Amnesty Journal Ukraine 13. Juli 2022

Vom Krieg gezeichnet

Eine Frau und ein Mann posieren vor einem Bücherstapel für ein Foto und lächeln.

Sie illustrieren Literatur, schreiben auch eigene Bücher. Ausgezeichnete Bücher. Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw aus dem ukrainischen Lwiw. Am liebsten zeigt das Künstlerpaar Kindern und Jugendlichen die bunte Welt. Aber der Krieg verändert die Dinge.

Von Cornelia Wegerhoff

Im Flur stehen jederzeit griffbereit Rucksäcke parat: Mit den wichtigs­ten Papieren, einigen Medikamenten, einer Notration an Lebensmitteln und Trinkwasser für drei Tage. Wenn die Sirenen aufheulen, kommen dann noch schnell die mobilen Festplatten dazu. Darauf sei ihr Archiv gespeichert, sagt Andrij Lessiw. Und Papier und Stifte müssten natürlich auch mit, ergänzt Romana Romanyschyn. Sie habe diese Angewohnheit, ständig etwas zeichnen zu müssen. Selbst während des Video­gesprächs liegt ein kleiner Block neben der 37-Jährigen. Bei Luftalarm, wenn sich das ukrainische Künstlerpaar vor einem möglichen russischen Raketenangriff in Sicherheit gebracht hat, sei es beruhigend, irgendetwas zu Papier zu bringen.

Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw, beide Jahrgang 1984, leben in Lwiw, im Westen der Ukraine. Das Zeichnen ist ihr Beruf. Gemeinsam führen sie das Kunststudio "Agrafka", illustrieren Bücher und schreiben und gestalten auch eigene Werke. Ihre Kinder- und Jugendbücher wurden bereits in 23 Ländern veröffentlicht. Das ukrainische Künstlerduo setze "neue Maßstäbe", schwärmt die deutsche Literaturkritik.

Metamorphosen von Alltagsgegenständen

Das in Neonfarben leuchtende Sachbuch "Sehen" ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Naturwissenschaftliche Erklärungen zur Funktionsweise des menschlichen Auges sind darin ungezwungen kombiniert mit einem philosophischen Blick auf die Dinge. Die Grafiken seien plakativ und inspirierend, die poppigen Farben sorgsam durchkomponiert, lobt die Jury. Wörtlich hieß es: "Das Aufsehen erregende Sachbuch ist Aufforderung und Ermutigung, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sich mit Fragen der (eigenen) Wahrnehmung zu beschäftigen."

Aber Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw haben schon seit Jahren nicht mehr nur die schöne bunte Welt im Blick. "Das Gefühl, im Krieg zu sein, kennen wir schon seit 2014", sagt Andrij Lessiw, "seit Russland die Krim annektiert und danach den Krieg im Donbass begonnen hat." Die Kampfhandlungen waren da zwar noch fast tausend Kilometer von Lwiw entfernt, aber schon damals wurden etliche ihrer Freunde zur Armee einberufen. Lessiw blieb vor der Einberufung bewahrt. Einige ihrer Freunde seien jedoch ums Leben ­gekommen, erzählt das Ehepaar. Weil ­immer mehr Flüchtlinge kamen, habe sich auch Lwiw in den vergangenen acht Jahren verändert. "Das alles hat uns und unsere Arbeit sehr geprägt", stellt Romanyschyn fest.

Das Paar hat sich mit dem Krieg und ­seinen Folgen auch künstlerisch auseinandergesetzt. 2018 gestalteten die beiden die ukrainischsprachige Ausgabe von Ernest Hemingways Novelle "A farewell to arms" (dt. "In einem andern Land") aus dem Jahr 1929. Der US-amerikanische Schriftsteller ließ darin seine Erlebnisse als Sanitäter im Ersten Weltkrieg einfließen und erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem amerikanischen Soldaten und einer britischen Krankenschwester an der Front in Italien. Romanyschyn und Lessiw zeigen auf dem Buchcover eine Uniform und eine Schwesterntracht. Das untere Ende der Kleider wirkt zerfetzt. So wie der Krieg in der Ukraine auch heute wieder die Körper von Soldaten und Zivilpersonen zerfetzt, stellen die Künstler*innen bitter fest. In ihren Hemingway-Illustrationen durchlaufen selbst simple Alltagsgegenstände eine Art Metamorphose. Da ist zum Beispiel links der schmale Ast einer Kiefer, an dem ein faustgroßer Zapfen hängt. In der rechten Bildhälfte ist zwar das ovale Gebilde geblieben, seine Oberfläche hat immer noch eine gerippte Struktur, aber der Kieferzapfen ist zur Handgranate mutiert. Der Krieg verändert die Dinge.

Das Gefühl, im Krieg zu sein, kennen wir schon seit 2014, seit Russland die Krim annektiert und danach den Krieg im Donbass begonnen hat.

Andrij
Lessiw
ukrainischer Künstler

Auch in Lwiw schlugen in den vergangenen Wochen mehrfach russische Raketen ein, es gab Tote und Verletzte. Der russische Angriffskrieg, der am 24. Februar 2022 begann, habe eine völlig neue Dimension, sagen Romanyschyn und Lessiw. Aber sie fühlten sich emotional besser vorbereitet als 2014. "Wir verstehen, dass unser Feind uns Angst machen will", sagt Lessiw. Die Ukraine schlage sich sehr gut gegen das mächtige Russland. Deshalb glauben sie an ihren Sieg. Daran, die Heimat zu verlassen, hat das Künstlerpaar, das seit 13 Jahren verheiratet ist, noch keinen Gedanken verschwendet. Nur ihre Eltern seien voller Panik gewesen, berichtet Romanyschyn. "Sie haben uns weggeschickt, aufs Land." Doch nach drei Wochen kehrte das Paar nach Lwiw zurück und ließ sich von befreundeten Architekten erklären, wo in dem Altbau, in dem sie wohnen, im Ernstfall der sicherste Ort ist.

