Libyen: Militärstaatsanwalt "verschwunden"

Diese Selfie-Aufnahme zeigt Farouq Alsqidig Abdulsalam Ben Saeed in einem Auto sitzend. Er blickt ernst in die Kamera.

Der libysche Militärstaatsanwalt Farouq Alsqidig Abdulsalam Ben Saeed (undatiertes Foto)

Der libysche Militärstaatsanwalt Farouq Alsqidig Abdulsalam Ben Saeed wurde am 26. Juni von bewaffneten Männern in Zivil in Tripolis auf offener Straße verschleppt und ist seither "verschwunden". Seine Familie hat Anzeige bei der Polizei erstattet und sich an die Staatsanwaltschaft gewandt, bisher jedoch keine Auskunft über sein Schicksal oder seinen Verbleib erhalten. Glaubwürdigen Berichten zufolge wird er von der staatlich unterstützten Al-Radaa-Miliz festgehalten, der schwere Menschenrechtsverstöße wie Folter und andere Misshandlungen vorgeworfen werden. Amnesty International sorgt sich um seine Sicherheit und fordert die libyschen Behörden auf, umgehend seinen Verbleib bekanntzugeben.

Appell an

Libysche Botschaft

S. E. Herrn Jamal A O Elbarag

Podbielskiallee 42


14195 Berlin

 

 

Sende eine Kopie an

Vorsitzender des libyschen Präsidialrats:

Mohamed Yunus Al-Menfi

Tripoli, LIBYEN

(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)

Facebook: @PCmedia.ly

Twitter: @LPCLYM

E-Mail: n.wheba@lpc.gov.ly

Libysche Botschaft:

Fax: 030-2005 9699

E-Mail: info@libysche-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Stellen Sie bitte sicher, dass das Schicksal und der Verbleib von Farouq Ben Saeed umgehend bekanntgegeben werden. Er muss unverzüglich freigelassen werden, und bis dahin ist er vor Folter und anderweitiger Misshandlung zu schützen.
  • Sollte er einer international als Straftat anerkannten Handlung angeklagt werden, so muss er umgehend vor ein zuständiges Gericht gestellt werden und ein Verfahren erhalten, das den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entspricht.
  • Bis zu seiner Freilassung muss ihm unverzüglich Zugang zu seiner Familie, seinen Rechtsbeiständen und jeder benötigten medizinischen Versorgung gewährt werden.

Sachlage

Der 52-jährige Militärstaatsanwalt Farouq Ben Saeed und seine beiden Söhne (9 und 13 Jahre) wurden am 26. Juni um 19.00 Uhr im Stadtteil Al Bivio von Tripolis von drei bewaffneten Männern in Zivilkleidung verschleppt. Die Männer legten weder einen Haftbefehl vor noch führten sie Gründe für die Festnahme an. Sie zwangen Farouq Ben Saeed und seine Kinder in ihr eigenes Auto (den Angehörigen zufolge ein Kia Sportage, Baujahr 2012) und fuhren mit ihnen davon. Die beiden Söhne kamen zwei Stunden später zurück und sagten der Familie, dass sie zum Mitiga-Gefängnis gebracht worden seien, das sich auf dem Gelände des Internationalen Flughafens Mitiga befindet und der Al-Radaa-Miliz untersteht (auch bekannt als Deterrence Apparatus for Combating Organized Crime and Terrorism – DACOT). Diese einflussreiche Miliz steht unter der Kontrolle des Präsidialrats der Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Unity – GNU). Die Al-Radaa-Miliz verübt nachweislich völkerrechtliche Verbrechen und andere schwere Menschenrechtsverstöße, für die sie nicht zur Rechenschaft gezogen wird, wie z. B. Verschwindenlassen, rechtswidrige Tötungen, Folter und andere Misshandlungen sowie willkürliche Inhaftierungen. Es besteht daher große Sorge um die Sicherheit und das Wohlergehen von Farouq Ben Saeed, insbesondere weil er u. a. wegen chronischer Bronchitis bei schlechter Gesundheit ist.

In den Tagen nach der Entführung von Farouq Ben Saeed erstatteten seine Verwandten auf der Polizeiwache Souq Al-Jumaa Anzeige und reichten Beschwerde bei Generalstaatsanwalt Al-Siddiq Al-Sour ein. Sie erhielten jedoch keine Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib von Farouq Ben Saeed. Amnesty International vorliegenden Informationen zufolge hat der Generalstaatsanwalt bisher keine Vorladung für Farouq Ben Saeed ausgesprochen. Der Militärstaatsanwalt Masoud Rahouma hat laut der Familie angegeben, dass er erst dann von Amts wegen einschreiten kann, wenn die Al-Radaa-Miliz ihn offiziell über die Festnahme von Farouq Ben Saeed informiert. Der Familie liegen keine Informationen über mögliche Anklagen vor und es besteht die Sorge, dass er aus politischen Gründen ins Visier genommen wurde, u. a. möglicherweise deshalb, weil er den Anweisungen der Al-Radaa-Miliz nicht Folge geleistet hat.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Die Al-Radaa-Miliz entstand 2012 unter dem Kommando von Abdel Raouf Kara und ist eine der mächtigsten und meistgefürchteten Milizen im Westen Libyens. Sie wurde von aufeinanderfolgenden Regierungen in staatliche Strukturen integriert, wobei keine angemessenen Überprüfungen durchgeführt wurden, um diejenigen auszuschließen, die wegen völkerrechtlichen Verbrechen und anderen Menschenrechtsverstößen verdächtigt werden. Im Jahr 2018 verabschiedete die Regierung der Nationalen Übereinkunft (Government of National Accord – GNA), damals die international anerkannte Regierung Libyens, die Verfügung Nr. 555/2018, mit der die Al-Radaa-Miliz unter dem Namen DACOT (Deterrence Apparatus for Combating Organized Crime and Terrorism) in eine neu geschaffene Sicherheitstruppe integriert wurde. Der Präsidialrat der Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Unity – GNU) gewährte DACOT mittels der Verfügung Nr. 578/2020 später zusätzliche Befugnisse zur Umsetzung von Maßnahmen zur Staatssicherheit, zur Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Terrorismus, und zur Festnahme von Verdächtigen. Die Behörden wiesen der Al-Radaa-Miliz im Haushalt von 2022 140 Mio. Libysche Dinar zu (knapp 26,5 Mio. Euro), was ihre Macht weiter zementierte und sie in die Lage versetzte, weiterhin straflos Menschenrechtsverstöße zu begehen.

