Aktuell 12. Oktober 2023

Israel: Palästinensische bewaffnete Gruppen müssen für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden

Das Bild zeigt ein zerstörtes Auto und ein Kinderwagen

+++ Hinweis: Die Angaben zu Toten und Verletzten in diesem Text spiegeln den Informationsstand vom 12. Oktober 2023 um 11 Uhr wider. +++

Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen haben in eklatanter Weise gegen das Völkerrecht verstoßen. Mit grausamen und brutalen Verbrechen wie Massenmorden, Geiselnahmen und wahllosen Raketenangriffen auf Israel haben diese Gruppen eine schockierende  Missachtung menschlichen Lebens an den Tag gelegt. Während im Süden Israels immer neue Beweise für die begangenen Gräueltaten auftauchen, setzt Amnesty International die Untersuchungen fort, um das gesamte Ausmaß der völkerrechtlichen Verbrechen zu ermitteln.  

 

Seit Beginn der Angriffe am frühen Morgen des 7. Oktober wurden in Israel mehr als 1.200 Menschen – überwiegend Zivilpersonen, darunter auch zahlreiche Kinder – getötet und mindestens 2.400 weitere verletzt. Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen zerstörten in großem Ausmaß zivile Infrastruktur wie etwa Wohngebäude. Im Rahmen der daraufhin begonnenen israelischen Militäroperation wurden mindestens 1.200 Menschen, darunter auch zahlreiche Kinder, im Gazastreifen getötet. Die kürzlich verschärfte Blockade, durch die die Versorgung mit Wasser, Strom, Lebensmitteln und Treibstoff vollständig unterbrochen wurde, verschlimmert die ohnehin schon katastrophale humanitäre Krise im Gazastreifen. Die israelische Blockade kommt einer kollektiven Bestrafung gleich, die ein Kriegsverbrechen darstellt.

Das vom Crisis Evidence Lab von Amnesty International analysierte Videomaterial zeigt, wie palästinensische bewaffnete Kämpfer am ersten Tag der Angriffe gezielt auf Zivilpersonen schießen und diese als Geiseln nehmen. Bei einem schockierenden Angriff auf das israelische Nova-Musikfestival, das nahe der Grenze zum Gazastreifen stattfand, wurden mindestens 260  Zivilpersonen getötet, zahlreiche andere werden weiterhin vermisst.

"Massaker an der Zivilbevölkerung sind ein Kriegsverbrechen. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für diese grausame Gewalt! Wir haben schockierende Videos überprüft, auf denen zu sehen ist, wie bewaffnete Männer auf Zivilpersonen schießen und Menschen als Geiseln verschleppen. Ein verstörendes Video zeigt, wie bewaffnete Männer eine Frau durch das Zentrum von Gaza treiben –ein Albtraum. Alle entführten Zivilpersonen, unter denen sich auch zahlreiche Kinder befinden, , müssen sofort freigelassen werden. Die begangenen Verbrechen müssen vom Internationalen Strafgerichtshof untersucht werden", sagte Katja Müller-Fahlbusch, Referentin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

 

Die Angriffe auf Israel begannen mit einem wahllosen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, gefolgt von einem massiven Einmarsch der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen in Israel. Tausende von Raketen schlugen in mehreren Gebieten in Zentral- und Südisrael ein, sie erreichten sogar Tel Aviv. Bei diesen rechtswidrigen Angriffen wurden sowohl Israelis als auch Palästinenser*innen getötet. Auch informelle palästinensische Dörfer in der Negev/Naqab-Region waren betroffen. Dort wurden mindestens sechs Zivilpersonen getötet, darunter fünf Kinder. Die Situation der dortigen vernachlässigten Gemeinden ist prekär, so haben die Anwohner*innen keinen Zugang zu Schutzräumen.

Zusätzlich zu den grausamen Tötungen von Zivilpersonen an zahlreichen Orten im Süden Israels wurden nach Angaben israelischer Behörden mindestens 150 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, darunter auch Kinder und ausländische Staatsangehörige.

Die Entführung von Zivilpersonen ist nach dem Völkerrecht unter allen Umständen verboten und Geiselnahmen stellen ein Kriegsverbrechen dar. Alle Zivilpersonen, die von den bewaffneten palästinensischen Gruppen als Geiseln genommen wurden, müssen sofort und bedingungslos  freigelassen werden. Alle Gefangenen müssen im Einklang mit dem Völkerrecht menschenwürdig behandelt werden und medizinische Versorgung erhalten.

