Amnesty Report Israel und besetzte Gebiete 24. April 2024

Israel und besetzte palästinensische Gebiete 2023

Das Bild zeigt eine Collage: Links eine Person, die am Boden kauert. Rechts eine Mutter, die ihr Kind trägt - im Hintergrund ist ein zerstörtes Haus zu sehen

Foto links: Ein trauender Mann in dem israelischen Dorf Gan Haim nach der Beerdigung einer 24-jährigen Frau, die beim Hamas-Angriff auf das Nova-Musikfestival getötet wurde (11. Oktober 2023). / Foto rechts: Eine palästinensische Frau versucht in Gaza-Stadt ein Kind in Sicherheit zu bringen, nachdem die Al-Sousi-Moschee durch einen israelischen Luftangriff zerstört wurde (9. Oktober 2023).

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Im Mai 2023 startete Israel eine fünftägige Offensive im besetzten und abgeriegelten Gazastreifen, bei der elf palästinensische Zivilpersonen getötet wurden. Nach einem von der Hamas angeführten Angriff im Süden Israels am 7. Oktober 2023, bei dem mindestens 1.000 Menschen getötet wurden, darunter 36 Kinder, und etwa 245 Personen als Geiseln oder Gefangene genommen wurden, startete Israel umfangreiche Militäroperationen im Gazastreifen. Dabei wurden 21.600 Palästinenser*innen getötet, ein Drittel davon Kinder, und 60 Prozent der Unterkünfte in dem Gebiet zerstört. Außerdem verschärften die israelischen Behörden die seit 16 Jahren andauernde rechtswidrige Blockade des Gazastreifens, indem sie die Versorgung der dortigen Bevölkerung mit Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser, Strom, Kraftstoff und Medikamenten stoppten, was die humanitäre Katastrophe noch verschlimmerte. Nach dem 7. Oktober schränkten die israelischen Behörden das Recht auf Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen auch im besetzten Westjordanland weiter ein. Die israelischen Behörden verschärften das Apartheidsystem, das Palästinenser*innen in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten unterdrückte, indem Gesetze und politische Maßnahmen zur Ausgrenzung, Aberkennung von Rechten und Vertreibung umgesetzt wurden. Allein im Gazastreifen wurden 1,9 Mio. Palästinenser*innen (bei einer Gesamtbevölkerung von 2,2 Mio.) durch israelische Angriffe vertrieben. Die vom Staat unterstützte Gewalt seitens israelischer Siedler*innen nahm zu. In der Wüste Negev/Naqab im Süden Israels setzten die israelischen Sicherheitskräfte die Zerstörung von palästinensisch-beduinischen Wohnhäusern und ganzen Dörfern fort. Eines der Dörfer wurde bereits zum 222. Mal zerstört. Die Einsätze der israelischen Sicherheitskräfte im Westjordanland waren die tödlichsten seit 2005. Von den dort getöteten Palästinenser*innen waren 110 Kinder. Die Inhaftierung von Palästinenser*innen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren erreichte ein Rekordniveau. In Israel ging die Polizei bei Demonstrationen gegen die Regierung mitunter mit übermäßiger Gewalt und willkürlichen Festnahmen vor und verbot Antikriegsdemonstrationen in palästinensischen Städten. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) wurden durch Gesetze und im Alltag weiterhin diskriminiert. 

Hintergrund

Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu betraute Politiker, die rassistischen Hass schürten und vorschlugen, palästinensisches Gebiet zu annektieren und Palästinenser*innen zu vertreiben, mit militärischen und polizeilichen Aufgaben. Finanzminister Bezalel Smotrich wurde im Februar 2023 zum Gouverneur des besetzten Westjordanlandes ernannt, und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir bildete im April eine "Nationalgarde" aus Freiwilligen.

Beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, der im Auftrag der UN-Generalversammlung die Rechtmäßigkeit der israelischen Besetzung der palästinensischen Gebiete prüfen soll, gingen bis zum Stichtag 25. Juli 2023 Rechtsgutachten zahlreicher Staaten ein.

Ab September 2023 befasste sich der Oberste Gerichtshof Israels mit Beschwerden gegen ein Gesetz, das eine Justizreform vorsah. Die von der Regierung angestrebte Reform untergrub die Unabhängigkeit der Justiz und ihre Fähigkeit, die Bürgerrechte der jüdischen Bürger*innen zu schützen. 

Es gab wöchentlich Massenproteste gegen die Regierung, die nach dem 7. Oktober 2023 zum Erliegen kamen. Am 11. Oktober 2023 trat die Nationale Einheitspartei von Benny Gantz der Notstandsregierung und dem Kriegskabinett bei. 

Das Verteidigungsministerium unterstützte die Evakuierung von 54 Gemeinden im Süden und 43 im Norden Israels nach Angriffen aus dem Gazastreifen und dem Libanon. 

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Gazastreifen

Bei der ersten israelischen Offensive gegen den besetzten und abgeriegelten Gazastreifen im Jahr 2023, die vom 9. bis 13. Mai 2023 dauerte, wurden elf palästinensische Zivilpersonen getötet, darunter vier Kinder, und 103 Wohnhäuser zerstört. Der erste Luftschlag tötete Khalil al-Bahtini, ein ranghohes Mitglied der Al-Quds-Brigaden, einer mit dem Palästinensischen Islamischen Dschihad verbundenen bewaffneten Gruppe. Seine Frau und seine kleine Tochter sowie seine Nachbarinnen Dania und Iman Adas kamen dabei ebenfalls ums Leben. Die Al-Quds-Brigaden feuerten wahllos Hunderte ungelenkte Raketen auf israelische Städte ab (siehe Länderkapitel Palästina). 

Die zweite Runde der Feindseligkeiten mit ihren katastrophalen humanitären Folgen für den Gazastreifen führte zu einer noch nie dagewesenen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung. Am 7. Oktober 2023 verübten Mitglieder bewaffneter palästinensischer Gruppen einen Angriff im Süden Israels, während sie Tausende von ungelenkten Raketen abfeuerten. Sie töteten dabei mindestens 1.000 Menschen, verletzten etwa 3.300 weitere und nahmen etwa 245 Personen als Geiseln oder Gefangene (siehe Länderkapitel Palästina). In den folgenden zwölf Wochen töteten israelische Streitkräfte bei Luftangriffen und Bodenoffensiven nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen 21.600 Palästinenser*innen, von denen ein Drittel Kinder waren.

Eine von Amnesty International vorgenommene Untersuchung von neun rechtswidrigen Luftschlägen, bei denen 229 Menschen getötet wurden, ergab, dass Israel dabei gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen hatte. So hatte die israelische Armee z. B. nicht alle realisierbaren Vorkehrungen getroffen, um Zivilpersonen zu schonen. Außerdem verübte sie wahllose Angriffe, die nicht zwischen Zivilpersonen und militärischen Zielen unterschieden, sowie Angriffe, die möglicherweise gegen zivile Objekte gerichtet waren. 

Am 19. Oktober 2023 traf ein israelischer Luftangriff das Gelände der Kirche St. Porphyrius in Gaza-Stadt, auf dem Hunderte Vertriebene Zuflucht gesucht hatten, und tötete 18 Zivilpersonen. Ramez al-Sury verlor bei dem Angriff seine drei Kinder und zehn weitere Familienangehörige, darunter auch Säuglinge. Am 22. Oktober 2023 setzten die israelischen Streitkräfte bei Luftangriffen im südlichen Gazastreifen sogenannte JDAM-Bomben (Joint Direct Attack Munition) aus US-amerikanischer Produktion ein. Sie töteten 19 Zivilpersonen im Haus der Familie Abu Mu'eileq in Deir al-Balah, das in einem Gebiet lag, das Israel als sicher erklärt hatte. 

