Aktuell Iran 06. Dezember 2022

Angebliche Auflösung der "Sittenpolizei": Internationale Gemeinschaft darf sich nicht täuschen lassen

Vier Frauen stehen mit dem Rücken zur Kamera auf einer Straße. Sie heben ihre Hände in die Luft und zeigen mit beiden Händen das Victory-Zeichen. Weitere Menschen demonstrieren auf der Straße. Im Hintergund steigt Rauch auf.

Protest gegen die iranische Regierung in Mahabadi im Nordwesten des Iran (20. November 2022)

Die vagen und widersprüchlichen Erklärungen der iranischen Behörden zur angeblichen Auflösung der so genannten Sittenpolizei dürfen die internationale Gemeinschaft nicht über die anhaltende Gewalt gegen Frauen und Mädchen täuschen. Die in Gesetzen verankerte Kopftuchpflicht wird weiterhin brutal von den Behörden durchgesetzt.

Bei einer Pressekonferenz am 3. Dezember 2022 sprach der iranische Generalstaatsanwalt, Mohammad Jafar Montazeri, über die sogenannte Sittenpolizei und deren angebliche Auflösung.

Mohammad Jafar Montazeri sagte: "Die 'Sittenpolizei' (gasht-e ershad) hat nichts mit der Justiz zu tun und wurde von demjenigen [Gremium] aufgelöst, das sie in der Vergangenheit eingerichtet hat." Dann relativierte er seine Aussage allerdings und fügte hinzu: "Die Justiz wird auch weiterhin das Verhalten der Menschen in der Gesellschaft regeln".

Dies deutet darauf hin, dass die Kontrolle über die Körper der iranischen Frauen weitergehen wird. Staatliche Medien berichteten am nächsten Tag, dass "die Schließung der Sittenpolizei von keiner offiziellen Behörde in der Islamischen Republik Iran bestätigt wurde."

"Die Erklärung des Generalstaatsanwalts war absichtlich vage. Sie erwähnte die rechtliche und politische Grundstruktur nicht, die die Praxis der Zwangsverschleierung von Frauen und Mädchen aufrechterhält", sagte Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika. "Die Behauptung, die 'Sittenpolizei' habe nichts mit der Justiz zu tun, verzerrt die Tatsache, dass die Justiz seit Jahrzehnten die Kriminalisierung von Frauen und Mädchen durch missbräuchliche und diskriminierende Zwangsverschleierungsgesetze absegnet. Die iranischen Behörden schieben sich nun angesichts der Empörung über diese extreme Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung und Gewalt gegenseitig die Schuld zu, um sich aus der Verantwortung zu stehlen."

Tweet von Amnesty International:

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Staatlich abgesegnete Verfolgung von Frauen

Heba Morayef sagt: "Die internationale Gemeinschaft und die internationalen Medien dürfen sich nicht täuschen lassen. Die Verschleierungspflicht ist im iranischen Strafgesetzbuch und in anderen Gesetzen und Verordnungen verankert. Sie ermöglichen es Behörden und Sicherheitskräften, Frauen willkürlich festzunehmen und zu inhaftieren und ihnen den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen, Regierungsbüros und Flughäfen zu verweigern, wenn sie ihr Haar nicht bedecken."

Die iranische "Sittenpolizei" ist eine Unterabteilung der iranischen Polizei, die dem Innenministerium unterstellt ist. Trotz der Erklärung des Generalstaatsanwalts, der versucht, die Justiz von der "Sittenpolizei" zu distanzieren, gelten deren Mitglieder nach der iranischen Strafprozessordnung als "Justizbeamte" (zabetan-e qazai). Sie dürfen unter der Aufsicht und auf Anweisung des Staatsanwalts Verhaftungen und Verhöre durchführen.

Die "Sittenpolizei" überwacht die gesamte weibliche Bevölkerung, aber die Überwachung ist nicht auf den Staat beschränkt. Die diskriminierenden und entwürdigenden Zwangsverschleierungsgesetze der Islamischen Republik Iran ermöglichen es nicht nur staatlichen Bediensteten, sondern auch nichtstaatlichen Ordnungskräften, Frauen und Mädchen täglich in der Öffentlichkeit zu belästigen und zu verletzen.

Kopftuchpflicht für Mädchen ab neun Jahren

Gesetze zur Zwangsverschleierung verletzen eine ganze Reihe von Rechten, darunter das Recht auf Gleichheit, Privatsphäre sowie Meinungs- und Glaubensfreiheit. Außerdem erniedrigen sie Frauen und Mädchen und berauben sie ihrer Würde, ihrer körperlichen Autonomie und ihres Selbstwerts.

Nach Artikel 638 des islamischen Strafgesetzbuchs des Iran wird jede Handlung, die als "anstößig" für die öffentliche Ordnung angesehen wird, mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten oder 74 Peitschenhieben bestraft. In einer Erläuterung zu diesem Artikel heißt es, dass Frauen, die in der Öffentlichkeit unverschleiert gesehen werden, mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten oder einer Geldstrafe zu bestrafen sind.

Das Gesetz gilt für Mädchen ab neun Jahren, dem Mindestalter für die Strafmündigkeit von Mädchen im Iran. In der Praxis haben die Behörden eine Kopftuchpflicht für Mädchen ab dem siebten Lebensjahr eingeführt, wenn sie in die Grundschule kommen.

"Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Demonstrant*innen im Iran nicht nur die Abschaffung der 'Sittenpolizei' fordern, sondern die Transition in ein politisches und rechtliches System, das ihre grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten respektiert. Der Volksaufstand im Iran spiegelt die landesweite Wut über die jahrzehntelange gewaltsame Unterdrückung des iranischen Volkes wider", sagt Heba Morayef.

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