Amnesty Journal 29. Januar 2021

Impfgerechtigkeit: Krise für alle, Rettung für manche

Ein Vater und eine Mutter sitzen mit ihren beiden Kindern, die Ballons in den Händen halten, auf einer Bank; die ganze Familie trägt Mundnasenschutzmasken.

Die Pandemie verschärft die weltweiten Ungleichheiten in bislang ungekanntem Ausmaß. Die schwächsten Staaten drohen beim Impfen vergessen zu werden.

Von Anton Landgraf

Es ist ein dramatischer Appell, den das Pflegepersonal aus Manaus in die Welt schickte. "Sauerstoff, gebt uns Sauerstoff", rief eine Krankenschwester in der brasilianischen Metropole in ihre Handykamera. Seit die In­fektionszahlen wegen einer neuen Mutation des Corona-Virus in die Höhe schossen, spielten sich in der Stadt im Amazonas­gebiet, in der zwei Millionen Menschen leben, apokalyptische Szenen ab. Die Gesundheitsversorgung brach Anfang des Jahres ­zusammen, Hunderte Patienten konnten nicht mehr versorgt werden.

Weltweit schnellen die Fallzahlen in die Höhe, über 102 Millionen Menschen (Stand 1.2.2021)  haben sich bereits angesteckt. Doch seitdem die ersten Impfstoffe zugelassen wurden, ist ein Ende der Pandemie in Sicht. In Europa, Nordamerika und anderen Teilen der Welt soll bald ein großer Teil der Bevölkerung eine Impfung erhalten. In wenigen Monaten könnte sich die Lage entspannen.

Hohe Dunkelziffer

Gänzlich anders verhält sich die Situation in einigen Staaten Südamerikas und Afrikas. Die schwächsten Staaten drohen vergessen zu werden. Dort werden Impfstoffe in diesem Jahr nur eingeschränkt oder gar nicht verfügbar sein, obwohl in vielen dieser Staaten die Zahl der Corona-Infektionen weiter hoch ist. Es ist zudem von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, denn nur wenige Länder des globalen Südens sind in der Lage, flächendeckend Tests durchzuführen. Für Eritrea, Kamerun oder die Demokratische Republik Kongo liegen keine gesicherten Zahlen über Infektionen vor. In Konfliktgebieten wie in Teilen Äthiopiens existiert keine oder nur noch eine rudimentäre Gesundheitsversorgung. Wenig erfasst ist die Situation von Millionen von Flüchtlingen, die oft unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen.

Amnesty International und andere Nichtregierungsorganisationen wie Frontline, Global Justice Now und Oxfam haben sich im Bündnis People’s Vaccine Alliance zusammengeschlossen und warnen vor nationalen Alleingängen bei der Impfstrategie: Die Pandemie sei nicht zu Ende, wenn alle Menschen in Europa immunisiert seien, sondern erst, wenn das Virus weltweit besiegt sei. "Das Horten von Impfstoffen untergräbt die globalen Anstrengungen, die sicherstellen sollen, dass alle Menschen überall vor Covid-19 geschützt werden", sagt Maria Scharlau, Völkerrechtsexpertin bei Amnesty International.

Reiche Staaten haben gemäß des UN-Sozialpakts eine klare menschenrechtliche Verpflichtung, ärmere Länder dabei zu unterstützen, ihre Bevölkerung zu impfen.

Maria
Scharlau
Völkerrechtsexpertin bei Amnesty International

Die gerechte und möglichst simultane Verteilung der Impfstoffe ist eine der zentralen Herausforderungen der Pandemie. Und sie ist auch eine Frage des Geldes, weil eine ausreichende Versorgung für viele Länder nur schwer zu finanzieren ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat deshalb zusammen mit der Globalen Impf-Allianz (Gavi) im April die Impfstoffplattform Covax gegründet, die mittlerweile von mehr als 190 Staaten unterstützt wird. Die Idee ist simpel: Staatliche und private Geldgeber zahlen in einen Fonds ein, der dank seiner gebündelten Marktmacht bessere Konditionen in den Verhandlungen mit den Herstellern erzielen kann. Die erworbenen Impfstoffe sollen anschließend an die teilnehmenden Länder geliefert werden, damit sie mindestens ein Fünftel ihrer Bevölkerung impfen können. Erklärtes Ziel von Covax ist es, dass bis Ende 2021 in allen Staaten weltweit das medizinische Personal und besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen geimpft sind. Dafür soll das Kinderhilfswerk Unicef, das bereits zahlreiche Impfkampagnen etwa gegen Masern und Polio organisiert hat, im Auftrag von Covax bis Ende 2021 zwei Milliarden Impfdosen und eine Milliarde Spritzen einkaufen und in arme Länder ausliefern.

