Amnesty Journal Polen 12. November 2023

"Wir sind die, die dagegen sind"

Ein junger Mann, kurzes Haar, T-Shirt und Sommerjacke darüber, vor einer Wand an der Fotos wie Girlanden aufgereiht hängen.

Georgi, Gründer von "Russians For Ukraine" (September 2023, Polen, Medyka)

Im Südosten Polens erfahren Ukrainer*innen auf der Flucht ungewöhnliche Unterstützung. Geflohene Russ*innen haben dort ein Hilfsnetzwerk aufgebaut: Russians For Ukraine.

Aus Medyka und Przemyśl von Karolina Kaltschnee (Text) und Simona Supino (Fotos)

Auf den letzten Kilometern vor dem polnisch-ukrainischen Grenzübergang säumen Lastwagen und Transporter die Straße. Die Metallkolonne steht mal sieben, mal zehn Stunden an der Grenze, manchmal die ganze Nacht. Mit dem Auto fährt man daran vorbei, und wenn in Sichtweite die Grenzlichter zur Ukraine leuchten, biegt man links ab, es folgt eine Unterführung – und dann steht Medyka auf dem Ortsschild. Zwei kleine Lebensmittelgeschäfte, Ein­fami­lien­häuser, viele Bäume, eine Polizeistation.

Versteckt hinter hohen Nadelbäumen liegt das Grundstück mit der Adresse Medyka 242. Hier stehen Autos; oft bis zu einem Dutzend, aus Großbritannien, Litauen, den Niederlanden, an den Fenstern hängt die gelb-blaue Flagge der Ukraine. Im Garten ein Zelt, im Sommer meist noch mehr, eine Grillstelle, Bäume. Kartons mit Kleidung und Essen füllen die beiden Garagen. Das Tor ist offen, die Tür ebenfalls. Es ist immer jemand zu Hause. Im Eingangsbereich stehen Dutzende Schuhe auf dem Boden und in Regalen. Über einen dunklen Flur mit Türen, auf denen auf Kyrillisch Nummern und Bezeichnungen geschrieben sind, kommt man in die Küche.

Medyka 242 ist der Sitz der privaten Hilfsorganisation Russians For Ukraine (RFU). Dort arbeiten Menschen, die ihren Schmerz und die Trauer über den russischen Angriffskrieg verarbeiten, indem sie Ukrainer*innen unterstützen.

Der Anfang

"Ich öffnete den Newsfeed des russischen Oppositionsmediums Medusa. Ich hatte eine Vorahnung. Da stand nur ein Wort: Wojna. Krieg." Am 24. Februar 2022 begann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, und damit endete für Millionen Menschen das Leben, das sie bisher führten. Auch das Leben von Georgi*. "Du wachst auf und plötzlich ist dein Volk der Aggressor." Georgi ist Russe. In Kasachs­tan geboren, als das Land noch zur Sowjetunion gehörte, lebte, studierte und arbeitete er in Moskau. Es sei die schönste Stadt der Welt, sagt er. Dort war er für eine NGO tätig, die den Ablauf von Wahlen in Russland prüfte. 2012 musste er Russland verlassen, Als Flüchtlinge begannen er und seine Frau ein neues Leben in Warschau.  Sie lernten Polnisch, ­bekamen ein zweites Kind und arrangierten sich gut in Polen.

Doch seit dem russischen Angriff schläft Georgi schlecht, fühlt sich machtlos, hilflos. Der Kriegsausbruch löste bei ihm – wie bei vielen Russen und Russinnen – etwas aus, das nur wenige beschreiben können. Viele fühlen sich schuldig, beschämt. "Die ersten zwei Tage in Warschau konnte ich nichts tun, schämte mich, war geschockt. Als ich hier ankam, konnte ich aufhören zu denken. Ich arbeitete einfach ununterbrochen", sagt der 39-Jährige. Am 25. Februar 2022 war er losgefahren. "Ich wollte in Przemyśl, einem polnischen Ort nahe der Grenze zur Ukraine, Freunde von mir abholen, die vor vielen Jahren aus Russland nach Kiew geflohen waren. Sie fuhren bald weiter nach Warschau, und ich blieb. Ich sah, dass viel zu tun war."

Wie viele Helfer*innen schlief er anfangs im Auto, die Nächte waren kurz, im Februar und März 2022 schneite es. Er postete in Online-Netzwerken, dass Hilfe gebraucht werde. Die ersten Bekannten schlossen sich ihm an. Immer mehr Freiwillige aus der ganzen Welt kamen nach Przemyśl und zogen von dort weiter in das nur 13 Kilometer entfernte Medyka, das noch näher an der Grenze liegt. Internationale Hilfsorganisationen waren zunächst nicht vor Ort. Vielmehr postierten sich Dorfbewohner*innen, kleinere Hilfsorganisationen und Privatleute aus dem ganzen Land am Grenzübergang und versuchten, das Chaos irgendwie in den Griff zu bekommen. Mittendrin Georgi mit einer orangefarbenen Signal-Weste. Er, der Russe, organisierte die Hilfe der russischsprachigen Gemeinschaft, die versuchte, das Unrecht auszugleichen. So entstand Russians For Ukraine.

