartehalle in Brest. Wie Spieler vor einem Pferderennen drängen sich die Erwachsenen um die gläsernen Kartenhäuschen, in denen müde, junge Frauen in olivfarbenen Uniformen Bahnfahrkarten verkaufen, als wären es Wettcoupons. Vier Euro kostet die Hinfahrt, vier Euro die Rückfahrt, die man als Tschetschene dazu kaufen muss.

Die Chance, in Polen einen Asylantrag stellen zu dürfen, stehe derzeit bei etwa 1 zu 80, sagt Fatima A. Die 40-Jährige trägt ein marineblaues Kopftuch und eine schwarz gerahmte Brille. In ihrem ernsten Blick spiegelt sich die Sorge um ihre fünf Kinder wider. Neun Jahre ist Kerim, ihr Ältester, die Jüngste, Maria, ist gerade zwei geworden. 

"Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?"

Während sich die Erwachsenen drängen, kauern die Kinder zwischen den kunstvoll geschnitzten Wartebänken, den hohen Säulen aus Marmor, unter der stuckverzierten Decke. Kerim jagt Soldaten über den Bildschirm des Smartphones der Mutter, die zwei jüngeren Mädchen schlafen, die achtjährige Leyla bröselt eine Käsestulle auf ihr rosa T-Shirt, auf dem in weißen Lettern #Anyways geschrieben steht. Der sechsjährige Abdullah steht neben Fatima A. am Schalter und fragt: "Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?"

Es ist der zwölfte Morgen, den sie so verbringen, der zwölfte Morgen, an dem Abdullah fragt, der zwölfte Morgen, an dem die Frau am Schalter im gläsernen Kasten unfreundlich ist: Einmal sechs Personen, macht 48 Euro, Wagen Drei, los, los, beeilen Sie sich, der Zug fährt gleich ab!

Das hat Tradition. Alle Tschetschenen bekommen Wagen Drei. "Refugee-Transport" nennen sie den Waggon in Brest. Schon am Schalter werden die Flüchtlinge von den Touristen ­getrennt. Die muslimisch aussehenden Menschen von allen ­anderen. Die ohne Visa von denen mit. So haben es die Grenzschützer in Polen später leichter, zu entscheiden, wen sie ins Land lassen und wen nicht.

Die Gewinner, die Überlebenden, die Auserwählten

Bis zum Mittag werden die allermeisten Familien wieder in Brest zurück sein. Wahrscheinlich wird auch an diesem Mittag eine Familie fehlen. Die Gewinner, die Auserwählten, die Überlebenden – in Brest gibt es viele Namen für diejenigen, die von den polnischen Grenzschützern ausgewählt wurden, einen Asylantrag stellen zu dürfen.

Wahrscheinlich ist das harte Vorgehen der polnischen Grenzschützer einer der Gründe, warum in Westeuropa kaum jemand von der tschetschenischen Flüchtlingskrise gehört hat, die sich seit fast vier Jahren an der polnischen Grenze abspielt. Die Krise wird einfach aus der EU ausgesperrt: Rund 50 geflüchtete Familien harren derzeit in Brest aus, schätzt die weißrussische Menschenrechtsorganisation Human Constanta, pro Jahr sind es mehrere Hundert. Die wenigsten schaffen es hinüber. 

90 Tage haben die Tschetschenen Zeit, um Weißrussland Richtung EU zu verlassen. So lange dürfen sich russische Pass­inhaber ohne Visum in Weißrussland aufhalten – danach werden sie abgeschoben. Zurück nach Tschetschenien. 

Die Tschetschenen von Brest

Am Rande von Brest steht ein Haus, das kein Rohbau mehr ist, aber außen noch nicht verputzt. Drinnen riecht es nach Kartoffeln und Zwiebeln, nach Menschenschweiß und nach einer ­Toilette, auf deren Boden daumendick der Urin steht. Sechs ­Familien leben hier, 29 Menschen in sieben Zimmern. 

Da ist Patima, 20, aus der tschetschenischen Nachbarprovinz Dagestan, im fünften Monat schwanger, mit ihrem Ehemann Mikhael, 21, der schon frühmorgens eine Wodkafahne hat. Khalid, ein Choleriker, der früher Lastwagen gesteuert hat und heute aus Frust und Traurigkeit seine eigenen Kinder und die der Mitbewohner schlägt.

