Aktuell Russische Föderation 18. Januar 2024

Abgeschoben und ausgeliefert: EU-Staaten verweigern Schutz für Geflüchtete aus dem Nordkaukasus

Das Bild zeigt eine Person mit einem Protestschild

Demonstration in der polnischen Stadt Krakau gegen die Abschiebung tschetschenischer Flüchlinge nach Russland (Archivaufnahme).

Europäische Staaten dürfen keine Geflüchteten und Asylsuchenden aus dem Nordkaukasus nach Russland zurückschicken. Ihnen drohen in Russland Folter und andere Misshandlungen. Möglicherweise werden sie gezwungen, in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu kämpfen. 

Behörden in Kroatien, Frankreich, Deutschland, Polen, Rumänien und weiteren europäischen Staaten haben Asylsuchende, die vor Verfolgung im Nordkaukasus geflohen waren, ausgeliefert oder abgeschoben oder dies versucht. Dies geht aus dem aktuellen Amnesty-Bericht "Europe: The point of no return" hervor.

"Es ist ein Skandal, dass mehrere europäische Staaten damit drohen, Menschen, die vor der Verfolgung im russischen Nordkaukasus geflohen sind, genau dorthin zurückzuschicken, wo diese Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben – und dies in einigen Ländern trotz der Behauptung, sie hätten nach dem Einmarsch in die Ukraine jegliche juristische Zusammenarbeit mit Russland auf Eis gelegt. Die europäischen Länder müssen sich darüber im Klaren sein, dass viele Menschen mit diesem Hintergrund bei ihrer Rückkehr mit Festnahme oder Entführung, Folter, anderen Misshandlungen oder Zwangsrekrutierung rechnen müssen", sagt Nils Muižnieks, Direktor des Europabüros bei Amnesty International.

"Die Lage der Menschen, die aus dem Nordkaukasus geflohen sind, hat sich aufgrund der weiteren Verschlechterung der Menschenrechtsstandards in Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine dramatisch verschärft. Ihnen drohen Folter, willkürliche Inhaftierung und Verschwindenlassen. Sie wurden bereits in der Vergangenheit in europäischen Staaten stigmatisiert sowie abgeschoben oder ausgeliefert."

Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus ist katastrophal, ganz besonders in Tschetschenien. Personen, die sich kritisch äußern, sich für die Menschenrechte einsetzen oder als Mitglied der LGBTI-Community wahrgenommen werden, laufen Gefahr, ins Visier genommen zu werden. Das gilt auch für ihre Freund*innen und Angehörige ihrer Familie.

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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Seit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine hat sich die ohnehin schon schlechte Menschenrechtslage in Russland erheblich verschärft. Das Risiko von Folter und anderen Misshandlungen, wie sie in Haftanstalten bereits vor der Invasion weit verbreitet waren, hat zugenommen. Darüber hinaus gibt es glaubwürdige Berichte, denen zufolge ethnische Minderheiten in Russland unverhältnismäßig häufig zu den Streitkräften eingezogen werden. Wer sich weigert oder versucht, vor der Rekrutierung zu fliehen, riskiert schwere Menschenrechtsverletzungen.

Ein tschetschenischer Asylsuchender berichtete Amnesty International: "Die Leute werden von der Straße geholt, und dann hat man zwei Optionen: Entweder geht man für zehn Jahre ins Gefängnis, oder man zieht in den Kampf. Gefängnis in Tschetschenien, das ist, als würde man gar nicht mehr existieren. Aber wenigstens besteht die Chance, nach zehn Jahren rauszukommen. Das ist wahrscheinlich besser, als eingezogen zu werden, zu kämpfen und zu sterben."

Der Ausstieg Russlands aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und das harte Vorgehen gegen unabhängige Menschenrechtsorganisationen im Land haben die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen drastisch erhöht und Betroffenen ein wichtiges Instrument genommen, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.

