Amnesty Journal 24. Mai 2021

Etablierte Gegenkultur

Verschiedene Menschen, darunter Amnesty-Unterstützende mit gelben Westen und dem Amnesty-Logo demonstrieren, eine Frau trägt ein Megaphon.

Amnesty-Mitglieder beim "Women's March" in der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 8. März 2020

Mensch für Mensch retten: 60 Jahre Amnesty International erzählen eine Geschichte von Aufbrüchen und Rückschlägen. Und diese Jahrzehnte stecken voller Verwandlungen.

Ein Essay von Jan Eckel

Als im Mai 1961 Peter Benensons Hilfsaufruf für die "Forgotten Prisoners" erschien, war es für niemanden vorstellbar, dass aus einer kleinen Gruppe christlich-humanitärer Internationalisten eine weltweite Organisation entstehen würde, welche die medialen Aufmerksamkeitsgesetze ebenso beherrscht wie die Klaviatur der politischen Einflussnahme und deren Unterstützer und Unterstützerinnen zehn Millionen zählen. Womöglich hatte das eine mit dem anderen auch nicht viel zu tun. Was 60 Jahre später aussehen mag wie eine logische Erfolgsgeschichte, war real eine ­Geschichte von Aufbrüchen und Rückschlägen, von Aufklärung und Mystifizierung, von Wirksamkeit und ihren Grenzen. Und nicht zuletzt eine Geschichte voller Verwandlungen.

Die erste ereignete sich in den 1970er-Jahren. Damals machte Amnesty International unter der Ägide eines expansionswilligen Londoner Sekretariats den Quantensprung zu ­einer organisatorisch ausdifferenzierten und politisch schlagkräftigen NGO. Sie war nun in der Lage, Menschenrechtsverletzungen in vielen Dutzend Ländern kontinuierlich zu ­beobachten und zum Anlass für immer zielgenauere politische Interventionen zu nehmen. Amnesty erfand im Zuge seiner Professionalisierung den Menschenrechtsaktivismus neu. International agierende Menschenrechtsgruppen hatte es schon lange gegeben. Doch hatte keine derart systematisch öffentlich Druck ausgeübt und damit eine vergleichbare Massenwirkung entfaltet.

Versuch der Weltveränderung

So entwickelte sich Amnesty in diesen Jahren zu einer effizienten "pressure group" und zugleich zu einer anschwellenden "Graswurzel"-Bewegung. Geografisch blieb ihre Reichweite auf Westeuropa und Nordamerika beschränkt. Dort entfaltete das Menschenrechtsengagement einen vielgestaltigen Anreiz zur Beteiligung. Viele, die sich in den 1970er-Jahren anschlossen, waren desillusioniert über die Veränderungskraft des politischen Massenprotests, der in den 1960er-Jahren allenthalben hervorgebrochen war, am Ende der Dekade aber an harte Grenzen stieß. Sinnbildlich dafür standen der schier endlos fortgesetzte Vietnamkrieg und das – wie es schien – folgenlose Verströmen der 68er-Bewegungen. Im Einsatz für Menschenrechte sahen viele Aktivistinnen und Aktivisten nunmehr eine zurückgenommene Form der Weltveränderung: einen Versuch, die Welt Mensch für Mensch zu retten, wie es der Philosoph Arthur Danto, Mitglied der US-Sektion, später ausdrücken sollte.

Dies verband sich mit neuen politischen Sensibilitäten, wie sie das anwachsende alternative Milieu kennzeichnen sollten, mit dem Amnesty verwoben war. Dort entfaltete sich eine Kultur der Subjektivität, die sich in der Bereitschaft zum Mitleiden gerade mit dem geschundenen Körper manifestierte. Der Aufschwung des Menschenrechtsengagements lag auch an lebensweltlichen Veränderungen. Vielen Amnesty-Mitgliedern schien das Unrecht in vermeintlich fernen Ländern denkbar nahe, sei es, dass sie diese über nun erschwingliche Flugreisen kennengelernt, zu Hause Flüchtlinge getroffen oder über ein wachsendes Medienangebot von staatlicher Verfolgung erfahren hatten.

Feiern gemeinsamer Hoffnungen

Die 1970er- und 1980er-Jahre waren die klassische Zeit von Amnesty International. In politischen Kampagnen hatte die Organisation das Überraschungsmoment für sich. Die Akten verraten, wie erstaunt etwa die Militärs um Augusto Pinochet darauf reagierten, dass Aktivisten aus dem Ausland in den chilenischen Ministerien anriefen, um sich nach Häftlingen zu erkundigen. Auch vermochte Amnesty Themen auf die internationale Agenda zu setzen. Die Antifolterkampagne löste ein breites mediales Echo aus und trug dazu bei, dass westliche Regierungen über den Umgang mit Menschenrechtsverletzungen im Ausland nachzudenken begannen.