Nach Angaben des UN-Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden im Gazastreifen bis Ende des Jahres 65.000 Wohnungen zerstört und 1,9 Mio. Palästinenser*innen vertrieben. 76 Gesundheitseinrichtungen, 370 Schulen, 115 Moscheen und drei Kirchen wurden beschädigt oder zerstört. 

Die israelische Regierung stoppte am 7. Oktober 2023 Stromlieferungen an den Gazastreifen. Am 9. Oktober ordnete sie eine vollständige Belagerung des Gebiets an und kappte die Versorgung der Bewohner*innen mit Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser, Kraftstoff und Medikamenten.

Medienschaffende wurden ebenfalls angegriffen. Nach Angaben der US-Organisation Komitee zum Schutz von Journalist*innen (Committee to Protect Journalists) wurden 70 Journalist*innen getötet. Der Filmemacher Roshdi Sarraj wurde am 22. Oktober bei einem Luftangriff auf sein Haus in Gaza-Stadt getötet. 

Auch medizinisches Personal war Angriffen ausgesetzt. Bis Dezember 2023 mussten 23 von 36 Krankenhäusern im Gazastreifen schließen, weil sie beschädigt waren und keine Stromversorgung mehr hatten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte mit, dass bei Angriffen auf medizinische Einrichtungen und auf 76 Krankenwagen insgesamt 600 Patient*innen und Mitarbeiter*innen getötet wurden. Im Norden des Gazastreifens verfügten die Krankenhäuser al-Ahli und al-Shifa nur noch über fünf Prozent ihrer Kapazität, während Massen an Verwundeten und Kranken dort Hilfe suchten. Nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds lag die Bettenbelegung bei 310 Prozent. Das al-Amal-Krankenhaus in Khan Yunis wurde am 24. Dezember von einer Drohne angegriffen, dabei wurde ein 13-jähriger Junge getötet. 

Libanon

Im Libanon feuerten die Hisbollah, die eine politische Partei und einen bewaffneten Flügel umfasst, sowie andere bewaffnete Gruppen Raketen auf den Norden Israels ab (siehe Länderkapitel Libanon). Am 16. Oktober 2023 setzte die israelische Artillerie weißen Phosphor ein und beschoss damit die südlibanesische Stadt Dhayra. Bei grenzüberschreitenden Angriffen wurden etwa 120 Menschen im Libanon und mehr als zehn in Israel getötet. Bei israelischen Angriffen auf eine Gruppe von sieben Journalist*innen im Südlibanon wurde am 13. Oktober 2023 der Reuters-Journalist Issam Abdallah getötet.

Apartheid

Die israelischen Behörden erhielten ihr Apartheidsystem aufrecht, indem sie neue Gesetze einführten, die die Trennung von Palästinenser*innen und Israelis vertieften, Palästinenser*innen noch mehr ausgrenzten und sie in Israel in benachteiligte Gebiete verwiesen, und indem sie eine Politik verfolgten, die die systematische Enteignung von Palästinenser*innen vorantrieb. Willkürliche Zerstörungen, der Abriss von Häusern, die Verweigerung des Zugangs zu Feldern und anderen Lebensgrundlagen und staatlich unterstützte Gewalt von Siedler*innen dienten dazu, Palästinenser*innen verstärkt zu vertreiben.

Eine am 15. Februar 2023 verabschiedete Änderung des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft und die Einreise nach Israel erleichterte es den Behörden, Palästinenser*innen die Staatsbürgerschaft und ihren dauerhaften Aufenthaltsstatus abzuerkennen. Einige Palästinenser*innen könnten dadurch staatenlos werden. Am 25. Juli 2023 billigte das Parlament eine Änderung der Genossenschaftsverordnung. Nach Angaben von Adalah, einer Organisation zum Schutz der Rechte von Palästinenser*innen in Israel, wurde damit der Kreis der sogenannten Gemeinschaftsstädte (community towns), in denen Zulassungsausschüsse darüber entscheiden, wer dort wohnen darf, auf 437 Kommunen ausgedehnt. Die Ausschüsse haben die Befugnis, palästinensischen Bürger*innen Israels unter dem vagen Vorwand der "sozialen Untauglichkeit" eine Ansiedlung zu untersagen.