Vielen Menschen aus dem Nordkaukasus, die vor der katastrophalen Lage in ihrer Heimat geflohen sind, droht die Ausweisung, Auslieferung oder Abschiebung aus europäischen Ländern. Dies würde einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement) darstellen. Die Drohung dieser Länder, Menschen nach Russland zurückzuschicken, erfolgt vor dem Hintergrund der in Europa herrschenden Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen aus dem Nordkaukasus, bei denen es sich zum größten Teil um Muslim*innen handelt. Sie werden oft kollektiv als "gefährliche Extremist*innen", die eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen, gebrandmarkt. So soll ihre Rückführung in eine Region gerechtfertigt werden, in der ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Das Verbot der Rückführung in Länder, in denen die Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen droht, ist absolut und lässt keine Ausnahmen zu – auch nicht aus Gründen der nationalen Sicherheit. Die Rechtsgrundlage für Überstellungen nach Russland ist oft undurchsichtig oder fadenscheinig. So werden unter anderem geheime, von Sicherheitsdiensten gelieferte Beweise oder aber haltlose Anschuldigungen angeführt. Diese stammen oft von Russland selbst, insbesondere in Form sogenannter "Red Notices" von Interpol. Russland benutzt diese Fahndungsgesuche, um politische Gegner*innen, Andersdenkende, Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und deren Angehörige und Umfeld ins Visier zu nehmen. Einige europäische Staaten berufen sich auch auf allgemein wenig zuverlässige "diplomatische Zusicherungen" seitens der russischen Behörden. Darin wird behauptet, dass keine Foltergefahr bestehe, um die Rückführung von Personen aus dem Nordkaukasus zu rechtfertigen. Dabei ist in Russland Folter weit verbreitet. Staaten, die derartige "Zusicherungen" Russlands akzeptieren, versuchen damit, eine grundlegende Verpflichtung zu umgehen: Menschen dürfen nicht an einen Ort geschickt werden, an dem sie der Gefahr von eklatanten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wären (Non-Refoulement).

Nach dem tödlichen Messerangriff eines Mannes aus dem Nordkaukasus auf einen Lehrer in der französischen Stadt Arras am 13. Oktober 2023 hat sich das Risiko einer Ausweisung aus Frankreich nach Russland erheblich erhöht. In den Tagen nach dem Angriff rief Präsident Macron zu einem "schonungslosen" Vorgehen gegen das auf, was er als "Extremismus" bezeichnete. Er forderte ein "besonderes Vorgehen bei jungen Männern zwischen 16 und 25 Jahren aus dem Kaukasus". Der Präsident ermächtigte außerdem seinen Innenminister Gérald Darmanin, mit den russischen Behörden über mögliche Überstellungen zu sprechen. Berichten zufolge ist die Abschiebung von bis zu elf Personen nach Russland geplant.

Frankreich arbeitet schon seit langem mit Russland zusammen, wenn es um die Abschiebung von Tschetschen*innen geht, bei denen es sich um mutmaßliche "Extremist*innen" handelt. Im Februar 2022 starb Daoud Muradov, ein junger Tschetschene, unter verdächtigen Umständen in der Haft. Er war von Frankreich nach Russland abgeschoben worden, obwohl eindeutige Beweise dafür vorlagen, dass ihm dort Folter oder andere Misshandlungen drohten. Die französischen Behörden hatten ihn allerdings nicht nur abgeschoben, sondern auch Einzelheiten seines Asylantrags an die russischen Behörden weitergegeben. Darunter befanden die persönlichen Daten der Personen, die ihm bei der Flucht geholfen hatten, sowie von Mitgliedern seiner Familie.

Frankreich ist nicht die einzige europäische Regierung, die bereit ist, Menschen nach Russland abzuschieben und damit gegen den Grundsatz des Non-Refoulement zu verstoßen.

In Rumänien nahmen die staatlichen Behörden im März 2022 die tschetschenische Asylsuchende Amina Gerikhanova in Gewahrsam, weil sie angeblich eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Sie war nach dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 aus ihrer Wohnung in der Ukraine geflohen. Die rumänischen Grenzbeamt*innen trennten sie von ihrem kleinen Sohn und hielten sie aufgrund eines russischen Interpol-Fahndungsgesuchs bis zu ihrer Auslieferung fest. Ihre Auslieferung an Russland wurde erst nach einem massiven öffentlichen Aufschrei und der Verhängung vorläufiger Maßnahmen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestoppt. Schließlich wurde ihr von Rumänien Asyl gewährt.

Magomed Zubagirov floh 2017 vor der Verfolgung in seiner Heimat Dagestan. Er ließ sich mit seiner Frau in der Ukraine nieder, war aber im März 2022 gezwungen, erneut zu fliehen, als Russland mit seinen Truppen in die Ukraine einmarschierte. Magomed Zubagirov ersuchte an der polnisch-ukrainischen Grenze um Asyl, doch verweigerten ihm die polnischen Behörden die Einreise aufgrund eines von Russland ausgehenden Interpol-Fahndungsgesuchs und schoben ihn stattdessen dorthin ab.

"Jahrelang haben europäische Regierungen und Institutionen die großen Risiken, denen alle ausgesetzt sind, die in den Nordkaukasus zurückkehren, ignoriert oder heruntergespielt", so Nils Muižnieks.

"Die europäischen Regierungen müssen sofort alle Überstellungen von Menschen, die von Folter oder anderen Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, nach Russland stoppen und anerkennen, dass dieses Risiko für Personen aus dem Nordkaukasus besonders hoch ist. Angesichts der schlechten Menschenrechtslage in Russland und des anhaltenden Krieges in der Ukraine müssen die Schutzbedürfnisse der Menschen in Europa angemessen bewertet werden."

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