Der Alltag

Im Haus Medyka 242 sitzt Kolja an einem Tisch, den Blick aufs Handy gesenkt, dann steht er auf, bietet Tee an. Der 45-Jährige wohnt seit einem Jahr in dem 2.600-Seelen-Dorf. Dann blinkt es auf seinem Handy. Eine Nachricht im Chat, in dem sich die RFU-Leute organisieren: Zwei Familien stehen an der Grenze und sollen in eine Unterkunft gebracht werden. Kolja steht auf, nimmt einen der vielen Schlüssel vom Schlüsselbrett, steigt in einen SUV mit britischem Kennzeichen und fährt zur Grenze. Seit seiner Flucht aus der Republik Tatarstan fährt er jeden Tag Geflüchtete, bringt sie in verschiedene Unterkünfte, spricht mit ihnen – manchmal fährt er sie auch bis zum Flughafen in Krakau oder Warschau.

Eine junge Frau mit Brille, die Haare zurückgebunden, trägt eine neongelbe Warnweste, sitzt am Steuer eines VW-Autos und fährt.

Anja pendelt oft zwischen Medyka und Przemyśl (September 2023)

In Tatarstan, westlich des Uralgebirges, war er 20 Jahre lang Unternehmer. In den frühen 2000er Jahren arbeitete er für den Oppositionellen Michail Chodorkowski, die Arbeit habe ihn beeindruckt und geprägt. "Als der Krieg losging, war das ein Schock für mich. Im September 2022 kam ich über Finnland hierher. Ich wollte die Menschen aus der Ukraine sehen, mit ihnen sprechen und mit meinen eigenen Händen arbeiten, ihnen meine Zeit geben."

Seither hat er all seine Zeit gegeben, um zu unterstützen. Er ist viel unterwegs, aber nur in Polen – mit seinem Aufenthaltsstatus und dem russischen Pass darf er nicht ausreisen. Einmal konnte er seine Familie sehen, für ein paar Tage in Danzig. Glücklich sei er da gewesen. Auf die Frage, was ihn noch glücklich mache, sagt er: "Ich bin dann glücklich, wenn ich den Menschen helfen kann." Kolja wird wohl bleiben, Polen ist für ihn kein Transitland. "Manchmal denke ich: Ich sollte helfen, mein Land zu verändern. Aber das wird noch lange dauern in Russland. Wir verlieren gerade unsere Identität, unsere Kultur."

Er bringt die Geflüchteten nach Przemyśl, die RFU hat in der Kleinstadt eine Unterkunft angemietet. Dort angekommen, trägt er die Koffer hoch in den dritten Stock. Die gesamte Etage wurde mit Hochbetten ausgestattet, eine Küche eingerichtet. Dort ist Platz für 38 Menschen, heute sind 34 da. Dienstags und freitags kommen meist mehr Busse aus der Ukraine und damit auch mehr Geflüchtete. "Wir haben zwei Betten für Menschen mit Pflegebedarf oder Behinderungen, dank eines Aufzugs sind wir barrierefrei. Wir haben daher viele Menschen mit Verletzungen oder Erkrankungen, Krebskranke oder Alte", sagt Anja, die dort gerade arbeitet. Das heißt auch: Viel Wäsche waschen, "eigentlich rund um die Uhr". Die 36-Jährige läuft zum ­Badezimmer, rechts die Waschmaschine, links ein Trockner, auf den Balkonen drängen sich Wäscheständer.

"Warum hilfst du uns?"

"Wann ist die Sperrstunde?", fragt eine Ukrainerin. "Es gibt keine", antwortet Kolja. Diese Frage werde immer gestellt, sagt er, die Ukrainer*innen seien nach 18 Monaten Krieg daran gewöhnt. Dann geht es für Kolja zurück nach Medyka.

"Warum hilfst du uns?"

Das zweistöckige Haus in der Medyka 242 hat Georgi im März 2022 angemietet. Hier leben keine Geflüchteten aus der Ukraine, sondern nur die freiwilligen ­Helfer*innen aus aller Welt. Derzeit sind es zwölf Freiwillige, es waren auch schon mal 35. Sie schlafen auf Klappsofas, kleinen Betten oder auf dem Boden. Insgesamt haben hier schon mehr als 300 Freiwillige gearbeitet. Die meisten kommen für eine Woche oder zwei, manche verlängern, viele von ihnen kommen dreimal, viermal oder öfter. Sie verwenden ihren Jahresurlaub, reisen aus den USA an oder fahren tagelang durch halb Europa, um in Medyka 242 zu arbeiten.

Für Georgi ist dies keine Arbeit, auch nicht für Jana, Anton, Mascha, Kolja. Die fünf bilden das Herzstück des Hauses, sie sind alle über ein Jahr oder seit Beginn dabei. Sie sind Russ*innen, Belaruss*innen und Ukrainer*innen. Dies ist nun ihr Leben.

Eine stehende junge Frau am Handy in einem vollgestellten Lagerraum, Fahrräder, Kisten, Gerümpel, auf einem Sofa sitzt ein junger Mann.