 

Von Amnesty International verifizierte Videos zeigen, wie bewaffnete Kämpfer der Hamas am 7. Oktober in und um israelische Wohngebiete in der Nähe des Gazastreifens gezielt Zivilpersonen entführen und töten.

Ein Video zeigt beispielsweise zwei Männer in Militärkleidung, die aus nächster Nähe auf ein Auto schießen und den Fahrer und zwei Insassen töten. Dann dringen sie in den Kibbuz ein. Auf weiterem Filmmaterial ist zu sehen, wie die Leichen der drei Getöteten von zwei weiteren bewaffneten Männern in einem Auto weggefahren werden.  Die Aufnahmen stammen aus dem Kibbuz Be’eri, in dem über 100 Zivilpersonen getötet wurden.

Ein anderes Video, das offensichtlich später an diesem Tag aufgenommen wurde, zeigt sechs Männer in Militärkleidung, die vier Zivilpersonen mit auf dem Rücken gefesselten Händen abführen. In einem anderen Video, das denselben Ort zeigt, sind die leblosen Körper dieser Zivilpersonen zu sehen. Amnesty International verifizierte weitere Videos mit ähnlich schockierendem Inhalt, die im Kfar Aza Kibbuz, im Re'im Kibbuz und entlang der Straße 232 aufgenommen wurden. Diese zeigen, wie bewaffnete Männer aus nächster Nähe auf Autos und auf eine Zivilperson schießen, die versuchte, sich in einem Luftschutzkeller zu verstecken.

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Der Angriff auf das Nova-Musikfestival

Der Angriff auf das Nova-Musikfestival, das nahe der Grenze zum Gazastreifen stattfand, ist besonders grausam und schockierend : Hier töteten die Hamas-Kämpfer mindestens 260 junge Menschen, die den Rave besucht hatten. Der Angriff auf das Festival begann gegen 7:00 oder 7:30 Uhr mit einem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen, anschließend stürmten die Kämpfer der bewaffneten Gruppen das Festivalgelände. Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International konnte Ort und Zeit von 18 Videos verifizieren, die hauptsächlich von Überlebenden aufgenommen wurden. Mindestens eines der Videos scheint jedoch von Mitgliedern der beteiligten bewaffneten Gruppen gefilmt worden zu sein.

Sieben verifizierte Videos zeigen bewaffnete Männer, die auf Zivilpersonen schießen, während im Hintergrund ununterbrochen Schüsse zu hören sind. Fünf Videos zeigen, wie Menschen versuchen zu fliehen, unter anderem über ein nahe gelegenes Feld oder indem sie sich hinter Büschen verstecken. In einem Video schießt ein bewaffneter Mann direkt auf eine am Boden liegende Zivilperson. In einem anderen Video schießen bewaffnete Männer direkt auf Autos, die versuchen, vom Festivalgelände zu entkommen. Fünf Videos zeigen, wie Menschen als Geiseln genommen werden.

Amnesty International sprach mit einem 22-jährigen Überlebenden. Dieser rannte sofort nach Beginn des Angriffs in ein Waldgebiet, grub mit den Händen ein Loch zwischen den Bäumen und legte sich hinein. Dabei nutzte er alles, was er finden konnte, um seinen Körper zu bedecken. Er blieb dort sechs Stunden lang, während derer er ständig Schüsse hörte. Einmal hob er seinen Kopf und sah, wie die Angreifer fliehenden Menschen in den Rücken schossen.

"Dann konnte ich sehen, dass sie überall Benzin verschütteten, um das Gebiet zu verbrennen, ich konnte das Feuer hören und riechen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich keine Wahl hatte: entweder ich komme heraus und werde erschossen, oder ich werde in diesem Versteck verbrannt. Ich kann nachts nicht schlafen, und ich kann nicht allein sein. Jedes Mal, wenn ich versuche, meine Augen zu schließen, erinnere ich mich an diese schrecklichen Szenen – überall Leichen, Menschen, die in brennenden Autos feststecken, der Geruch von Blut", sagte er.

