Amnesty Report 19. Mai 2010

Liberia 2010

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Liberia Staats- und Regierungschefin: Ellen Johnson-Sirleaf Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 4 Mio. Lebenserwartung: 57,9 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 144/136 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 55,5%

Im Dezember wurde der Abschlussbericht der Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Truth and Reconciliation Commission – TRC) veröffentlicht. Bei der Einrichtung der unabhängigen nationalen Menschenrechtskommission waren gewisse Fortschritte zu verzeichnen. Die Bemühungen der Regierung, gegen Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt vorzugehen, denen Frauen und Mädchen ausgesetzt waren, machten auf institutioneller Ebene gewisse Fortschritte. Dennoch wurden viele Fälle sexueller Gewalt nach wie vor nicht gemeldet. Die Situation der Justizverwaltung war weiterhin äußerst besorgniserregend, so führten Verzögerungen bei den Verfahren zur Überfüllung der Gefängnisse.

Hintergrund

Staatspräsidentin Ellen Johnson-Sirleaf nahm in den Monaten April, Juni und Juli 2009 mehrfach umfassende Kabinettsumbildungen vor. Sie reagierte damit auf die unzulänglichen Leistungen der Minister in Schlüsselressorts, vor allem im Justizwesen und im Sicherheitsbereich.

Im April wurden fünf hochrangige Regierungsvertreter der Übergangsregierung Liberias freigesprochen. Es handelte sich um den ehemaligen Vorsitzenden der Übergangsregierung Charles Gyude Bryant, den Parlamentspräsidenten Edward Snow und drei weitere Regierungsmitglieder. Die Freisprüche wurden als herber Rückschlag im Kampf gegen die Korruption gewertet. Die im Frühjahr 2009 eingesetzte liberianische Antikorruptionskommission nahm die Untersuchung von zwei wichtigen Fällen auf. Mehrere Minister wurden aufgrund von Korruptionsvorwürfen entlassen.

Im Juli erklärte Präsidentin Johnson-Sirleaf das Programm für die Entwaffnung, Demobilisierung, Resozialisierung und Wiedereingliederung von Kämpfern in die Zivilgesellschaft offiziell für beendet. Seit 2003 waren im Rahmen des Programms 101000 ehemalige Kämpfer entwaffnet und demobilisiert worden, 90000 von ihnen wurden in die Zivilgesellschaft eingegliedert. Die liberianischen Streitkräfte und Angehörige der Nationalpolizei waren an drei gewaltsamen Zwischenfällen beteiligt, die sich im Februar, April und Mai in der Hauptstadt Monrovia ereigneten.

Da die Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Justizverwaltung hatte, gab es mehrere Fälle von Selbstjustiz. So löste z. B. der Vorwurf eines Ritualmords im Juni in der Stadt Harper (Südost-Liberia) Krawalle aus, an denen mehr als 2000 Menschen beteiligt waren. Die Randalierer verwüsteten die Polizeiwache, beschädigten das Gefängnis und versuchten Polizeibeamte zu töten, indem sie sie mit Benzin übergossen.

Eine aus Angehörigen der UN-Friedenstruppen in Liberia und Côte d’Ivoire zusammengesetzte Feldmission besuchte im April den Westen von Côte d’Ivoire. Die Kommission stellte fest, dass viele der rund 1500–2000 liberianischen Kombattanten, die ivorischen Milizen angehörten, am illegalen Abbau von Rohstoffen beteiligt waren.

Im September verlängerte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der UN-Mission in Liberia (UNMIL) um ein weiteres Jahr. Das militärische und zivile Personal der UNMIL wurde auf rund 8500 Mitarbeiter verringert.

Im Dezember hob der UN-Sicherheitsrat das seit 1999 bestehende Waffenembargo auf. Gleichzeitig verlängerte er das Reiseverbot und das Einfrieren von Vermögenswerten von Personen, die als Bedrohung für den Friedensprozess galten. Das Mandat der Sachverständigengruppe, die die Einhaltung der gegen Liberia verhängten Sanktionen überwacht, wurde ebenfalls bis Dezember 2010 verlängert.

Liberia machte keine Anstalten, die Todesstrafe abzuschaffen, die 2008 wieder eingeführt worden war. Damit hatte Liberia das 2. Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte verletzt, dem das Land 2005 beigetreten war.

Straflosigkeit

Die Bemühungen, Menschen vor Gericht zu bringen, die für schwere Menschenrechtsverletzungen während der Konflikte 1989–96 und 1999–2003 verantwortlich waren, kamen kaum voran.

Im Januar 2009 wurde Benjamin Yeaten, ehemaliger General der Nationalen Patriotischen Front von Liberia (National Patriotic Front of Liberia – NPFL) und enger Verbündeter des ehemaligen Staatspräsidenten Charles Taylor, für schuldig befunden, im November 1997 und im Juni 2003 zwei stellvertretende Minister sowie einen Minister und dessen Angehörige ermordet zu haben. Dem Vernehmen nach soll Benjamin Yeaten in Togo leben.

Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (TRC) schloss im Juni ihre Arbeit ab und legte dem Parlament und der Staatspräsidentin die vorläufige Fassung ihres Berichts vor. Der Abschlussbericht wurde der Öffentlichkeit im Dezember vorgestellt. Die TRC empfahl die Einrichtung eines Sondergerichtshofs, vor dem sich Menschen verantworten sollen, die Verbrechen im Sinne des Völkerrechts und Wirtschaftsverbrechen begangen haben. Die TRC legte eine Liste mit den Namen von 98 Personen vor, die sie als die "berüchtigtsten Täter" einstufte. Die Liste enthielt auch die Namen von Charles Taylor und sieben weiteren Anführern bewaffneter Gruppen. In der Liste wurden 36 Männer als Verantwortliche für Verbrechen im Sinne des Völkerrechts eingestuft. Die TRC empfahl jedoch, diese Männer nicht strafrechtlich zu verfolgen, weil sie ihre Taten eingestanden hätten und diese aufrichtig bereuten. In der Liste mit den Namen von Anhängern bewaffneter Gruppen war auch Präsidentin Johnson-Sirleaf aufgeführt. Die TRC empfahl, sie solle 30 Jahre lang kein öffentliches Amt mehr bekleiden dürfen. Johnson-Sirleaf sicherte im Juli zu, sie werde bei der Umsetzung der Empfehlungen der TRC mit allen Anspruchsträgern und Beteiligten zusammenarbeiten. Bis Ende 2009 waren jedoch keine Fortschritte festzustellen.

Die unabhängige nationale Menschenrechtskommission

Nach erheblichen Verzögerungen machte die Einrichtung der unabhängigen nationalen Menschenrechtskommission Fortschritte. Im August ernannte Präsidentin Johnson-Sirleaf sieben Kommissionsmitglieder, darunter auch den Vorsitzenden. Ende 2009 hatte der Senat noch nicht über die Ernennungen entschieden.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt waren 2009 nach wie vor weit verbreitet. Die überwältigende Mehrheit der gemeldeten Vergewaltigungsopfer waren Mädchen unter 16 Jahren. Bei 77 der 807 Vergewaltigungen, die im Bezirk Montserrado in der ersten Jahreshälfte gemeldet wurden, waren die Opfer Mädchen, die nicht einmal fünf Jahre alt waren. In 232 Fällen waren die Opfer fünf bis zwölf Jahre alt, in 284 Fällen waren die Vergewaltigungsopfer Mädchen und junge Frauen im Alter von 13 bis 18 Jahren. Nach wie vor war es jedoch schwierig festzustellen, wie hoch die Zahl der Vergewaltigungen tatsächlich war. Bei Frauen vermutete man eine besonders hohe Dunkelziffer, da überlebende Vergewaltigungsopfer von ihren Familien und Mitbürgern stigmatisiert und abgelehnt werden. Nach Angaben von internationalen Organisationen, die in Liberia zu sexueller und geschlechtsbedingter Gewalt arbeiten, wurden die meisten Vergewaltigungen von Männern – nahen Verwandten oder Nachbarn – verübt, die das Opfer kannten.

  • Meldungen zufolge wurde im Bezirk Bong ein zwölfjähriges Mädchen von vier Männern, darunter ihr Stiefvater, vergewaltigt. Nach der Tat wurde das Mädchen aus dem Haus geworfen und als "verrückt" und "vom Teufel besessen" bezeichnet.

  • Nach einer Prozessverzögerung von acht Monaten wurde im Februar die Anklage im Fall der mehrfachen Vergewaltigung eines 14-jährigen Mädchens in einer Verhandlung des Bezirksgerichts im Bezirk Margibi fallen gelassen. An der nicht öffentlichen Sitzung hatten nur der Richter, die Verteidigung, das Mädchen und der Staatsanwalt teilgenommen. Wie es hieß, soll das Mädchen genötigt worden sein, die Anklage zurückzuziehen. Der Angeklagte wurde freigelassen.

Die Regierung setzte einen Sondergerichtshof für Fälle geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt ein. Dieser hatte bis November vier Verfahren abgeschlossen, von denen drei mit einem Schuldspruch endeten.

Es gab nach wie vor gesundheitsgefährdende und lebensgefährliche traditionelle Praktiken. Dazu gehörten auch Genitalverstümmelungen und sogenannte Gottesurteile (trials by ordeal). Dabei wird Schuld oder Unschuld der angeschuldigten Person willkürlich bestimmt. Diese Praktik hat in Liberia schon zu einigen Todesfällen geführt.

Justizsystem

Erhebliche Probleme bestanden auch weiterhin im Hinblick auf Polizei, Gerichte und den Justizvollzug. Die Gerichte waren nicht in der Lage, Fälle zeitnah zu verhandeln, wodurch sich die Zahl der anhängigen Strafverfahren erhöhte. Nach Einschätzung von Experten vor Ort waren wegen der fortwährenden Verzögerungen 92% der Haftinsassen Untersuchungshäftlinge.

Wegen der nach wie vor schlechten Ausstattung der Gefängnisse kam es im Laufe des gesamten Jahres zu Ausbrüchen von Häftlingen. Im April gelang 50 Häftlingen die Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis im Südosten des Landes. Im November verhinderten UNMIL-Soldaten in Monrovia einen Ausbruchsversuch von rund 50 Häftlingen.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International statteten Liberia im März einen Besuch ab.

Liberia: After the Truth – Liberians need justice (AFR 34/001/2009)

Lessons from Liberia – Reintegrating women in post conflict Liberia (AFR 34/002/2009)

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