Aktuell Israel und besetzte Gebiete 12. April 2024

"Wir könnten jederzeit festgenommen werden"

Das Bild zeigt mehrere Soldaten, ein Soldat führt einen Mann in einen Einsatzwagen

Israelische Sicherheitskräfte nehmen in Haris im Westjordanland einen Palästinenser fest (Archivaufnahme vom November 2022).

Die Organisation Addameer setzt sich für die Rechte palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen ein. Tausende wurden seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 festgenommen, erklärt Direktorin Sahar Francis. Viele von ihnen wüssten nicht einmal, was ihnen vorgeworfen wird.

Interview: Hannah El-Hitami

Sie sagten einmal in einem Interview, dass nahezu alle Palästinenser*innen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten direkt oder indirekt von Haft betroffen sind. Können Sie das genauer erklären?

Die israelische Besatzungsmacht nutzt die Inhaftierung von Palästinenser*innen schon lange als Instrument der Unterdrückung. Täglich gibt es Razzien. Unter dem Sicherheitsvorwand können sie festnehmen, wen und wo sie wollen. Aktuell sitzen mindestens 9000 palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen. Das sind 9000 Individuen, deren Familien mitbetroffen sind. Auch sie erleben die Hausdurchsuchungen, die Erniedrigungen und Einschüchterungen im Zuge der Festnahme. Oft verwüsten die Soldaten das ganze Haus, konfiszieren Geld oder Autos. Außerdem leiden viele Menschen darunter, dass sie ihre Familienmitglieder nicht im Gefängnis besuchen dürfen. Sie wissen nicht, wann sie freigelassen werden. Das ist eine psychische Folter, die nicht nur die Gefangenen betrifft.

Was hat sich seit dem 7. Oktober 2023 verändert?

Die Situation der Gefangenen in israelischen Gefängnissen war immer schwierig. Verändert hat sich nur die Anzahl der Betroffenen und das Ausmaß der Misshandlung. Vor dem 7. Oktober gab es 5200 Gefangene. Seitdem haben israelische Besatzungskräfte mehr als 7700 Palästinenser*innen aus der West Bank und Ostjerusalem festgenommen. (Anmerkung der Redaktion: Diese wurden teilweise nach einiger Zeit wieder freigelassen.) Dazu zählen noch nicht die Inhaftierten aus Gaza. In Zellen für fünf Personen sind jetzt bis zu 14. Sie schlafen auf dem Boden, weil es nicht genug Matratzen gibt. All diese Gefangenen werden in Israel festgehalten, was an sich schon gegen das Völkerrecht verstößt: Israel darf keine Gefangenen aus den besetzten Gebieten in sein Staatsgebiet transferieren.

Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau

Sahar Francis (54) ist Rechtsanwältin und seit 2006 Direktorin von Addameer. Die Organisation setzt sich für die Rechte palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen ein. Franics lebt zwischen Ramallah, wo der Sitz der Organisation ist, und ihrem Heimatort Fassuta im nordisraelischen Galiläa.

Sie sprechen von Misshandlung. Was passiert in den Gefängnissen?

Sofort nach dem 7. Oktober hat die israelische Regierung die Befugnisse der Gefängnisbehörden erweitert. Alle Familienbesuche wurden abgesagt, ebenso wie Besuche des Roten Kreuzes. Auch Treffen mit Anwält*innen wurden eingeschränkt. Nach ihrer Freilassung berichteten uns Gefangene, dass immer wieder der Strom oder das Wasser abgestellt wurde, was wir als Kollektivstrafe bezeichnen. Die Gefangenen dürfen nicht täglich duschen und haben auch keine frische Kleidung zum Wechseln. Viele nehmen während der Haft stark ab. Zellen wurden gewaltvoll durchsucht, Gefangene wurden mit Metallstäben geschlagen. Zudem wurden alle Krankenstationen in den Gefängnissen geschlossen, was drastische Folgen für verletzte oder kranke Gefangene hatte. Vierzehn Personen aus der West Bank und Ostjerusalem sind seit Oktober in israelischen Gefängnissen gestorben. Das ist viel mehr als in den Jahren zuvor.

Was ist mit den Gefangenen aus Gaza?

Sie wurden erst in Haftanstalten in Gaza oder an der Grenze festgehalten und dann in spezielle Militärcamps gebracht. Wir erfuhren aus den israelischen Medien, dass die Haftbedingungen dort noch härter sind. Die Gefangenen müssen rund um die Uhr Augenbinden und Handschellen tragen. Sie sitzen auf dünnen Matratzen und dürfen sich tagsüber nicht hinlegen. Sie hungern und werden körperlich angegriffen, erniedrigt und sexuell misshandelt. In manchen Fällen wurden Männer auf ihre Geschlechtsteile geschlagen, während sie nackt waren. In den letzten Monaten haben die Erniedrigungen und körperlichen Angriffe ein ganz neues Level erreicht.