Die Al-Radaa-Miliz kontrolliert den einzigen funktionierenden internationalen Flughafen von Tripolis sowie das größte Gefängnis der Stadt – beide befinden sich innerhalb des Mitiga-Stützpunkts. Laut Angaben des Justizministeriums, dem das Mitiga-Gefängnis offiziell untersteht, waren dort am 26. Dezember 2022 insgesamt 2.315 Personen inhaftiert. Menschenrechtsgruppen und unabhängige Organisationen schätzen, dass mehr als 4.000 Menschen von der Al-Radaa-Miliz festgehalten werden. Viele von ihnen wurden nie offiziell angeklagt oder vor Gericht gestellt und werden in Trakten festgehalten, die der Miliz selbst unterstehen, wie z. B. dem berüchtigten Al-Naqliya-Trakt.

Amnesty International hat ein durchgesickertes offizielles Dokument eingesehen, das darauf hindeutet, dass der Kommandant der Al-Radaa-Miliz, Abdel Raouf Kara, am 23. Dezember 2022 in einem Schreiben an die Militärstaatsanwaltschaft 17 Militärstaatsanwält*innen – einschließlich Farouq Ben Saeed – vorwarf, staatssicherheitsrelevante Fälle zu "manipulieren". Manche Anschuldigungen beziehen sich darauf, dass die Staatsanwält*innen sich offenbar geweigert hatten, mit der Al-Radaa-Miliz zusammenzuarbeiten. Das Schreiben kritisierte zudem einige Staatsanwält*innen dafür, dass sie sich gegen die von der Al-Radaa-Miliz angewendeten Folter- und Misshandlungstaktiken zur Erpressung von "Geständnissen" wandten. Abdel Raouf Kara forderte die Militärstaatsanwaltschaft auf, "dringend zu handeln, da [die Manipulation von staatssicherheitsrelevanten Fällen] eindeutig gegen das Gesetz verstößt und die Verfahren vor Militärgerichten nicht überprüft werden können, um die Angeklagten einer gerechten Strafe zuzuführen".

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen sowie verschiedene UN-Organe dokumentieren seit einiger Zeit von der Al-Radaa-Miliz begangene Verbrechen unter dem Völkerrecht und andere Menschenrechtsverstöße. Die Unabhängige Untersuchungskommission zu Libyen hielt in ihrem Abschlussbericht im März 2023 fest, dass die Al-Radaa-Miliz nach wie vor auf eklatante Weise gegen internationale Menschenrechtsnormen und das humanitäre Völkerrecht verstößt.

Amnesty International betrachtet die Zusammenarbeit der Militärstaatsanwaltschaft und DACOT bei der Untersuchung mutmaßlicher Straftaten mit Sorge, hierzu zählen auch die rechtswidrigen Tötungen der bewaffneten Gruppe al-Kaniat in Tarhouna, bevor sich diese im Juni 2020 aus der Stadt zurückzog. Das Völkerrecht und internationale Standards sehen vor, dass die Militärjustiz nicht für völkerrechtliche Verbrechen und Menschenrechtsverstöße zuständig sein sollte, die von Militärangehörigen oder Sicherheitsbediensteten begangen worden sind. Militärgerichte sollten vielmehr nur für Verfahren zuständig sein, in denen es um militärische Pflichtverletzung geht. Zivilpersonen dürfen nie vor Militärgerichte gestellt werden. Amnesty International hat zudem glaubwürdige Informationen darüber erhalten, dass Verdächtige im Beisein von Militärstaatsanwält*innen von Angehörigen der Al-Radaa-Miliz gefoltert und in anderer Weise misshandelt werden.

In Libyen herrscht eine politische Pattsituation, da noch kein neuer Termin für die ursprünglich für Dezember 2021 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen festgelegt wurde. Inzwischen werden weite Teile des Landes sowie wichtige Einrichtungen und Infrastruktur faktisch von Milizen und bewaffneten Gruppen kontrolliert, die Tausende Menschen wegen der Ausübung ihrer Menschenrechte willkürlich und ohne rechtliche Grundlage inhaftieren, oftmals nach grob unfairen Verfahren, die teils vor Militärgerichten stattfinden. Amnesty International dokumentiert seit einiger Zeit Übergriffe gegen Rechtsanwält*innen und Richter*innen in Libyen, was die Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigt und bedeutet, dass den Familien der Personen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, der Zugang zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung vorenthalten wird.