Amnesty Journal 22. April 2024

"Die Staaten müssen kooperieren"

Flüchtlinge unter freiem Himmel. Männer, Frauen und Kinder campieren unter Bäumen, der Boden ist sandig, an manchen Stellen grasbewachsen. Im Hintergrund Zelte. Menschen hocken und stehen auf einer Plane.

Vor dem Krieg im Sudan ins Nachbarland geflohen: Flüchtende in Goz Beida, Tschad, Juli 2023

Die Zahl der Flüchtenden in den Sahelstaaten nimmt große Ausmaße an, insbesondere in der Region rund um den Tschadsee. Tomasz Rolbiecki forscht zur dortigen Sicherheitslage.

Interview: Felix Haug

Die Flüchtlingssituation in einigen Anrainerstaaten des Tschadsees, vor allem in Nigeria, Kamerun und im Tschad, ist bedrückend. Nach UN-Angaben gab es zuletzt knapp drei Millionen Binnenflüchtlinge in der Region um den Tschadsee. Insgesamt befinden sich acht Millionen Menschen in Not. Es gibt verschiedene Ursachen: Bewaffnete dschihadistische Gruppen wie Boko Haram und Islamischer Staat in der Provinz Westafrika (ISWAP) überfallen seit Jahren Dörfer und töten oder entführen die Bevölkerung. Außerdem üben insbesondere im Tschad und in Nigeria, seltener auch in Kamerun, Regierungstruppen willkürlich militärische Gewalt aus. Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels und andere Naturkatastrophen.

Seit mehr als 15 Jahren beherrschen Gewalt und humanitäre Krisen die Region um den Tschadsee. Wie ist die aktuelle Situation?

Die Sicherheitssituation rund um den Tschadsee ist beinahe dieselbe wie in anderen Teilen der Sahelregion. Es gibt am Tschadsee militante dschihadistische Gruppen, die die Zivilbevölkerung angreifen. Dort lebt eine beträchtliche christliche Minderheit, die in den vergangenen 15 Jahren Hunderten von Angriffen dschihadistischer Gruppen ausgesetzt war – Razzien, Überfällen, Entführungen. Die Präsenz der Sicherheitskräfte ist dort zwar viel höher als anderswo, doch reicht sie nicht aus, um die Bedrohung einzudämmen und die Angriffe zu stoppen. Außerdem verübte insbesondere das Militär in Nigeria und im Tschad in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche Menschenrechtsverletzungen. Es gibt viele Berichte, dass Soldaten Inhaftierte folterten und töteten. Insbesondere zu Beginn des Konflikts mit der dschihadistischen Gruppe Boko Haram in den frühen 2010er Jahren tötete das Militär in Nigeria auch deshalb Zivilpersonen, weil sie bewaffnete Gruppen nicht gemeldet hatten.

Wer ist für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich?

Alle Konfliktparteien verübten Menschenrechtsverletzungen. Die Militärs neigen dazu, alle Menschen, die in Gebieten leben, in denen bewaffnete Gruppen agieren, als Mitglieder dieser Gruppen zu betrachten, auch Zivilpersonen. So zünden Soldaten zum Beispiel Wohnhäuser von Zivilpersonen an, weil sie fälschlicherweise dort Verstecke von Dschihadisten vermuten. Unter den Dschihadisten ist der Islamische Staat für die Verfolgung von Christ*innen bekannt. Gleichzeitig behaupten die Angreifer des Islamischen Staats, entführte Muslime schnell wieder freizulassen und Muslime gut zu behandeln, solange sie keine Militärs sind oder einer Bürgerwehr angehören, die sich gegen Überfälle von Dschihadisten wehrt. Andere dschihadistische Gruppen greifen jedoch unterschiedslos muslimische und christliche Zivilpersonen an.

Welche Rolle spielen Konflikte der bewaffneten Gruppen untereinander?