Und da ist Fatima A., die immer wieder sagt, dass sie sich das gar nicht vorstellen kann, dass all das ­gerade wirklich passiert, weil man sich eine Geschichte wie die ihre allerhöchstens ausdenken könne, aber wahr sein könne sie nicht.

"Man sagt ja: Nirgends ist es besser als daheim. In Deutschland aber war es besser."

"Ich habe viele Jahre in Deutschland gelebt, und ich hatte eine gute Beziehung zu den Leuten dort, zu meinen Vorgesetzten, den Lehrern, den Betreuern", sagt sie. "Viele Leute haben mir geholfen. Man sagt ja: Nirgends ist es besser als daheim. In Deutschland aber war es besser."

Doch eines Nachts gegen zwei Uhr morgens hätten Polizisten in Uniform die Tür ihrer Wohnung geöffnet. "Meine Kinder wachten auf und bekamen Angst", erinnert sie sich an den Beginn ihrer Abschiebung. "Ich verstand nicht, was los war. Ich dachte, es liegt ein Missverständnis vor, sie haben sich in der Adresse geirrt. Wie konnte das passieren? Wenn eine Person das Gesetz bricht, dann ist die Abschiebung gerecht, aber wenn man nichts getan hat … Ich dachte nur: Wen sucht ihr? Irrt ihr euch nicht?"

Die Polizisten irrten sich nicht. Fast fünf Jahre hatte Fatima A. mit ihrer Familie in einer kleinen Ortschaft in Baden-Württemberg in der Nähe des Städtchens Wehr gleich hinter der Schweizer Grenze gelebt. Die älteren Kinder gingen zur Schule, die jüngeren in den Kindergarten, als im Frühjahr 2018 der Abschiebebescheid kam. Der Vater hatte die Familie da schon verlassen. Er sei nach Frankreich gegangen, glaubt Fatima A., abgeschoben nach Moskau wurden nur sie und die fünf Kinder. 

Warum sie Tschetschenien vor fünf Jahren verlassen hat, will sie im Detail nicht sagen. Wie viele Tschetschenen in Brest hat sie Angst vor tschetschenischen Spitzeln und davor, dass jemand aus ihrer Heimatstadt ihren Aufenthaltsort erfährt. Nur so viel: Ihr Mann sei als Oppositioneller in ernsthafter Gefahr gewesen. Und: der Abschiebebescheid, das glaubt sie bis heute, muss eine Verwechslung gewesen sein.

Ihre Geschichte ist eine von Dutzend Fluchtgeschichten, die uns Tschetschenen in Brest erzählen. Neun Jahre nach dem Ende des Bürgerkrieges lässt der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow Oppositionelle, Islamisten, Homosexuelle und solche, die er dafür hält, verfolgen, einsperren und foltern. Andere flüchten davor, ihren Dienst im russischen Militär in Syrien ableisten zu müssen. Viele Frauen versuchen, einer zutiefst traditionellen und patriarchalen Gesellschaft zu entkommen, in der Zwangs- und Kinderehen und Blutrache zum Alltag gehören. 

Zermürbendes Ritual in Terespol

Jeden Morgen um 7.40 Uhr, 18 Minuten, nachdem sie in Brest in Wagen Drei gestiegen sind, plus eine Stunde Zeitverschiebung, kommen die tschetschenischen Flüchtlinge in Polen an. Genauer gesagt: am Bahnhof in Terespol. Denn nach Ansicht der polnischen Grenzschutzbeamten beginnt Polen erst hinter der Grenzkontrolle. 

Tag für Tag vollzieht sich hier ein über Jahre einstudiertes ­Ritual. Zuerst dürfen die Menschen aus den Waggons Eins und Zwei den Zug verlassen, und erst wenn die Passagiere abgefertigt sind, nach 30 Minuten etwa, öffnen sich die Türen von Wagen Drei, dem "Refugee-Waggon".

