Amnesty Journal 28. Januar 2010

Mädchen machen Schule

Mädchen in einer Grundschule im afghanischen Herat

Mädchen in einer Grundschule im afghanischen Herat

Mädchen und junge Frauen sind weltweit Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Doch immer mehr setzen sich zur Wehr. Sechs Beispiele von starken Mädchen.

Von Uta von Schrenk.

Bangladesch: Opfer von Säureattentaten fordern Gerechtigkeit

Hasina musste neun Mal operiert werden, bevor sie Sätze sagen konnte wie diesen: "Ich kann meine Vergangenheit nicht ändern, aber ich kann immer noch eine Zukunft haben, und dafür kann ich kämpfen." Zuvor hatte Hasina Akter aus Sotto Bandi in Bangladesch fast ihr Leben verloren und für den Rest ihres Lebens ihr Gesicht – die Nase, die Lippen, das rechte Auge. Genommen hat ihr dies ein Angestellter ihrer Familie, der sich über das damals 16-jährige Mädchen geärgert hatte. Also tat er das, was viele Männer in Bangladesch tun, die meinen, einen Grund dazu zu haben: Er kaufte sich Säure und übergoss damit am 23. Januar 2004 die vermeintlich Unbotmäßige.

Über 2.000 Säureattentate wurden der Stiftung für Säureopfer in Dhaka zwischen 1999 und 2008 gemeldet. Von Januar bis Oktober 2009 waren es allein 104 Anschläge. Für die Gründung der Stiftung ehrte Amnesty International die Frauenrechtlerin Monira Rahman 2006 in Berlin mit dem Menschenrechtspreis der deutschen Sektion.

Hasina Akter bekam noch im Krankenhaus Besuch von einem Mitarbeiter der Stiftung für Säureopfer. Die Stiftung, die für medizinische und psychologische Hilfe sorgt, die Spezialverbände für Brandwunden herstellt und gemeinsam mit den Opfern versucht, die Täter vor Gericht zu bringen, finanziert sich über Spendengelder. Hasina lernte hier andere Betroffene kennen. Es war dieser Kontakt, der ihr half, mit ihrem gezeichneten Leben selbstbewusst umzugehen. "Es war doch nicht mein Fehler." Dieser Satz klingt selbstverständlich, ist es aber nicht in Bangladesch. Viele Opfer finden nicht den Weg zu Monira Rahman und ihrer Stiftung – weil sie sich schämen, weil der Täter aus der eigenen Familie kommt, weil sie als Unglücksbringerinnen isoliert werden oder weil ihnen ihre Umwelt erfolgreich eingebläut hat, dass sie selbst an ihrem Schicksal schuld seien.

Mehr als ein Viertel der Säureopfer sind Mädchen unter 18 Jahren. "Krüppel", wie Hasina sagt, die fortan der Familie zur Last werden, weil kein Mann sie heiraten wird. Wer als Säureopfer überleben will, muss Arbeit finden. Hasina berät heute in der Rechtsabteilung der Stiftung andere Säureopfer. Die Täter kommen meist straflos davon, weil korrupte Polizisten oder Richter sie decken. Hasinas öffentlicher Umgang mit ihrer Geschichte hilft nicht nur anderen, er half auch ihr selbst: Aufgrund eines Zeitungsinterviews mit ihr wurde nach vier Jahren endlich der Täter gefasst.

Mädchen und junge Frauen: Rechte kennenlernen und durchsetzen

Hasinas Geschichte ist nur ein Beispiel: Mädchen und junge Frauen müssen weltweit schwerste Verletzungen ihrer Rechte und ihrer Würde erfahren. Dies beginnt in manchen Ländern schon vor der Geburt: In einem Bericht von Unicef heißt es, dass in Indien täglich 7.000 weibliche Föten gezielt abgetrieben werden – Mädchen gelten wegen des traditionell hohen Brautgeldes als finanzielle Belastung.

Auch in China ist diese Praxis weit verbreitet. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Mädchen in manchen Ländern eine höhere Sterblichkeit aufweisen, weil sie schlechter ernährt und medizinisch schlechter versorgt werden als ihre Brüder. Und obwohl Frauen die Hälfte der Menschheit stellen, sind zwei Drittel der Armen Frauen. Damit einher gehen Diskriminierung und Gewalt: Ein Mädchen in Armut erhält in der Regel keine Ausbildung. Zugleich ist es, statistisch betrachtet, mehr Gewalt ausgesetzt. Wie soll dieses Kind seine Rechte kennen? Wie soll es eine sichere Arbeit finden, sich ein unabhängiges Leben aufbauen, sich gegen überkommene Traditionen zur Wehr setzen? "Bildung ist ein Menschenrecht, dennoch besuchen mehr als 55 Millionen Mädchen weltweit keine Schule, weil Gewalt und Diskriminierung ihren Zugang zu Bildung behindern", heißt es in einem Amnesty-Bericht vom November 2009.

Doch Hasinas Geschichte zeigt auch etwas anderes: Dass es nämlich genau diese Mädchen und Frauen sind, die den Willen und den Mut aufbringen, ihre Situation zu ändern und ihre Rechte von einer ihnen feindlich gesinnten Gesellschaft einzufordern. Dafür stehen auch Nedas Schwestern, benannt nach der im vergangenen Sommer ermordeten iranischen Studentin – junge Frauen, die in ihrem Land die Proteste für Demokratie und Reformen auf die Straße getragen haben. Dafür stehen die 18-Jährige, die in Afghanistan trotz eines Säureattentats weiterhin zur Schule geht, und die zwangsverheiratete Neunjährige aus dem Jemen, die erfolgreich ihre Scheidung von einem dreimal so alten Mann juristisch erstritten hat.

