Amnesty Journal Ukraine 04. Januar 2024

Helfen, unermüdlich helfen

Die Hausfront eines von Raketen zerstörten mehrstöckigen Wohngebäudes.

Auch dort griff Russland an: Das Saltiwka-Viertel in Charkiw, Oktober 2023

Der Französischdozent Ihor Lohvynov transportiert seit fast zwei Jahren Hilfsgüter an die ukrainisch-russische Front und evakuiert Menschen. Was treibt ihn an?

Aus Czernowitz und Cherson von Keno Verseck (Text und Fotos)

Artilleriegeschütze donnern. Diesmal sind es die der ukrainischen Armee, auf dieser Seite des Flusses. Die russischen Angriffe beginnen wohl erst am frühen Abend, wie so oft.

Ein warmer Spätsommernachmittag in Cherson in der Südukraine, wenige hundert Meter vom Flussufer des Dnipro. Ein Transporter steht vor dem Büro einer lokalen Nichtregierungsorganisation, das auch als Lagerhaus dient. Ihor Lohvynov und einige andere laden Hilfsgüter aus und bringen sie in das Büro: Kartons mit Lebensmitteln, Tabletten zur Wasserreinigung, Babynahrung und Windeln, Kleidung. Zwei Frauen mit ihren kleinen Söhnen kommen und holen sich Tüten mit Nudeln, Öl, Mehl und haltbarer Milch ab.

Unter dauerhaftem Beschuss

Die Gegend ist wie ausgestorben und wirkt gespenstisch. Nur wenige Leute sind zu Fuß unterwegs, kein Auto fährt, ein Café, das geöffnet hat, ist leer. Zwischen dem Donnern der Artillerie zwitschern die Vögel. Ihor Lohvynov drängt beim Entladen. "Wir müssen fertig werden, ­bevor sie von drüben anfangen zu schießen."

Cherson hatte einst fast 300.000 Einwohner. Nach der achtmonatigen russischen Besetzung und der Befreiung im November 2022 sind es heute nur noch ­einige Zehntausend. Die Stadt wird von der anderen Seite des Flusses Dnipro permanent beschossen, fast täglich gibt es Tote und Verletzte. Der ukrainische Staat versucht, das Leben in der Stadt zu normalisieren. Doch viele, die hier ausharren, haben keine Arbeit und sind auf Spenden angewiesen.

Ihor Lohvynov ist mit einigen freiwilligen Helfer*innen aus Czernowitz hergekommen, einer westukrainischen Stadt, die 900 Kilometer entfernt liegt. Der 44-Jährige ist hauptberuflich Dozent für französische Sprache und Literatur an der dortigen Universität und wohnt mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern in einem schönen Haus in der Altstadt. Bis zum Beginn des Krieges im Februar 2022 hatte die Familie ein unbeschwertes Leben. Ihor fuhr oft zum akademischen Austausch nach Frankreich. Er träumte davon, die Welt zu bereisen.

Über Nacht sein Leben verändert

Der Krieg änderte über Nacht sein Leben: Seitdem fährt er einmal pro Monat für einige Tage in den Süden oder Osten der Ukraine. Zusammen mit Freund*innen bringt er Hilfsgüter dorthin und evakuiert Menschen, er opfert dafür nahezu seine gesamte Freizeit. 

Es gibt Hunderttausende Freiwillige in der Ukraine, die neben ihrer Arbeit nichts anderes tun, als zu helfen. Ohne sie wäre der ukrainische Widerstand ­gegen die russische Aggression in den ersten Monaten weitgehend zusammengebrochen, ohne sie stünde es auch heute noch weitaus schlechter.

Ein Mann mit Soldatenhelm und Schussweste, auf der "Press" steht, befindet sich vor einem durch Raketenbeschuss zerstörten Gebäude.

Inmitten der Zerstörung: Ihor Lohvynov , Bachmut, Januar 2023

"Eine Freiwilligenbewegung gab es in der Ukraine schon 2014, als Russland die Krim annektierte und den Krieg im Osten der Ukraine begann", sagt der Politologe Maksym Dshyhun aus Kiew. "Weil es diese Strukturen gab, konnten Freiwillige nach dem Februar 2022 zum Rettungs­anker für Staat und Militär werden. Wo Ministerien manchmal Monate brauchten, um Schutzwesten zu liefern, stellten zivile Aktivisten Ausrüstung in wenigen Tagen zur Verfügung."

Ein Offizier der Armee bestätigt das. Dmytro Linko, Kommandant der Spezialeinheit Stugna, die in umkämpften Orten der Front eingesetzt wird, sagt, die Hilfe von Freiwilligen habe seit Kriegsbeginn wesentlich dazu beigetragen, die Arbeit der Einheit zu sichern. "Anfangs haben uns Freiwillige mit allem Nötigen versorgt, vom Staat bekamen wir nur Waffen und Munition", sagt Linko. "Sogar jetzt noch bringen sie uns Ausrüstung wie zum Beispiel kleine Aufklärungsdrohnen."

