Irak: Aktivist "verschwunden"

Das Bild zeigt das Porträtbild eine Mannes

Der irakische Aktivist Sajjad al-Iraqi (undatiertes Foto)

Am 19. September 2020 entführten bewaffnete Männer Sajjad al-Iraqi in der Stadt Nasiriyaa im Gouvernement Dhi Qar aus einem Fahrzeug. Der bekannte Aktivist war Teil der Oktober-Protestbewegung von 2019, im Irak als Tishreen-Bewegung bekannt. Mehr als drei Jahre nach seiner Entführung ist sein Verbleib nach wie vor unbekannt, und seine Familie wird bedroht, weil sie die Aufklärung seines Schicksals fordert. Am 22. März 2023 verurteilte das Strafgericht von Dhi Qar zwei Personen, die wegen der Entführung von Sajjad al-Iraqi schuldig gesprochen worden waren, in Abwesenheit zum Tode. Sie wurden jedoch nie festgenommen. Die irakischen Behörden müssen das Schicksal und den Verbleib von Sajjad al-Iraqi aufklären, seine Familie vor Repressalien schützen und die Verantwortlichen in fairen Verfahren ohne Rückgriff auf die Todesstrafe zur Rechenschaft ziehen.

Appell an

Premierminister

Mohammed Shia’ al-Sudani


Botschaft der Republik Irak

S.E. Herrn Lukman Abdulraheem A. Al-Faily


Pacelliallee 19-21

14195 Berlin

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Irak

S.E. Herr Lukman Abdulraheem A. Al-Faily


Pacelliallee 19-21

14195 Berlin


Fax: (00 49) 30 814 88 222

E-Mail: beremb@mofa.gov.iq

Amnesty fordert:

  • Ordnen Sie bitte umgehend eine Untersuchung an, um das Schicksal und den Aufenthaltsort von Sajjad al-Iraqi zu ermitteln, und sorgen Sie zudem dafür, dass die Familie des Aktivisten vor Drohungen und Vergeltungsmaßnahmen geschützt wird.
  • Veranlassen Sie bitte ein Neuverfahren für die in Abwesenheit verurteilten Personen, sodass sie in einem Verfahren vor Gericht gestellt werden können, das internationalen Standards entspricht und in dem nicht auf die Todesstrafe zurückgegriffen wird.

Sachlage

Am 19. September 2020 entführte eine Gruppe bewaffneter Männer Sajjad al-Iraqi aus einem Fahrzeug, in dem er mit Freunden in der Stadt Nasiriyaa im Gouvernement Dhi Qar unterwegs war. Es wird vermutet, dass er ins Visier geriet, weil er Teil der Tishreen-Bewegung war, eine Protestbewegung, die im Oktober 2019 begann. Sajjad al-Iraqi ist ein bekannter Aktivist, der sich seit Jahren zivilgesellschaftlich engagiert und unter anderem Fälle von Korruption dokumentiert. Sein Freundeskreis bezeichnete ihn als "Sprecher von Tishreen seit Oktober 2019".

Am 15. November 2020 erließ das Berufungsgericht von Dhi Qar Haftbefehl gegen zwei Personen wegen der Entführung von Sajjad al-Iraqi. Am 22. März 2023 verurteilte das Strafgericht von Dhi Qar diese beiden Personen in Abwesenheit wegen der Entführung des Aktivisten zum Tode. Sie wurden jedoch nie festgenommen. Die Familienangehörigen von Sajjad al-Iraqi sind seither mehrfach von Personen bedroht worden, die mit den Entführern und den Einheiten der Volksmobilisierung (PMU) in Verbindung gebracht werden. Bei letzteren handelt es sich um ein großes Netzwerk von Milizen, die rechtlich gesehen ein Teil der irakischen Streitkräfte sind. Diese Personen haben die Familie von Sajjad al-Iraqi mehrfach unter Druck gesetzt, ihre Klage gegen die Entführer von Sajjad al-Iraqi fallen zu lassen, unter anderem, indem sie mindestens viermal im Haus der Familie auftauchten.

Ein Familienmitglied berichtete Amnesty International, dass einige Angehörige sich vor neun Monaten mit dem irakischen Premierminister getroffen hatten und dieser damals versprach, sich des Falls von Sajjad al-Iraqi anzunehmen. Bis heute ist der Aufenthaltsort von Sajjad al-Iraqi jedoch unbekannt, und niemand ist in seinem Fall festgenommen worden. Ein Familienmitglied sagte gegenüber Amnesty International: "Es besteht kein Interesse am Fall von Sajjad. Es sind nur falsche Versprechungen und Zusicherungen. Es ist nur Tinte auf Papier."

