Aktuell Iran 06. Oktober 2023

Iran: Amnesty fordert Untersuchung der lebensgefährlichen Gewalt gegen Armita Garawand

Das Bild zeigt eine Collage, links das Porträtfoto einer Jugendlichen, rechts eine Szene einer Überwachungskamera einer Metro

Die 16-jährige Iranerin Armita Garawand befindet sich seit dem 1. Oktober 2023 im Koma

Noch immer ist nicht geklärt, was der 16-jährigen Schülerin Armita Garawand in der Teheraner Metro Anfang Oktober zugestoßen ist. Augenzeugenberichten zufolge wurde sie von einer Person angegriffen, die den Kopftuchzwang durchsetzen wollte. Momente später war Armita Garawand bewusstlos. Iranische Behörden versuchen seither die Geschehnisse zu vertuschen. Die internationale Gemeinschaft muss die iranischen Behörden auffordern, die UN-Untersuchungsmission und andere unabhängige Beobachter*innen in das Land zu lassen. Nur so können die Umstände, die zum Koma von Armita Garawand führten, untersucht werden.

Lediglich die Bilder einer Sicherheitskamera zeigen, wie Armita Garawand bewusstlos aus einem Waggon der Teheraner Metro getragen wird. Was der 16-Jährigen tatsächlich passiert ist, bleibt weiterhin unklar.

Armita Garawand wurde am 1. Oktober direkt in das Fajr-Krankenhaus eingeliefert. Informierten Quellen zufolge befinden sich seitdem Sicherheitskräfte in starker Präsenz vor dem Eingang des Krankenhauses und hindern Besucher*innen daran, das Krankenhaus zu betreten. Sie untersagen dort Anwesenden Videoaufnahmen mit dem Handy. Quellen berichten, dass die Behörden ihren Eltern zwar mehrfach den Zutritt zum Krankenhaus gestatteten, allerdings unter Einschränkungen, so dass sie Armita Garawand nur kurz sehen durften.

"Die iranischen Behörden leugnen und verzerren die Vorkommnisse systematisch, um die Wahrheit über die Umstände des Zusammenbruchs von Armita Garawand zu vertuschen. Dies erinnert in erschreckender Weise an ihr falsches Narrativ und die unplausiblen Erklärungen zum Krankenhausaufenthalt von Jina Mahsa Amini vor etwas mehr als einem Jahr", sagte Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

"Angesichts der mangelnden Aussicht auf unparteiische und unabhängige Ermittlungen im eigenen Land muss die internationale Gemeinschaft die iranischen Behörden dazu drängen, der UN-Untersuchungsmission und anderen unabhängigen Beobachter*innen Zugang zum Iran zu gewähren, um die Wahrheit darüber herauszufinden. Es geht um die Frage, was dazu geführt hat, dass wieder eine Jugendliche in kritischem Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste, und dies vor dem Hintergrund von Berichten über Übergriffe im Zusammenhang mit den Gesetzen zum Kopftuchzwang. Die internationale Gemeinschaft muss auch verlangen, dass die Angehörigen und Freund*innen von Armita Garawand sowie und Journalist*innen, die nach der Wahrheit suchen, vor Repressalien und Schikanen geschützt werden."

Am 2. Oktober 2023 berichtete die iranische Zeitung Shargh Daily, dass die Journalistin Maryam Lofti festgenommen wurde, nachdem sie im Fajr-Krankenhaus Nachforschungen angestellt hatte. Maryam Lotfi wurde noch am selben Tag gegen Kaution freigelassen.

Amnesty-Posting auf Twitter:

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Am 5. Oktober 2023 zitierte der britische Guardian eine*n Augenzeug*in: Die Person sagte, dass kurz nachdem Armita Garawand den Zugwaggon betreten hatte, eine Beamtin, die den Kopftuchzwang in der U-Bahn durchsetzt, Armita Garawand anschrie. Sie fragte Armita warum ihr Haar nicht bedeckt sei. Der*die vom Guardian zitierte Augenzeug*in fügte hinzu: "Armita sagte dann zu ihr: 'Bitte ich Sie, Ihr Kopftuch abzunehmen? Warum fordern Sie mich auf, eins zu tragen?' Die Auseinandersetzung wurde dann gewalttätig. Die Hijab-Kontrolleurin begann, Armita tätlich zu attackieren und ... schubste sie heftig."

Iranische Staatsmedien reagierten eilig auf die Berichte und stellten den Zusammenbruch von Armita Garawand als die Folge "niedrigen Blutdrucks" dar.