Der Haken ist allerdings, dass Covax nur Impfstoff kaufen kann, der auch verfügbar ist. Seth Berkley, der Vorsitzende von Gavi, fordert die Produktion von weiteren fünf Milliarden Dosen in diesem Jahr, um "sicherzustellen, dass wir die Impfstoffe gerecht an jene verteilen können, die sie brauchen". Covax allein könne eine zeitnahe und gerechte weltweite Verfügbarkeit von Impfstoffen nicht garantieren.

Eine wesentliche Ursache für die mangelnde Verfügbarkeit besteht darin, dass die reichen Staaten fast die gesamten lieferbaren Impfstoffe für dieses Jahr aufgekauft oder entsprechende Vereinbarungen mit den Herstellern getroffen haben. Nach Angaben von Oxfam hatten diese Länder sich im September 2020 bereits 51 Prozent der in nächster Zeit lieferbaren weltweiten Impfstoffmenge durch Exklusivverträge mit den Herstellern ­gesichert, obwohl sie gemeinsam nur 13 Prozent der Weltbevölkerung stellen.

Dieser "Impfnationalismus" beruht auf umfassenden bilateralen Kaufvereinbarungen zwischen Unternehmen und einzelnen Staaten. Von den sechs Milliarden Dosen Impfstoff, die 2021 schätzungsweise produziert werden können, haben allein die USA mehr als zwei Milliarden für sich reserviert, die EU hat für ihre Mitgliedstaaten Verträge über eine Milliarde Einheiten abgeschlossen. Die kanadische Regierung hat so viele Impfdosen eingekauft, dass sie die gesamte Bevölkerung fünf Mal impfen könnte. Wie andere Staaten bestellte sie 2020 vorsorglich große Mengen bei mehreren Herstellern, weil noch nicht absehbar war, welcher Impfstoff tatsächlich eine Zulassung erhalten würde.

15 Milliarden Impfdosen benötigt

Wie eine Recherche der People’s Vaccine Alliance belegt, sind ­ärmere Länder deswegen nur noch begrenzt in der Lage, ihre ­Bevölkerung vor Covid-19 zu schützen. Tatsächlich könnten 67 Länder, darunter Kenia, Myanmar, Nigeria, Pakistan und die Ukraine – Staaten, die weit mehr als zwei Millionen Covid-19-Fälle gemeldet haben – in diesem Jahr nur ein Zehntel ihrer Bevölkerung impfen. Schon jetzt zeigt sich eine gewaltige Diskrepanz: Während in den USA und Europa seit Beginn des Jahres schon viele Millionen Menschen geimpft wurden, sind es auf dem ­gesamten afrikanischen Kontinent nur wenige Zehntausend.

Angesichts begrenzter Produktionskapazitäten sind frei erwerbbare Impfstoffdosen in Milliardenanzahl frühestens wieder 2022 verfügbar. Setzt man für die Immunisierung zwei Impfungen voraus, würden weltweit 15 Milliarden Dosen benötigt. "Es wird vier bis fünf Jahre dauern, bis alle auf diesem Planeten die Impfung bekommen", schätzte kürzlich Adar Poonawalla, der Vorsitzende des indischen Großherstellers Serum Institute of India in der Financial Times.

Vogelperspektive auf einen Friedhof, auf dem sich Menschen versammelt haben; es werden Gräber ausgehoben; drei Särge liegen in einem frisch ausgehobenen Loch, in dem ein Mann mit Handschuhen steht.

Für eine schnellere Versorgung könnte eine bessere globale Verteilung der Produktionsstätten sorgen, um an möglichst vielen Orten gleichzeitig Impfstoffe und medizinische Ausrüstung herzustellen. Doch dafür müssten erfolgreiche Hersteller wie Biontech und Moderna ihr Wissen weitergeben. Dies ginge zum einen mit Lizenzen, die allerdings in dieser Phase von den Pharmaunternehmen selten vergeben werden. Unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen wären auch sogenannte Zwangs­lizenzen denkbar, dann müssten die Unternehmen eine Lizenz erteilen. Dafür wären jedoch umfangreiche Kriterienkataloge zu prüfen. Schließlich könnten die Patentrechte für Covid-19-Impfstoffe auch – für einen bestimmten Zeitraum – ausgesetzt werden.

Zwangslizenzen als Lösung?

Indien und Südafrika haben im Oktober die Welthandels­organisation (WTO) aufgefordert, das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) für medizinische Produkte mit Bezug auf Covid-19 für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Der Schutz geistigen Eigentums behindere derzeit "eine rechtzeitige Versorgung mit bezahlbaren medizinischen Produkten", heißt es in dem Antrag. WTO-Mitglieder sollten eine Ausnahmegenehmigung erhalten, damit Unternehmen vor Ort auf das eigentlich geschützte Patent der Impfstoffe und das dazugehörige technologische Wissen zugreifen und Impfstoffe herstellen können.