Vertreibung

OCHA zufolge rissen die israelischen Behörden im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem 1.128 Gebäude ohne militärische Rechtfertigung ab, wodurch 2.249 Palästinenser*innen vertrieben wurden. Darüber hinaus genehmigte das Hohe Gericht Israels den Abriss von sechs Häusern von Verwandten mutmaßlicher Angreifer, trotz einer Beschwerde der israelischen Bürgerrechtsorganisation HaMoked, die dieses Vorgehen als rechtswidrige Kollektivstrafe ansah. Nach Angaben der israelischen Organisation Ir Amim, die sich mit der Stadtplanung in Jerusalem befasst,genehmigten die israelischen Behörden im Jahr 2023 allein in Ost-Jerusalem den Bau von 18.500 Wohnungen für israelische Siedler*innen. Auch im übrigen Westjordanland wurden die völkerrechtswidrigen Siedlungen weiter ausgebaut.

Der Machtzuwachs von Politikern, die rassistischen Hass schürten, trug dazu bei, dass Gewalt durch Siedler*innen 2023 immer weiter um sich griff. Nach dem 7. Oktober nahm die Gewalt noch erheblich zu. Laut OCHA töteten israelische Siedler*innen 18 Palästinenser*innen und verletzten 367, während palästinensische Angreifer*innen 18 Siedler*innen töteten und 107 verletzten. 

Die Menschenrechtsorganisation B'Tselem teilte mit, dass durch Aktionen von Militärs und Siedler*innen eine derart bedrohliche Situation geschaffen worden sei, dass 1.009 Personen, die 16 Hirtengemeinschaften angehörten, sich gezwungen gesehen hätten, ihre Gebiete zu verlassen. Am 11. Oktober 2023 töteten israelische Siedler drei Palästinenser im Haus einer Familie in Qusra in der Nähe von Huwara. Ein vierter Mann wurde erschossen, als israelische Soldaten erschienen, um die Siedler zu schützen. Am 30. Oktober setzten Dutzende Siedler*innen zwei Häuser in Isfay al-Tahta in Masafer Yatta im südlichen Westjordanland in Brand. Viele Siedler*innen waren bewaffnet, einige trugen Armeeuniformen. Die meisten der gewalttätigen Siedler*innen gingen für ihre Verbrechen straffrei aus. 

Die Behörden verweigerten palästinensischen Bürger*innen Israels in 35 Beduinendörfern in der Wüste Negev/Naqab im Süden Israels weiterhin die offizielle Anerkennung und zerstörten dort Häuser. Im Juli 2023 genehmigten Gerichte die Vertreibung aller 500 Bewohner*innen des Dorfes Ras Jrabah. Diese hatten zuvor darum gebeten, als Stadtviertel in die nahe gelegene jüdische Stadt Dimona eingemeindet zu werden, doch hatten die örtlichen Behörden diesen Antrag ohne angemessene Konsultationen abgelehnt. Am 27. September zerstörten die israelischen Behörden zum 222. Mal das Dorf al-'Araqib in der Wüste Negev/Naqab.

Im Gazastreifen erließ die israelische Armee am 12. Oktober 2023 einen vagen kollektiven "Evakuierungsbefehl" für alle 1,1 Mio. Einwohner*innen, die im Norden des Gebiets lebten. Im November und Dezember ordneten die israelischen Streitkräfte die Vertreibung der Zivilbevölkerung in Teilen des südlichen Gazastreifens an, einschließlich der Städte Deir al-Balah und Khan Younis. Anfang Dezember gab es im Gazastreifen 1,9 Mio. palästinensische Binnenvertriebene.