Yaacov Argamani, dessen Tochter Noa als Geisel genommen wurde, berichtete, wie er sich am Samstagmorgen Sorgen gemacht hatte, als er Sirenen hörte und Noa nicht erreichen konnte. Er sagte: "Ich habe gefühlt, dass was nicht stimmte. Ich hatte ein schlechtes Gefühl. Ich kann es nicht erklären, ich bin ein Vater, und Sie wissen ja, wenn Eltern etwas Schlimmes empfinden, kann man das nicht erklären. Also habe ich versucht, sie zu erreichen, aber vergeblich."

Yaacov suchte seine Tochter in verschiedenen Krankenhäusern, aber es gab keine Spur von ihr. Später erhielt er einen Anruf von jemandem, der sagte, er habe in einem Video gesehen, dass Noa auf einem Motorrad in den Gazastreifen gebracht worden sei. Yaacov sagte zu Amnesty International: "Ich konnte es nicht glauben. Ich habe es erst geglaubt, als ich später weitere Videos sah, auf denen sie auf einem Motorrad und ihr Freund in einem anderen Fahrzeug neben ihr zu sehen waren, wie sie in den Gazastreifen gebracht wurden. Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken."

Forderungen  von Amnesty International

Amnesty International fordert die bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza auf, unverzüglich und bedingungslos alle als Geiseln genommenen Zivilpersonen freizulassen.

Amnesty International fordert die bewaffneten palästinensischen Gruppen sowie die israelischen Behörden auf, das humanitäre Völkerrecht vollumfänglich einzuhalten, das umfasst insbesondere die Wahrung von Menschlichkeit bei Kampfhandlungen und das Ergreifen notwendiger Maßnahmen zum Schutz von Zivilpersonen und von ziviler Infrastruktur.

Amnesty International fordert die internationale Gemeinschaft auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Menschenrechte von Israelis und von Palästinenser*innen geschützt werden und um zu garantieren, dass den Opfern Gerechtigkeit und Entschädigung zuteil kommt.

Rechtlicher Rahmen

Das humanitäre Völkerrecht gilt in bewaffneten Konflikten und verpflichtet alle Konfliktparteien, die Zivilbevölkerung zu schützen und das menschliche Leid im Krieg zu verringern. Die Hamas und andere palästinensische bewaffnete Gruppen unterliegen den Regeln für die Durchführung von Kampfhandlungen, wie sie auch im humanitären Völkergewohnheitsrecht festgelegt sind. Von besonderer Bedeutung im hier untersuchten Kontext ist das Verbot direkter Angriffe auf Zivilpersonen, von Mord, Geiselnahme und wahllosen Angriffen. Diese Regeln gelten gleichermaßen für die israelischen Streitkräfte.

Es ist ein Kardinalprinzip des humanitären Völkerrechts, dass Konfliktparteien niemals Angriffe gegen Zivilpersonen richten dürfen und alle möglichen Maßnahmen ergreifen müssen, um Schäden an der Zivilbevölkerung und an der zivilen Infrastruktur zu verhindern.

Wahllose Angriffe, einschließlich Angriffe, bei denen Kampfmittel eingesetzt werden, die nicht auf ein bestimmtes militärisches Ziel ausgerichtet sind, wie die von bewaffneten palästinensischen Gruppen aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen, sind ebenfalls verboten. Verboten ist auch die Geiselnahme, d.h. die Entführung oder Inhaftierung einer Person in Verbindung mit der Androhung, die Geisel zu töten, zu verletzen oder weiter festzuhalten, um einen Dritten zu zwingen, als Bedingung für die Freilassung oder Sicherheit der Geisel eine Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen. Verstöße gegen die oben genannten Regeln sind Kriegsverbrechen, die eine individuelle strafrechtliche Verantwortung nach sich ziehen, die sich auch auf diejenigen erstreckt, die ein solches illegales Verhalten geplant, gebilligt und angeordnet haben.

Hintergrund

Dieser Text dokumentiert einige der Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die von der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen seit dem 7. Oktober begangen wurden. Amnesty International ist eine unparteiische Menschenrechtsorganisation und setzt sich dafür ein, dass alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen einhalten. Dementsprechend wird Amnesty International in zukünftigen Briefings auch die israelischen Militäraktionen im Gazastreifen untersuchen.

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