Ein Mann in weißem Uniformhemd trägt eine medizinische Atemmaske und hält eine Kerze in der Hand, die er mit der anderen Hand vor dem Wind schützt; hinter ihm stehen weitere Menschen mit Kerzen.

Rund hundert Staaten haben sich mittlerweile dieser Forderung angeschlossen, ebenso 300 NGOs, darunter Amnesty International, zahlreiche Wissenschaftler und internationale Organisationen wie die WHO. Die EU, die USA und andere reiche Staaten, wie die Schweiz und Japan, lehnen den Vorschlag jedoch bislang ab.

"Es ist nachvollziehbar, dass alle Staaten sich genug Impfstoff für ihre Bevölkerung sichern wollen", sagt Maria Scharlau von Amnesty International. "Gleichzeitig müssen sie jedoch durch das zeitweise Aussetzen von TRIPS den Weg freimachen, damit mehr Impfstoff an viel mehr Standorten produziert werden kann. Ansonsten verletzen sie ihre Menschenrechtsverpflichtungen."

Die WHO und viele andere Organisationen drängen nun darauf, die Herstellung von Impfstoffen zu erleichtern. Bereits im Mai 2020 starteten Costa Rica und die WHO den Covid-19 Technology Access Pool (C-TAP) als freiwillige Plattform, um alle Daten, das Wissen und das geistige Eigentum zu bündeln und dann die Produktion und den Technologietransfer an andere potenzielle Produzenten nicht exklusiv zu lizenzieren. So könnten die Kosten gesenkt werden, und gleichzeitig würde die Verfügbarkeit von Impfstoffen erhöht. Die Plattform wurde in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich angewendet, um Krankheiten wie HIV/Aids, Hepatitis C und Tuberkulose besser zu bekämpfen.

Doch während viele Staaten C-TAP unterstützen, stehen große Pharmafirmen der Forderung, geistiges Eigentum gesammelt freizugeben, ablehnend gegenüber. Der Vorstandsvorsitzende von Pfizer, Albert Bourla, bezeichnete die Idee als "Unsinn". Ein baldiger Schutz vor Covid-19 ist jedoch dringender denn je, da die meisten ärmeren Staaten die Kranken kaum behandeln ­können. So stehen für die rund 110 Millionen Menschen, die in Äthiopien leben, gerade mal 30 Beatmungsgeräte zur Verfügung, in Mosambik sind es rund 20 Geräte für 29 Millionen Menschen.

Hinzu kommen gravierende mittelbare Folgen, sollte die Pandemie noch lange anhalten. Bereits jetzt ist nach Angaben des Bundesentwicklungsministeriums jeder zweite Job in Afrika gefährdet oder verloren gegangen. Weil der Lockdown in afrikanischen Ländern dazu geführt hat, dass Lieferungen von Nahrungsmitteln unterbrochen wurden und keine Medikamente mehr verteilt werden konnten, muss eine Hunger- und Armutskrise befürchtet werden.

Extreme Armut wird steigen

Auch die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die extreme Armut dramatisch ansteigen wird. In dem Bericht "Global Humanitarian Overview 2021" heißt es, dass mindestens 235 Millionen Menschen weltweit Hilfe benötigen werden, weil es ihnen an Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Sanitärversorgung mangelt. Das entspricht einer Steigerung um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei der Vorstellung des Berichts warnte UNO-Nothilfekoordinator Mark Lowcock vor neuen Hungersnöten: "Die reiche Welt kann nun das Licht am Ende des Tunnels sehen. In den ärmsten Ländern ist das nicht der Fall. Die Covid-19-Krise hat Millionen von Menschen in die Armut gestürzt und den Bedarf an humanitärer Hilfe in die Höhe schnellen lassen."

Nicht das Virus habe in den verwundbaren Ländern den größten Schaden angerichtet, sondern dessen Folgen: Nahrungsmittelpreise, die in die Höhe schnellen, sinkende Einkommen, überforderte Gesundheitssysteme, geschlossene Schulen. "Es handelt sich um die trostlosesten und dunkelsten Aussichten, was den humanitären Bedarf in der kommenden Zeit angeht, die wir jemals prognostiziert haben", sagte Lowcock. "Wir sehen eine große Wende zum Schlechten. Das führt zu Instabilität, zu Konflikten. Die ganze Welt wird den Preis dafür bezahlen." 

Anton Landgraf ist Teamleiter Presse, Online und Publikationen bei Amnesty International Deutschland.

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