Rechtswidrige Tötungen

Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem

Das Jahr 2023 war für die Palästinenser*innen im Westjordanland das tödlichste seit 2005, weil bei Einsätzen israelischer Sicherheitskräfte immer mehr Menschen ihr Leben verloren. Die Tötungen durch Sicherheitskräfte blieben ungestraft, und führende Politiker riefen zu Gewalt auf.

Nach Angaben von OCHA töteten israelische Sicherheitskräfte bei Einsätzen gegen bewaffnete Gruppen in Jenin und Nablus 493 Palästinenser*innen, überwiegend Zivilpersonen. Mehr als 12.500 Menschen wurden verletzt. 

Die NGO Defence for Children International – Palestine berichtete, dass israelische Sicherheitskräfte im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem im Jahr 2023 insgesamt elf Kinder töteten. Am 5. Juni erlag der dreijährige Mohammed al-Tamimi seinen Verletzungen, nachdem israelische Sicherheitskräfte ihn in Nabi Saleh nördlich von Ramallah angeschossen hatten, als sein Vater ihn zu einer Geburtstagsfeier fuhr. Es gab keine strafrechtliche Untersuchung des Vorfalls. 

Im Flüchtlingslager Jenin im Norden des Westjordanlandes kam es das gesamte Jahr über zu Einsätzen israelischer Sicherheitskräfte, bei denen von Januar bis Juli 2023 mindestens 23 Palästinenser*innen getötet wurden. Bei Vergeltungsangriffen bewaffneter Palästinenser*innen auf israelische Zivilpersonen wurden am 20. Juni in der Nähe der Siedlung Eli vier Menschen getötet. Am 21. Juni griffen Hunderte Siedler*innen das palästinensische Dorf Turmusayya südlich von Eli an, töteten einen Bewohner und setzten 15 Häuser in Brand. Ab Oktober 2023 führten die israelischen Sicherheitskräfte wiederholt Razzien in Jenin durch, bei denen nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums mindestens 116 Menschen getötet wurden, u. a. bei einem Luftangriff auf die Al-Ansar-Moschee am 22. Oktober. 

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Die israelischen Behörden unternahmen nichts, um von der israelischen Armee verübte Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, wie rechtswidrige Tötungen im Westjordanland und Kriegsverbrechen im Gazastreifen, unverzüglich, gründlich und unabhängig zu untersuchen. Israel weigerte sich weiterhin, mit der vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzten Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission zusammenzuarbeiten, und verweigerte der UN-Sonderberichterstatterin über die Menschenrechtssituation in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten die Einreise. Ende Oktober 2023 besuchte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Israel, das Westjordanland und den Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Am 29. Dezember 2023 reichte Südafrika beim IGH eine Klage und einen Eilantrag ein. Nach Ansicht Südafrikas verstieß das Vorgehen Israels im Gazastreifen gegen die UN-Völkermordkonvention von 1948.

Recht auf Freizügigkeit

Die willkürlichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Palästinenser*innen wurden nach dem 7. Oktober 2023 weiter verschärft und kamen in einigen Fällen einer Kollektivstrafe gleich. Die Abriegelungen verhinderten den Transport von Patient*innen in Krankenhäuser.

Im Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, gab es nach Angaben von OCHA 645 Kontrollpunkte, Straßensperren und Barrieren. Davon befanden sich 80 in Hebron, der bevölkerungsreichsten Stadt des Westjordanlandes, in deren Zentrum etwa 600 Siedler*innen illegal lebten. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation B'Tselem verhängte die israelische Armee nach dem 7. Oktober eine 14-tägige Ausgangssperre über rund 750 Familien in elf Vierteln im Zentrum von Hebron. Am Checkpoint 54 in Hebron war die Ausgrenzung von Palästinenser*innen durch den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie automatisiert. Auch in Ost-Jerusalem wurde Gesichtserkennungstechnologie genutzt, um den Zugang für Palästinenser*innen zu beschränken. Die Armee riegelte Dörfer und Flüchtlingslager ab und hinderte Palästinenser*innen daran, ihre Felder und übrigen Anbauflächen zu erreichen. 