Dann drängen sich die Menschen durch den schlauchartigen Gang bis zu den Passkontrollhäuschen am Eingang der Wartehalle des Bahnhofs. Manchmal werden sie von den Grenzschützern gefragt, warum sie nach Polen gekommen sind – in den meisten Fällen werden sie jedoch aufgefordert, sich in der Ankunftshalle niederzulassen, um auf den Mittagszug zurück nach Weißrussland zu warten. Jeden Tag würden eine, in seltenen Fällen zwei Familien ausgewählt, denen man erlaubt, einen Asylantrag zu stellen. 

"Geht es nach dem Gesetz, ist das Vorgehen der Grenzpolizisten in Polen natürlich illegal"

Viktoria Radchuk kennt das Procedere gut aus den Erzählungen ihrer Klienten. Die 32-jährige Rechtsanwältin hat über ein Jahr für die weißrussische NGO Human Constanta gearbeitet, die Rechtsberatung für Flüchtlinge in Brest anbietet. "Geht es nach dem Gesetz, ist das Vorgehen der Grenzpolizisten in Polen natürlich illegal", sagt sie.

Es gibt internationale Konventionen, wonach eine Person, die die Absicht hat, in einem Land um politisches Asyl zu bitten, das Recht hat, über die Grenze zu gehen. Es darf nicht sein, dass die Grenzpolizei darüber entscheidet, wer einen Asylantrag stellen darf und wer nicht."

Seit die rechts-konservative PiS 2015 die Regierung übernahm, hat sich die Situation an der Grenze weiter verschlimmert. Aleksandra Chrzanowska arbeitet in der Association for Legal Intervention in Warschau, dem polnischen Pendant zu ­Human Constanta. Seit 2015 beobachtet die Organisation das Vorgehen der polnischen Grenzschützer in Terespol und schreitet ein, wenn es möglich ist.

"Seit dem Sommer 2016 haben wir nicht mehr erfolgreich interveniert. Das war der Zeitpunkt, als die PiS-Regierung ihre Arbeit richtig aufgenommen hat. Im Wahlkampf hatte die Partei gegen Flüchtlinge gehetzt – jetzt musste sie zeigen, dass sie auch keine mehr ins Land ließ."

Grenzpolizei weist Vorwürfe zurück

Im August 2016 sagte der neue polnische Innenminister Mariusz Błaszczak in einem Interview, es gebe in Tschetschenien keinen Krieg mehr, daher sei der Weg über Weißrussland nach Polen lediglich eine neue Migrationsroute für Muslime nach Westeuropa. "Solange ich Innenminister bin und Polen von Recht und Gerechtigkeit regiert wird, werden wir Polen keiner terroristischen Bedrohung aussetzen."

Die polnische Grenzpolizei weist alle Vorwürfe, illegal gegen Asylsuchende vorzugehen, zurück. Tatsächlich berichten tsche­tschenische Asylsuchende in Brest immer wieder davon, dass die polnischen Grenzpolizisten sie in informellen – da sie für ­offizielle Asylinterviews nicht bevollmächtigt sind – Interviews gefragt hätten, ob sie Verwandte in Europa hätten oder irgendwann einmal vorhätten, in der EU zu arbeiten. 

Für die Menschenrechtsorganisationen in Polen und Weißrussland ist es derweil schwer, an Beweismaterial zu kommen, da unbeteiligte Beobachter und selbst Anwälte bei den Kontrollen an der Grenze nicht dabei sein dürfen – aus "Datenschutzgründen", wie der Sprecher der Grenzpolizei schreibt. 

Es steht Aussage gegen Aussage: Die Asylsuchenden sagen, ihre Bitte um internationalen Schutz sei von den Grenzpolizisten ignoriert und abgewiesen worden. Die Grenzpolizisten erklären, diese Bitten gebe es gar nicht. 

Immer wieder abgewiesen

In Brest versuchen Fatima A. und ihre Mitbewohner das Haus am Stadtrand möglichst selten zu verlassen. Wenn doch, dann blicken sie hektisch nach links, nach rechts und über die Schulter, als würden sie verfolgt. Wann immer wir Tschetschenen zum Interview treffen, machen sie zur Bedingung, dass wir ihre Namen und Herkunftsorte nicht nennen.