Hintergrundinformation

Hintergrund

Während der großangelegten regierungskritischen Demonstrationen, die im Oktober 2019 begannen und als Tishreen-Proteste bekannt sind, gingen die Sicherheitskräfte mit tödlicher Gewalt gegen Protestierende vor und schreckten auch vor außergerichtlichen Hinrichtungen und Verschwindenlassen nicht zurück. Zu den Verantwortlichen zählten auch Angehörige der Einheiten der Volksmobilisierung (PMU), ein großes Netzwerk von Milizen, die per Gesetz den irakischen Streitkräften angegliedert sind.

Nur sehr wenige Angehörige der Sicherheitskräfte und der ihnen nahestehenden Milizen sind wegen der Gewalt gegen Protestierende und Aktivist*innen strafrechtlich verfolgt worden. In einem im Juni 2022 veröffentlichten Bericht stellte die Hilfsmission der Vereinten Nationen für Irak (UNAMI) lediglich die Verurteilung von vier "nicht identifizierten bewaffneten Elementen" seit Mai 2021 und von sechs Angehörigen der Sicherheitskräfte wegen gezielten Schusswaffeneinsatzes, Tötungen und Entführungen fest. In dem Bericht hieß es weiter: "UNAMI/OHCHR war nicht in der Lage, weitere Fälle zu identifizieren, die während des Berichtszeitraums über das Ermittlungsstadium hinausgingen."

Seit 2019 haben verschiedene irakische Regierungen zahlreiche Ausschüsse eingesetzt, um die im Rahmen der Proteste begangenen Rechtsverletzungen zu untersuchen. Diese haben bisher jedoch nicht für Wahrheit und Gerechtigkeit gesorgt. Am prominentesten war die 'Untersuchungskommission', die durch die vom damaligen Premierminister Mustafa al-Kadhimi am 18. Oktober 2020 erlassene Durchführungsverordnung 293 eingesetzt wurde, um Beweise zu sammeln, einen umfassenden Bericht zu veröffentlichen und die Verantwortlichen für die begangenen Verbrechen zu ermitteln. Gemäß der Verordnung hat der Ausschuss die Befugnis, Fälle an die Justiz zu verweisen. Es liegen jedoch keine transparenten Informationen darüber vor, ob dies auch tatsächlich geschehen ist.

In einem Schreiben des Büros von Premierminister Shia al-Sudani an Amnesty International vom 2. April 2023 heißt es, dass "der Premierminister im November 2022 die Aktivierung der Arbeit der [Untersuchungs-]Kommission und die Kontaktaufnahme mit Vertreter*innen der Demonstrierenden angeordnet hat". Das Büro des Premierministers umriss die Maßnahmen, die der Untersuchungsausschuss ergriffen hatte, darunter die Prüfung von "mehr als 215 Fällen des Zentralen Untersuchungsgerichts von Al-Rusafa und die Überprüfung von mehr als 5.375 offiziellen Dokumenten, darunter medizinische und gerichtsmedizinische Gutachten sowie Autopsiepapiere. Der Ausschuss prüft weiterhin Dokumente, die bei Berufungsgerichten eingingen." Der Premierminister bestätigte auch, dass den Familien der Getöteten Entschädigungen in Höhe von jeweils zehn Millionen irakischen Dinar gezahlt wurden. Entschädigungen sind jedoch kein Ersatz für Wahrheit und Rechenschaftslegung. Fast drei Jahre nach ihrer Einrichtung hat die Untersuchungskommission immer noch keine Ergebnisse veröffentlicht.

Verschwindenlassen ist derzeit gemäß irakischem Recht kein Straftatbestand und kann daher nicht als eigenständige Straftat verfolgt werden. Am 6. August 2023 legte der irakische Ministerrat dem Parlament den Entwurf für ein Gesetz über verschwundene Personen vor. Ziel des Gesetzentwurfs ist es, es den Familienangehörigen der "Verschwundenen" zu ermöglichen, das Schicksal ihrer Angehörigen herauszufinden und ihnen Wiedergutmachung zukommen zu lassen, u. a. durch eine nationale Kommission für verschwundene Personen. Allerdings stellt die Gesetzesvorlage weder das Verschwindenlassen unter Strafe noch sieht es Strafen für die Verantwortlichen vor. Irak ist Vertragsstaat des Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und somit verpflichtet, das Verschwindenlassen unter Strafe zu stellen, entsprechende Fälle zu untersuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und für Wiedergutmachung für die Betroffenen zu sorgen.