FreeDom Trust gegründet

Ein eisiger Wintertag Anfang 2023 in Czernowitz, ein Wohnhaus im Zentrum der Stadt. Im letzten Licht des Spätnachmittags tragen einige Männer, darunter auch Ihor, Kartons und Taschen aus einem Keller und beladen drei Lieferwagen: Schlafsäcke, Decken, warme Kleidung, Schuhe, Konserven, Nudeln, Mehl, Medikamente, Verbandszeug, zwei Generatoren. Vieles davon kommt aus Deutschland. Ein paar Stunden später, nachts um halb zwei, geht der Transport los.

Am Morgen erwacht eine Ukraine, in der scheinbar noch Normalität herrscht: Reger Autoverkehr, geöffnete Geschäfte in Städten und Dörfern, gepflügte Felder. Wären da nicht überall Panzersperren und Checkpoints mit Soldaten. Das Bild wandelt sich, je weiter man nach Osten kommt. Man sieht zerstörte Straßenabschnitte, gesprengte Brücken, Ruinen, ausgebrannte Lastwagen und Panzer – und immer mehr Militärkolonnen.

Ihor wollte im Februar 2022 selbst als Soldat an die Front. Gleich nach dem russischen Überfall meldete er sich beim Wehrkreiskommando in Czernowitz. Doch es gab viele Freiwillige mit militärischer Erfahrung. Er hatte keine, deshalb schickten sie ihn weg. "Da habe ich mein Auto genommen, bin in Richtung Kiew gefahren und habe Leute, die flüchteten, zu uns nach Hause gebracht", erzählt Ihor. "So ging das in den ersten Kriegs­wochen Tag und Nacht. Bei uns schliefen manchmal Dutzende. Ich fuhr, meine Frau kochte. Wir haben damals über Nacht ein neues Leben begonnen."

Nach einigen Wochen gründete er mit einigen Freunden die kleine Organisation FreeDom Trust. Dom ist das ukrainische Wort für Haus. Sie ließen sich registrieren, eröffneten ein Lager für Sachspenden und transportierten sie in die Ost- und Südukraine. Auf dem Rückweg evakuierten Ihor und seine Helfer*innen Menschen aus Kriegsgebieten und brachten sie an sichere Orte, vor allem Alte, Menschen mit Einschränkungen und Heimkinder. Mehr als 3.000 dürften es inzwischen wohl sein, schätzt Ihor.

Der Schock von Butscha

Kostjantyniwka in der Ostukraine an einem Wintermorgen nach 20 Stunden Fahrt und einigen Stunden Schlaf. Nahe dem Marktplatz im Zentrum der Stadt stehen an die 200 Menschen vor einem Wohnhaus. Die meisten sind ältere Frauen, Geflüchtete aus der 30 Kilometer entfernten, immer wieder schwer umkämpften Stadt Bachmut. Als die Lieferwagen eintreffen, drängen die Wartenden ungeduldig, alle möchten Lebensmittel, Kleider oder Decken ergattern. Hände strecken sich nach Mehl, Sonnenblumenöl und Nudeln, einige schubsen, schreien, andere werden beiseite gedrängt. Eine jüngere Frau mit einem Säugling auf dem Arm fragt nach Babywindeln. Als sie erfährt, dass diesmal keine dabei sind, beginnt sie zu weinen.

Einige Stunden später. Ihor trifft drei alte Leute, die ebenfalls aus Bachmut geflüchtet sind. Sie haben nur das Wichtigste eingepackt, Dokumente, ein paar Fotos, wenige Kleidungsstücke, eine alte Frau hält ihre Katze im Arm. "Wir haben alles verloren", sagt verbittert einer der drei. "Wo Russland ist, da ist immer Krieg."

Stunden später, in der Nacht, auf dem Rückweg nach Czernowitz. Die Alten schlafen. Wenn Ihor über seine Arbeit der vergangenen zwei Jahre erzählt, kommt seine Tätigkeit an der Universität kaum vor. Es geht fast nur um den Krieg, um Hilfstransporte und Evakuierungen. Was treibt ihn an? Er berichtet in stockendem Ton von einem Besuch Anfang April 2022 in Butscha, gleich nach dem Abzug der russischen Truppen, als die Spuren eines Massakers mit mehr als 450 Toten entdeckt wurden. Er sagt, er habe noch nie darüber gesprochen. "Wir wollten dort Menschen helfen. Ich habe die Leichen von ermordeten Kindern gesehen. Ich bin seitdem ein anderer Mensch."

Ihor schweigt lange, während der ­Lieferwagen monoton durch die Nacht fährt. Irgendwann sagt er: "Ich liebe die Ukraine. Die Menschen hier sind sehr einfach, herzlich und ehrlich. Deshalb kann ich nicht weggehen wie so viele meiner Freunde. Ich muss hierbleiben, an meiner Front kämpfen und etwas ­Gutes tun." 

Keno Verseck ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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