Es gibt ideologische Konflikte zwischen den bewaffneten Gruppen rund um den Tschadsee. Jahrelang ging es um die Vorherrschaft und die politischen Führer von Boko Haram. Derzeit überwiegt allerdings ein Ressourcenkonflikt, insbesondere um den Zugang zum Tschadsee. Illegaler Fischhandel ist sehr lukrativ, ebenso die "Besteuerung" von Fischerei und Viehwirtschaft durch bewaffnete Gruppen. So erzielen sie hohe Einnahmen. Die Konflikte zwischen den bewaffneten Gruppen machen sie theoretisch zu einem leichteren Ziel für die Sicherheitskräfte. Weil aber ihre Stützpunkte schwer zugänglich sind, sind militärische Angriffe leichter gesagt als getan. Die Rivalität untereinander sorgt immerhin dafür, dass Angriffe dschihadistischer Gruppen auf Militärs und Nichtkombattanten nachgelassen haben und zuletzt weniger Opfer zu beklagen waren.

Fliehen die Menschen vor den Angriffen der bewaffneten Gruppen oder dem Vorgehen der Armee?

Für die Bevölkerung ist es irrelevant, ob das Militär eine bewaffnete Gruppe angreift oder umgekehrt. Die Menschen fliehen aufgrund der allgemeinen Unsicherheit und aus Angst vor Angriffen. Sofern die Bevölkerung fliehen kann, flieht sie. Es ist viel gefährlicher, ins Kreuzfeuer zu geraten, als das eigene Haus zu verlassen. Viele Flüchtende haben die Hoffnung, dass ihr Haus nicht zerstört wird und sie dorthin zurückkehren können. Sie fliehen in die nächstgelegene sichere Stadt und versuchen, dort ­einen Job zu finden.

Wie ist die Lage in den Flüchtlings­lagern am Tschadsee?

Das größte Problem der dort lebenden Flüchtlinge und Binnenvertriebenen ist ihre zu frühe Rückführung. Viele sind zwar bereit, zurückzukehren, doch es mangelt an finanzieller und logistischer Unterstützung. Die Menschen können kaum von Landwirtschaft leben, weil sie bei der Feldarbeit für bewaffnete Gruppen ein leichtes Ziel sind. Viele wurden nach der Rückführung getötet. Angst und schlechte Lebensbedingungen gehören zum Alltag.

Die Versuche der internationalen ­Gemeinschaft, die humanitäre Lage rund um den Tschadsee zu verbessern, sind trotz vieler Bemühungen gescheitert. Woran liegt das?

Die internationale Gemeinschaft kann ­allein nicht viel bewirken. Die größte ­Verantwortung für die Verbesserung der Lage tragen die Regierungen der Tschadsee-Anrainerstaaten. Oftmals gibt es dort aber ein massives Korruptionsproblem, denn einige der internationalen Gelder kommen an der falschen Stelle an. Internationale Projekte sind unter diesen Umständen nur schwer umsetzbar. Die betroffenen Staaten müssten stärker kooperieren, sonst ziehen die bewaffneten Gruppen auf der Suche nach sicheren Operationsbasen durch die einzelnen Länder und setzen sich dort fest. Angesichts vieler zwischenstaatlicher Konflikte und wachsender politischer Instabilität, insbesondere nach den vielen Militärputschen in der gesamten Sahelregion, sind Kooperationen zuletzt jedoch noch schwieriger geworden.

Tomasz Rolbiecki, Jahrgang 1996, analysiert die Sicherheitslage am Tschadsee. Seine Forschung ist Teil von ExTrac, einem KI-basierten System zum Schutz der öffentlichen Sicherheit.

HINTERGRUND

Flucht aus dem Sudan

Im April 2023 wurde der Sudan zum Kriegsgebiet, die Kämpfe zwischen zwei rivalisierenden Gruppen des Militärs dauern immer noch an. Am meisten leidet darunter die Zivilbevölkerung. Die Versorgung mit Wasser und Strom ist in vielen Landesteilen zusammengebrochen. Es fehlen außerdem Medikamente und medizinisches Material. Die Zahl der Toten wird derzeit auf mehr als 12.000 geschätzt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass mehr als eine Million Menschen vor den Kämpfen in die Nachbarländer Ägypten, Südsudan und Tschad geflüchtet sind. Allein im Osten des Tschad fanden mehrere hunderttausend Menschen aus dem Sudan ­zumindest zeitweise Zuflucht.

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