Es gibt eine allgegenwärtige Angst, die größer ist als die Angst vor dem Urteil der Grenzschützer in Polen. Es ist die Angst vor der Sicherheitstruppe des tschetschenischen Präsidenten, den sogenannten Kadyrowzy, die für zahlreiche Fälle von Mord und Folter von Regierungsgegnern verantwortlich gemacht werden. 

Auch Fatima A. ist angespannt, die Sorgenfalten in ihrem Gesicht scheinen an diesem Tag noch tiefer, die Augenringe noch dunkler als sonst. Am Vortag hat sie einen Brief der weißrussischen Ausländerbehörde bekommen, der sie dazu auffordert, das Land innerhalb der nächsten zehn Tage zu verlassen und nach Tschetschenien zurück­zukehren. Sie will von nun an jeden Morgen den Zug nehmen. Keine Pause. 

"Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?"

Das heißt weitere zehn Tage um fünf Uhr aufstehen, wettcoupongleiche Fahrkarten kaufen bei einer uniformierten Frau, die unfreundlich sein wird. Zehnmal Warten in der Halle mit den riesigen Marmorsäulen. Die Töchter werden wieder schlafen, Kerim wird virtuelle Soldaten über den Smartphonebildschirm jagen, zehnmal wird Abdullah fragen: "Mama, fahren wir heute zurück nach Deutschland?" 

Dann piepst es, die hohe, hölzerne Schwingtür zum Bahnsteig öffnet sich, die Schaffnerin von Wagen Drei wünscht auf Russisch "Gute Fahrt und bis später!" – "Nix später, heute Mittag kommen wir nicht mehr zurück", schimpft Fatima A. auf Deutsch.

An diesem Morgen begleiten wir Fatima A. im Zug von Brest nach Terespol. Sie hat meine Fahrkarten besorgt, da ich selbst keine für Wagen Drei, den "Refugee-Transport", erhalten hatte. Es ist ihr dreizehnter Versuch. 18 Minuten sitzen wir nebeneinander auf den Pritschen der Bahn, die noch aus Sowjetzeiten stammt, sehen hinter den weißen Spitzengardinen die burgähnliche Fassade des Zentralbahnhofs von Brest verschwinden. Angespannt schweigen die Erwachsenen, selbstvergessen plappern die Kinder.

30 Minuten warten wir am Bahnhof in Terespol, bis sich die Türen von Wagen Drei öffnen, wir durch den schlauchförmigen Gang in die Wartehalle gehen dürfen, wo man unsere Pässe und Visa kontrolliert. Ich stehe neben Fatima A., als sie dem polnischen Grenzbeamten auf Russisch mehrmals hintereinander sagt, sie wolle in Polen Asyl beantragen. Die Beamten ignorieren das, fragen stattdessen mich nach meinem Pass, stempeln ihn und schieben mich vor die Tür. Ein letztes Mal sehe ich Fatima A. durch die verspiegelten Glasscheiben der Wartehalle in Terespol. 

Mit dem Mittagszug nach Weißrussland

Am selben Abend bekomme ich von Fatima A. eine SMS. Sie schreibt, dass sie mit dem Mittagszug nach Weißrussland zurückgeschickt worden sei. Nur eine schwangere Frau, die ohnmächtig geworden war, und deren Mann hätten sie dabehalten. Und das, obwohl sie auf polnischem Boden, auf EU-Boden, ge­gen­über einem polnischen Grenzbeamten ihren Willen geäußert hatte, in der EU Asyl zu beantragen. 

Inzwischen ist Fatima A. zurückgekehrt nach Tschetschenien. Ihr 90-Tage-Aufenthalt für Weißrussland war abgelaufen. Sie verstecke sich in einer Wohnung von Verwandten, die Kinder gingen nicht zur Schule, das sei zu riskant, teilte sie über einen Messenger-Dienst mit. Über einen Bekannten habe sie erfahren, dass es Schlepper gebe, die einen für 4.000 Euro pro Person von Weißrussland nach Deutschland brächten. Sie könne sich das nicht leisten, deshalb werde sie bald zum dritten Mal mit ihren fünf Kindern nach Brest reisen, erneut in den Zug nach Terespol steigen und hoffen, dass die Grenzpolizisten ihr zuhören. Nur ein einziges Mal.

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