Romana Romanyschyn ist in Lwiw geboren. Ihr Vater ist ein bekannter Maler. Schon als Kind liebte sie Bücher. Ihre Eltern brachten ihr von Reisen Kinderliteratur aus Lettland und Litauen mit, wo man eine andere Buchtradition pflegt als in der Ukraine. Diese Bücher seien oft finsterer gewesen, farblich wie inhaltlich. Anspruchsvoller, meint die Künstlerin – es sei wichtig, Kinder ernst zu nehmen.

Die Energie ist ein Grund, zu bleiben

Andrij Lessiw stammt aus einem kleinen Ort in den Karpaten, gut 200 Kilometer südlich von Lwiw. Er wuchs in einer Ärztefamilie mit einer großen Bibliothek auf, die ihn schon in jungen Jahren magisch anzog. Romana lernte er als Teenager kennen. Sie besuchte dieselbe Kunstschule in Lwiw, und zusammen wechselten sie an die Nationale Kunstakademie. Sie studierte Glaskunst, er Restaurierung und Konservierung. Schon an der Hochschule begann das Paar, für das ukrainische Verlagshaus "Liptopys" zu zeichnen. Bücher zu illustrieren wurde ihre Leidenschaft, und gemeinsam erhielten sie Stipendien für die polnischen Kunstakademien in Warschau und Krakau, wo sie sich auf professionelles Buchdesign spezialisierten. Ihre Werke entstehen arbeitsteilig: Romanyschyn zeichnet, auf Papier und digital. Lessiw widmet sich dem Layout, der technischen Aufbereitung und den Texten. Mit Erfolg: Die Liste ihrer nationalen und internationalen Auszeichnungen ist mittlerweile länger als die ­beiden Lebensläufe zusammen.

Sie hätten sich lange gescheut, eigene ­Bücher zu schreiben, bekennen die Ukrainer*innen, angesichts der großen Auto­r*in­nen, deren Werke sie zuvor illustrierten. Doch die Geschichte eines autistischen Kindes – des Sohns einer Freundin – habe sie schließlich inspiriert. "Stars and Poppy Seeds" erzählt von der Zahlenbegabung dieses Kindes. "Wir wollten zeigen, dass jeder die Fähigkeit hat, jemand Besonderes zu sein", so Romanyschyn. Ihr literarisches Debüt erhielt 2014 auf Anhieb den italienischen Kinderbuchpreis Bologna Ragazzi Award.

Wir zeigen keine Kämpfe, kein Blut, keine Verwundeten. Wir erzählen durch Symbole.

Andrij
Lessiw
ukrainischer Künstler

Die Ukraine habe viele Talente, betonen die beiden Künstler*innen bescheiden. Der sogenannte Euromaidan, die Protestbewegung von November 2013 bis Februar 2014 habe die ukrainische Kultur aufblühen lassen. Als die damalige Regierung in Kiew erklärt hatte, sie wolle das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst doch nicht unterzeichnen, waren in Kiew Hunderttausende auf die Straße gegangen. Auch Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw demonstrierten. "Wir wollen uns auf Europa zubewegen, hin zu den europäischen Werten", sagen sie. Das sei auch der Grund, jetzt in der Ukraine zu bleiben. Es sei eine beeindruckende Energie zu spüren, berichten die Künstler*innen. Trotz des russischen Krieges wollten alle die Entwicklungen im Land vorantreiben. Und die beiden wollen ein Teil davon sein.

Beliebtes Buch

In der Ukraine herrscht gerade große Nachfrage nach dem zweiten Buch, das Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw geschrieben haben: "Als der Krieg nach Rondo kam", so der Titel der Kindergeschichte, die im September auch auf Deutsch erscheinen wird. Das Buch entstand unmittelbar nach der russischen Annexion der Krim. Zunächst wird darin in bunten Farben das Leben in der fiktionalen Stadt Rondo dargestellt, ein Leben voller Licht, Kunst und Musik. Die fabelgleichen Wesen, die in Rondo wohnen, bestehen aus fragilen Materialien wie Glas und Papier. Als Rondo unerwartet vom Krieg heimgesucht wird, bricht Dunkelheit über die Stadt herein. Aus den Zeichnungen weichen alle Farben, Grau und Schwarz beherrschen die Buchseiten, über die kleine Panzer rollen. Doch dann werden ausgerechnet aus den fragilen Protagonisten mutige Helden.

"Es ist eine philosophische Geschichte. Wir zeigen keine Kämpfe, kein Blut, keine Verwundeten. Wir erzählen durch Symbole", so Lessiw. Er und seine Frau ­erhielten für das Anti-Kriegsbuch 2015 gleich noch einmal den italienischen ­Kinderbuchpreis. Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw hoffen, dass die Geschichte von Rondo jetzt Eltern hilft, ihren Kindern und sich selbst Mut zu machen. Ihr Motto: "Die einen kämpfen mit der Waffe, wir schreiben Texte und gestalten Bücher."

Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: Sehen, Gerstenberg 2021, 56 Seiten, 20 Euro; Als der Krieg nach Rondo kam, Gerstenberg 2022, 40 Seiten, 16 Euro. Weitere Infos: www.agrafkastudio.com.

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