In politischen Kampagnen hatte die Organisation das Überraschungsmoment für sich. Die Akten verraten, wie erstaunt etwa die Militärs um Augusto Pinochet darauf reagierten, dass Aktivisten aus dem Ausland in den chilenischen Ministerien anriefen, um sich nach Häftlingen zu erkundigen.

Jan
Eckel
Professor für Zeitgeschichte

Das Folterthema führte ins Herz von Amnestys Engagement, lenkte es doch den Blick auf eine aus keiner politischen oder ideologischen Perspektive zu rechtfertigenden Form des Leidens. Die Kampagne verdeutlichte aber auch die mitunter fragwürdige politische Analyse, auf welcher der öffentlichkeitswirksame Aktivismus gründete. Wenn die Organisation gemäß ihres Prinzips der Überparteilichkeit geltend machte, Folter werde in allen politischen Systemen angewendet, so drohte sie die Unterschiede zwischen demokratischem Rechtsstaat und Militärdiktatur zu verwischen.

Ende der 1980er-Jahre erreichte Amnesty International wohl den Zenit seiner Popularität. Dazu trug der Ausflug in die Popkultur bei, den Amnesty forcierte, indem es mit Topstars gespickte Konzerttourneen auf den Weg brachte. Darin kam aber auch eine weitere Metamorphose zum Vorschein: weg vom asketischen, minimalistischen Engagement früherer Jahre hin zu einer extrovertierten Feier der gemeinsamen Hoffnung, die auch Spaß machen sollte. Nun waren es konservative Stimmen, welche die Leitung dafür kritisierten, dass sie, wie es in einem bissigen Zeitungsartikel hieß, den Moralphilosophen Sting brauche, um den Mitgliedern zu erklären, wer Andrej Sacharow sei.

Zuspitzung der Orientierungskrise

Als nur wenige Jahre später die kommunistische Herrschaft in Osteuropa kollabierte, traf dies Amnesty unvorbereitet. Die weltpolitischen Veränderungen läuteten die wohl tiefste Identitätskrise ein, welche die Organisation bislang erlebt hat. Mit dem Verschwinden der ideologischen Lager war Amnestys Wesensmerkmal der weltanschaulichen Äquidistanz der Boden entzogen. Zudem glaubte das Internationale Sekretariat, es würden sich neuartige Konflikte ausbreiten, in Form von ethnisierter Gewalt oder Bürgerkriegen, denen man mit dem überkommenen Menschenrechtsansatz nur schwer begegnen könne.

Neu waren diese Konflikte nicht, erhielten aber mehr öffentliche Aufmerksamkeit, und Amnesty war seit jeher schlecht gerüstet, um in Fällen von Massenmord oder Massenvertreibung einzuschreiten. Ihre Zuspitzung fand diese Orientierungskrise im Massenmord in Ruanda, mit dem sich Amnesty spät und ­wenig wirkungsvoll befasste, was in der Organisation selbst als schwer lastendes Versagen wahrgenommen wurde.

Nicht zuletzt im Lichte dieser mühsamen Neuausrichtung ist es nicht selbstverständlich, dass Amnesty das Ende des Kalten Krieges und damit seinen Entstehungskontext überlebt hat, inzwischen um die Hälfte seiner gesamten Lebensdauer. Das verweist auf weitere Verwandlungen, über die Historikerinnen und Historiker noch wenig wissen. Sie haben dazu geführt, dass Amnesty weiterhin eine mitgliederstarke Menschenrechtsorganisation ist, die intensiv beobachtet und in wichtigen Situationen ihre informationspolitische Expertise zur Geltung bringt.

Der Moment, in dem die Organisation damit überraschende neue Horizonte zivilgesellschaftlichen Handelns erschlossen hat, ist allerdings lange vorbei. Amnesty International ist fester Bestandteil eines etablierten internationalen Politikfeldes. Auch wenn dies nicht im Entferntesten nach Gegenkultur klingt, ist es für viele vermutlich eine gute Nachricht.

Jan Eckel, geb. 1973, ist Professor für Zeitgeschichte an der Eberhard Karls-Universität Tübingen. 2014 erschien sein Buch "Die Ambivalenz des Guten: Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern" (Vandenhoeck & Ruprecht), für das er Archive von Amnesty auswertete.

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