Können Sie einen typischen Fall beschreiben, den Sie in den letzten Monaten betreut haben?

Eine palästinensische Frau, die für die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit gearbeitet hat, wurde Anfang März auf dem Weg von Deutschland in die West Bank festgenommen. Sie wurde sofort in Administrativhaft genommen.

…die ermöglicht, dass Palästinenser*innen auf Grundlage geheimer Informationen der israelischen Sicherheitsdienste ohne Anklage oder Gerichtsverfahren monate- oder sogar jahrelang festgehalten werden können.

Ihr wird vorgeworfen, dass sie zu Gewalt aufgerufen und die Sicherheit des Staates gefährdet habe. Im angeblichen Tatzeitraum war sie die meiste Zeit in Deutschland und arbeitete.  Beim Gerichtsprozess letzte Woche berichtete sie, dass ihr Verhör nur eine halbe Stunde dauerte und die Vorwürfe unspezifisch waren. Ihr wurde nicht gesagt, was für Taten sie genau begangen haben soll. Da die Administrativhaft auf Geheiminformationen basiert, können wir als Anwält*innen kaum etwas tun. Wir können nur im Nachhinein dagegen vorgehen. Aktuell sind mehr als 3500 Menschen in Administrativhaft, das ist die höchste Anzahl seit 1967. Den meisten wird vorgeworfen, dass sie zu Gewalt aufgerufen oder Terrorismus unterstützt hätten. Die Anzeigen beziehen sich vor allem auf die Teilnahme an Demonstrationen oder auf Posts in den sozialen Medien, die sich für den Schutz der Menschen in Gaza aussprechen. Das kann als Unterstützung der Hamas ausgelegt werden.

Addameer hat selbst mit Repressalien durch die israelische Regierung zu kämpfen. Was haben Sie und Ihre Kolleg*innen erlebt?

Über die Jahre hatten wir es mit Schmutzkampagnen und Reiseverboten zu tun, unser Büro wurde mehrmals durchsucht und Mitarbeiter*innen wurden in Administrativhaft genommen. Im Oktober 2021 wurden wir als terroristische Organisation bezeichnet und verboten. Seitdem arbeiten wir unter der ständigen Bedrohung, dass wir jederzeit festgenommen werden könnten. Bisher ist das zum Glück nicht passiert. Da die Regierung uns für illegal erklärt hat, können wir leider keine Gefangenen besuchen oder vertreten. Die Anwält*innen arbeiten jetzt nicht mehr in unserem Namen. Das Verbot basiert übrigens auch auf geheimen Informationen. Wir haben nie gesehen, was sie uns vorwerfen und welche Beweise sie dafür nutzen. Wie sollen wir uns also verteidigen?

Gemeinsam mit acht weiteren EU-Staaten erklärte Deutschland 2022, dass es keine ausreichenden Beweise für das Verbot von Addameer und anderen palästinensischen Organisationen gebe und dass es die Zusammenarbeit mit diesen daher fortsetzen werde.

Das hat sich nun leider geändert. Nach dem 7. Oktober hat das deutsche Außenministerium beschlossen, die Finanzierung der Organisationen einzustellen, die von Israel als terroristisch kategorisiert wurden.

Ist die erhöhte Aufmerksamkeit für den Nahostkonflikt auch eine Chance für Ihre Arbeit?

Es gibt gerade weltweit mehr Unterstützung denn je für die Palästinenser*innen. Leider ist die Lage der Gefangenen dabei nicht so präsent. Natürlich hat das, was gerade in Gaza passiert, Priorität. Aber wir sollten auch auf den Gesamtkontext blicken. Alle Menschenrechtsverletzungen, die wir dokumentieren, ob in Gaza, in den Gefängnissen oder in der West Bank, wo Land konfisziert wird und Häuser zerstört werden – all das ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Besatzung.

Was fordern Sie von Regierungen wie der deutschen?

Ich beschäftige mich seit Jahren damit, wie die israelische Besatzungsmacht gegen das Völkerrecht verstößt. So wurde ich Anwältin in den besetzten Gebieten und ich bin immer noch überzeugt davon, dass dies der Weg ist, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Die internationale Gemeinschaft, die Staaten und die Vereinten Nationen müssen dafür sorgen, dass Israel seine Pflichten nach internationalem Recht erfüllt. Wir haben gesehen, wie deutsche Gerichte syrische Täter wegen Folter in Syrien verurteilt haben. Auch israelische Täter*innen müssen für die Folter, die willkürlichen Inhaftierungen, Erniedrigungen und andere Verletzungen des humanitären Völkerrechts angeklagt werden. Wenn Deutschland hier nicht die gleichen Rechte garantiert, dann zeigt das eine Doppelmoral. Menschenrechte müssen überall gleichermaßen respektiert werden.

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