Die israelischen Behörden entzogen am 11. Oktober 2023 Tausenden Arbeiter*innen aus dem Gazastreifen ohne Vorwarnung ihre Arbeitserlaubnis für Israel und machten sich daran, die Betroffenen zu inhaftieren. Sie wurden mindestens drei Wochen lang ohne Kontakt zur Außenwelt auf Militärstützpunkten festgehalten. Zwei Männer starben in der Haft, ihre Todesumstände wurden jedoch nicht ordnungsgemäß untersucht.

Vor der Küste des Gazastreifens schossen israelische Sicherheitskräfte im Verlauf des Jahres 2023 auf mindestens acht palästinensische Fischer, die dadurch bleibende Schäden erlitten. Vor Beginn der israelischen Angriffe nach dem 7. Oktober lebten nach Angaben der Fischereigewerkschaft im Gazastreifen mehr als 90 Prozent der Fischerfamilien in Armut, weil die Fischereizone eng begrenzt war und der Export des Fischs Einschränkungen unterlag.

Recht auf Gesundheit

Ab Januar 2023 verschlechterte sich die Gesundheitsversorgung in den besetzten palästinensischen Gebieten, da Israel die im Namen der palästinensischen Behörden eingezogenen Steuern zurückhielt, wodurch es in der Folge zu einem Mangel an Medikamenten kam. Im Gazastreifen führte die israelische Blockade nach Angaben der Organisation Save the Children dazu, dass in der ersten Jahreshälfte fast 400 Kindern lebensnotwendige medizinische Behandlungen verweigert wurden. 

Ab Oktober 2023 wurden die Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen durch Angriffe zerstört, und die medizinischen Reserven wurden eingesetzt, um etwa 55.000 Verletzte zu versorgen. Da die Grenzen abgeriegelt waren, konnten selbst Schwerverletzte nicht außerhalb des Gazastreifens behandelt werden. Weil die improvisierten Unterkünfte völlig überfüllt waren, es dort im Durchschnitt nur eine Toilette für 486 Personen gab und sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen fehlten, nahmen Atemwegs-, Magen- und Hauterkrankungen stark zu. Nach Angaben von UNICEF wurden 1.000 verletzten Kindern unter unzureichenden Bedingungen die Beine amputiert. Mitte Dezember 2023 litten nach Angaben der WHO 93 Prozent der Menschen im Gazastreifen an Hunger. Damit stieg ihr Risiko, an Krankheiten zu sterben, die unter anderen Umständen heilbar waren. Dies galt insbesondere für schwangere und stillende Frauen.

Willkürliche Inhaftierung

In den ersten vier Wochen nach dem 7. Oktober 2023 nahmen israelische Sicherheitskräfte nach Angaben der NGO Palestinian Prisoners’ Club mehr als 2.200 Palästinenser*innen fest. Die israelischen Behörden beriefen sich auf das Gesetz über "ungesetzliche Kombattanten", eine Kategorie, die im humanitären Völkerrecht nicht existiert, um 661 Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festzuhalten. Die NGO HaMoked teilte mit, dass sich Ende 2023 etwa 3.291 Palästinenser*innen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Verwaltungshaft befanden. 

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bestätigte, dass palästinensischen Gefangenen nach dem 7. Oktober der Kontakt zu ihren Familien und Rechtsbeiständen verweigert wurde – unter Verweis auf den "Nationalen Notstand", der am 31. Oktober bis zum Jahresende verlängert wurde.