Am 3. Oktober 2023 veröffentlichten die staatlichen Medien ein Video, das mehrere Aufnahmen von Armita Garawands Eltern zeigt, die widerwillig die staatliche Darstellung wiederholen. Während des Videos macht ihre Mutter immer wieder Pausen und zögert, während sie die Ereignisse beschreibt.

In einer anderen Szene sieht man, neben Armita Garawands Mutter, Shaheen Ahmadi, eine Frau stehen, die vage als "Verwandte" bezeichnet wird. Diese Frau behauptet, dass die Anschuldigungen einer Körperverletzung von Armita Garawand nicht zutreffen und dass die Familie das gesamte Videomaterial ansehen durfte und "alles in Ordnung" sei. Die sichtlich verzweifelte Mutter von Armita Garawand unterbricht die Frau mit der Bemerkung, dass die Familie nicht alle Aufnahmen angesehen habe.

Am 5. Oktober 2023 veröffentlichten die staatlichen Medien ein weiteres Video, das das Verhör von zwei Schulfreund*innen von Armita Garawand zeigt. In diesem wiederholen die beiden die Darstellung der Behörden über Armita Garawands Zusammenbruch. Auf dem Video ist auch zu sehen, wie eine junge Frau ohne Kopftuch, bei der es sich um Armita Garawand handeln soll, am 1. Oktober den U-Bahnhof betritt. Sie steigt in einen Zug ein und wird dann von ihren Freund*innen und anderen weiblichen Fahrgästen aus dem Zug getragen.

Das Evidence Lab von Amnesty International hat die von den iranischen Staatsmedien veröffentlichten Aufnahmen der Überwachungskameras in der U-Bahnstation analysiert. Die Videoanalyse ergab, dass das Filmmaterial bearbeitet und die Bildrate in vier Abschnitten des Videos erhöht worden war. Ausgehend von der Zeitangabe auf dem Filmmaterial fehlen drei Minuten und 16 Sekunden des U-Bahn-Materials.

Amnesty International hat dokumentiert, dass die iranischen Behörden die Familien von Betroffenen seit langem schikanieren, einschüchtern und ihnen Repressalien androhen. Sie wollen die Familien dazu zwingen, die offiziellen staatlichen Darstellungen zu wiederholen, die die Behörden von der Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen freisprechen. Amnesty ist daher in großer Sorge, dass die Familie und Freund*innen von Armita Garawand gezwungen wurden, in Propagandavideos aufzutreten und das staatliche Narrativ unter Zwang und Androhung von Repressalien wiederholen.

Amnesty International fordert die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft auf, auf internationaler Ebene unter Anwendung des Weltrechtsprinzips rechtliche Schritte einzuleiten. Es müssen strafrechtliche Ermittlungen gegen iranische Beamt*innen eingeleitet werden, die für die weit verbreiteten und systematischen Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen verantwortlich sind.

Hintergrund

Der Einlieferung von Armita Garawand ins Krankenhaus findet vor dem Hintergrund einer in den letzten Monaten verstärkten Unterdrückung von Frauen und Mädchen statt, die sich den missbräuchlichen und diskriminierenden Gesetzen des Iran zum Kopftuchzwang widersetzen. Dazu gehören Schikanen und tätliche Übergriffe von Staatsbediensteten und Bürgerwehren gegen Frauen und Mädchen, die sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zeigen. Außerdem gehören dazu die Beschlagnahmung von Autos, die Verweigerung des Zugangs zu Beschäftigung, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Bankdienstleistungen und öffentlichen Verkehrsmitteln sowie grausame Gerichtsurteile.

Am 27. April 2023 hat der Bürgermeister von Teheran, Alireza Zakani, einen "Plan für Hidschab und Keuschheit" für den Verwaltungsbezirk eingeführt, der sich auf eine spezielle städtische Sicherheitstruppe (yegan-e hefazat-e shahrdari) stützt, die Frauen und Mädchen, die kein Kopftuch tragen, in der U-Bahn zur Rede stellt.

Am 20. September 2023 hat das iranische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das, falls es vom Wächterrat gebilligt wird, die Menschenrechte von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen, weiter aushöhlen würde.

Nach dem islamischen Strafgesetzbuch des Iran können Frauen, die in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch gesehen werden, mit einer Gefängnisstrafe, Körperstrafen oder einer Geldstrafe belegt werden.

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