Viel zu organisieren: Ein Freiwilliger und Jana in Medyka, September 2023

Jana trägt einen akkurat geschnittenen Bob, der Pony fällt ihr in die Stirn – ihre freundlichen Augen wecken Vertrauen. Sie erklärt die Abläufe im Haus: Es gibt drei "Bahnhofsschichten". Um 4.20 Uhr kommt der erste Zug aus Lwiw an. Fast jede Nacht holt einer von ihnen dort Menschen ab. Alte, Verletzte, Familien. Dann gibt es noch die "Shelter-Schicht" – 24 Stunden in der RFU-Flüchtlingsunterkunft in Przemyśl. Und die Fahrdienste: Vom Grenzübergang zu den Unterkünften, zum Arzt, zum Bahnhof oder ins Ausland, nach Belgien, Deutschland oder in die Ukraine.

Russians For Ukraine bringt seit Februar 2022 Russ*innen und russischsprachige Menschen aus der ganzen Welt zusammen, die Ukrainer*innen unterstützen wollen. Dass sie Russ*innen seien, sei kein Problem, sagt Georgi. "In den vielen Monaten und unter den Tausenden Menschen, mit denen wir gesprochen haben, gab es vielleicht eine Handvoll, die nichts mit uns zu tun haben wollten. Die meisten wundern sich und fragen: Warum hilfst du uns?"

Die Ukraine und die Menschen dort sind im Haus immer Thema. Die Hel­fer*in­nen tauschen Informationen aus, verfolgen die Exilmedien, schauen sich die Handyaufnahmen an, wenn einer von ihnen in Kiew oder Lwiw war. Aber an manchen Abenden sprechen sie in der Küche auch über die Zukunft Russlands. Wie kann sich das Land von dieser Tat erholen, wie kann es diese Schuld sühnen?

Sie alle sind müde. Es ist die Art von Müdigkeit, gegen die kein Schlaf hilft. Doch niemand beschwert sich, es geht nicht um sie. Sie alle haben ihr bisheriges Leben aufgegeben, um das zu tun, was sie für das einzig Richtige halten.

Spät abends erstellen sie eine Liste mit Aufgaben für den nächsten Tag: Wer die ersten Geflüchteten am Bahnhof abholt und in die Unterkünfte fährt. Dann die weiteren "Bahnhofsschichten", um 11 Uhr beginnt die Schicht im "Shelter".

Versöhnung in Polen

"Wir sind keine eingetragene Organisation, wir sind einfache Leute, die sich irgendwie organisieren", sagt Georgi und schaut auf sein Handy, das immer wieder aufleuchtet und klingelt. Es ist ein Uhr nachts, er trinkt ein Bier, lehnt sich auf dem Stuhl zurück. Die anderen schlafen bereits. "Es gibt 140 Millionen Russen – nicht alle können Faschisten sein", sagt er. "Wir sind die, die dagegen sind." Die Helfer*innen seien wie eine Familie zusammengewachsen. Seine Kinder vermisse er sehr, sie seien in Warschau. "Ich habe die Hoffnung, dass meine Kinder oder Enkelkinder einmal Moskau sehen. Für mich wird es diesen Moment wohl nicht mehr geben."

Plötzlich leuchten Autoscheinwerfer auf, vier große Wagen rollen auf den Hof. Vier ukrainischstämmige Fahrer erreichen Medyka, sie sind ohne Pause aus Großbritannien hergefahren. Die Autos sind voller Hilfsgüter – Kolja und einige Freiwillige werden sie am nächsten Morgen ausladen. Die Autos sind Teil der Spende, sie werden später abgeholt und in die Ukraine gebracht. Georgi begrüßt die Männer, holt Wurst, Käse, Brot. Ein Russe und vier Ukrainer an einem Tisch: Bis halb fünf Uhr morgens sitzen sie zusammen, essen und trinken.

Jana sitzt auf einem Plastikstuhl vor der offenen Haustür, in der linken Hand ihr Handy, in der rechten eine E-Zigarette. Die 51-Jährige hatte einst in Russland ein gutes Leben. Sie war in Moskau im Immobiliengeschäft tätig und hat einen erwachsenen Sohn. Im Februar 2022 machte sie Urlaub in Polen und wollte nicht mehr zurück. Sie fuhr an die Grenze und wurde Teil der Russians For Ukraine. Wenn sie nicht bei den RFU ist, arbeitet sie für eine andere Organisation und unterstützt auch dort Ukrainer*innen. Doch heute war dort ihr letzter Arbeitstag. Es gab eine kleine Abschiedsfeier, erzählt sie. "Eine Frau sagte zu mir: Weißt du, du bist der Grund weshalb ich es vielleicht schaffe, mich mit dem russischen Volk zu … Wie heißt das Wort?" Jana holt ihr Handy heraus und tippt in ihren Übersetzer. "VERSÖHNEN" steht dort in Druckbuchstaben.

*Die Nachnamen sind der Redaktion bekannt. Zum Schutz der Personen nennen wir sie nicht.

Karolina Kaltschnee ist freie Journalistin. Simona Supino ist freie Fotografin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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