Im Fall des gewaltlosen politischen Gefangenen Mohammed al-Halabi, einem Mitarbeiter einer humanitären Organisation im Gazastreifen, weigerten sich die israelischen Behörden, eine Zusammenfassung der Beweise und Argumente zugänglich zu machen, die zu seiner Verurteilung geführt hatten.

Folter und andere Misshandlungen

Am 5. und 6. April 2023 schlugen israelische Sicherheitskräfte Erwachsene und Kinder, die in der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem beteten, und schürten damit religiöse Spannungen. Sie nahmen auf dem Gelände der Moschee mindestens 450 Palästinenser*innen fest und ließen sie nach den Misshandlungen später barfuß wieder frei. 

Nach dem 7. Oktober nahmen Folter und andere Misshandlungen zu. Nach Angaben der israelischen NGO Public Committee against Torture in Israel starben mindestens sechs Gefangene unter ungeklärten Umständen. Im Gazastreifen hielten israelische Soldaten bei zwei Gelegenheiten Palästinenser mit verbundenen Augen, ohne Kleidung und mit gefesselten Händen auf einer Straße fest und schlugen sie. 

Im März 2023 verlängerte ein Gericht die bereits lang andauernde Einzelhaft von Ahmad Manasra, der wiederholt unter psychischen Problemen litt. Im Mai 2023 starb der Gefangene Khader Adnan nach einem dreimonatigen Hungerstreik ohne angemessene medizinische Versorgung. Seit 1992 war er der erste palästinensische Gefangene, der infolge eines Hungerstreiks starb. 

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Nachdem die Regierung im Januar 2023 ihre Pläne für eine Justizreform angekündigt hatte, gingen Hunderttausende Israelis auf die Straße, um dagegen zu protestieren. In einigen Fällen reagierte die Polizei mit übermäßiger Gewalt und nahm zahlreiche Menschen willkürlich fest. 

Im Westjordanland wurde das Recht der Palästinenser*innen auf friedliche Proteste und Versammlungen weiterhin mithilfe der israelischen Militärverordnung 101 unterdrückt. Im September 2023 verwüsteten israelische Sicherheitskräfte das Gebäude der Studierendenvertretung der Universität Birzeit. Am 8. November lehnte das Hohe Gericht Israels eine Eingabe ab, die gefordert hatte, Antikriegsdemonstrationen in palästinensischen Städten im Norden Israels polizeilich zu genehmigen. Demonstrationen jüdischer Bürger*innen Israels wurden zugelassen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Im September 2023 verabschiedete die Regierung ein Gesetz zum Klimawandel, das vorsah, die Emissionen bis 2030 um 30 Prozent zu senken, jedoch keine Vorgaben zur Umsetzung enthielt.

Obwohl Israel zu den Ländern mit hohem Einkommen zählt, waren noch keine Schritte unternommen worden, um die Nutzung fossiler Brennstoffe zu beenden. Stattdessen begann das Energieministerium am 29. Oktober 2023 mit der Erschließung neuer Gasvorkommen. 

Die schwere Bombardierung des Gazastreifens verursachte Umweltverschmutzung und Treibhausgase, die nach Ansicht des UN-Sonderberichterstatters über die Menschenrechte und die Umwelt die Gesundheit der Bewohner*innen und die Umwelt auf Jahre hinaus schädigen werden. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Kabinettsmitglieder schürten die Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen sowie von Frauen, deren Personenstandsstatus weiterhin durch religiöse Gesetze geregelt wurde. Am 28. Dezember 2023 entschied das Hohe Gericht, dass der Staat gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder adoptieren wollen, nicht mehr diskriminieren dürfe. 

Rechte von Militärdienstverweiger*innen

Acht Wehrpflichtige – jüdische und arabische Bürger*innen Israels – wurden inhaftiert, weil sie den Militärdienst mit der Begründung verweigert hatten, ihre Prinzipien würden ihnen die Unterdrückung der Palästinenser*innen verbieten. Yuval Dag wurde zwischen März und Juni 2023 viermal inhaftiert.

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