Die Mädchen und jungen Frauen, um die es im Folgenden geht, sind ein Motor für die Menschenrechtsbewegung weltweit. Sie leiden oft am meisten unter inhumanen Lebensbedingungen. Aber das speist auch ihren Veränderungswillen. Wer diesen Motor am Laufen halten will, sollte daher auf die Bildung und Stärkung von Mädchen und jungen Frauen setzen. Wer ein Mädchen bildet, sorgt dafür, dass es als Mutter selbstbewusst seine Rechte einfordern und auch sein Kind bilden wird. Wer ein Mädchen bildet, sorgt dafür, dass es als Mutter der Genitalverstümmelung seiner Tochter nicht zustimmen wird. Wer einem Teenager eine Existenzgrundlage verschafft, sorgt dafür, dass es keinen Grund mehr geben wird, weibliche Föten abzutreiben oder Mädchen im Alter von acht Jahren zu verheiraten.

Kenia: Mädchen finden Schutz vor Genitalverstümmelung

Millicent war 13 Jahre alt, da nahm ihre Großmutter sie beiseite und sagte: "Ich bin beschnitten, deine Mutter ist beschnitten." So ist es üblich bei den Massai in Kenia, immer noch werden an die 90 Prozent der Mädchen im Alter von neun bis 13 Jahren ­"beschnitten".

Das Wort ist eine Beschönigung, denn bei der Praxis wird ein Großteil der weiblichen Genitalien verstümmelt. Millicent wartete nicht, bis sie an der Reihe war – gerade erst hatte sie in der Schule einen Vortrag über Genitalverstümmelung gehört. Mit Hilfe einer Cousine lief sie von zu Hause weg. Sie fand einen Platz im Tasaru Girls Rescue Center in Narok, wo sie ihre Schulausbildung unversehrt beendete. Mit ihrer Flucht hat sich Millicent, die mittlerweile 20 Jahre alt ist, für ein anderes Leben entschieden: "In meiner Gemeinschaft findet ein Mädchen, das nicht beschnitten ist, nur schwer einen Mann", sagt sie.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass die Genitalien von rund 140 Millionen Frauen, Mädchen und Babys verstümmelt sind. Praktiziert wird dies vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in Einwanderungsländern wie Frankreich oder Deutschland. Erst im Dezember sollten wieder 350 Mädchen im Alter zwischen neun und 16 Jahren in Kenia "beschnitten" werden, berichtete die "Daily Nation", ­Kenias überregionale Tageszeitung.

Die Folgen sind grausam: Viele der jungen Mädchen – die meisten sind bei dem Übergriff nicht älter als acht – werden schwer traumatisiert, stehen unter Schock, verursacht durch den Blutverlust und die Schmerzen, denn es wird ohne Betäubung geschnitten und vernäht. Abgesehen vom Verlust des sexuellen Empfindens, leiden viele Mädchen und Frauen ein Leben lang an ständigen Harnwegsinfekten und Schmerzen beim Wasserlassen. Einige überleben die Prozedur nicht, andere infizieren sich aufgrund verschmutzter Beschneidungsbestecke mit HIV oder sterben bei der Geburt des ersten Kindes, das den vernarbten und verengten Geburtskanal nicht passieren kann.

Einer 2006 veröffentlichten Studie der WHO zufolge, an der über 28.000 Schwangere in Afrika teilgenommen hatten, starben pro 100 Geburten ein bis zwei beschnittene Mütter mehr als bei den Geburten unversehrter Frauen. Als besonders gefährdend gilt die sogenannte Infibulation, die geschätzt 20 Prozent aller beschnittenen Frauen durchlitten haben. Hierbei werden die kleinen Schamlippen mittels eines Metalldrahtes dauerhaft vernäht.

Seit 2005 ist auch innerhalb der Afrikanischen Union die ­Genitalverstümmelung als Menschenrechtsverletzung geächtet. Zahlreiche afrikanische Länder haben sie unter Strafe gestellt. Doch damit wurde der Praxis kein Ende gesetzt – zu tief ist die "Beschneidung" in der Tradition vieler Ethnien verankert. Im Tasaru Girls Rescue Center setzt man daher auf Gespräche mit den Dorfgemeinschaften und auf Aufklärung. "Unsere Mitarbeiter gehen in die Dörfer und erklären dort, dass ein Mädchen, dass nicht verheiratet wird, zur Schule gehen und später mit ­einem Job die Familie versorgen kann", sagt die Gründerin des Zentrums, die Menschenrechtsaktivistin Agnes Pareyio. Für ihr Engagement wurde sie 2005 von den Vereinten Nationen zur "Person des Jahres" ernannt.

Millicent hofft, dass auch ihre Familie eines Tages so denken kann. Bis dahin jedoch, sagt sie, sind die Mädchen und jungen Frauen im Girls Rescue Center ihre Familie. Eine Gemeinschaft übrigens, die ihren eigenen Initiationsritus für den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben pflegt – ein Fest mit ­traditionellen Gesängen, Gebeten und Geschenken, aber ohne Schnitte. Den alternativen Ritus haben inzwischen mehrere hundert Mädchen durchlaufen – und immer mehr bringen ihre Eltern mit.

Nicaragua: Leben retten trotz totalem Abtreibungsverbot

Marianita (Name geändert) aus Siuna in Nicaragua "verlor" nach Angaben der Frauenklinik "Bertha Calderón" bei einem Kaiserschnitt in der 24. Schwangerschaftswoche ein Kind, das nur knapp 600 Gramm wog. Dieser Schwangerschaftsabbruch vor anderthalb Jahren hat der Mutter, zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, das Leben gerettet. Marianita hatte eine Lungenentzündung und extremen Bluthochdruck – doch selbst bei sogenannten medizinischen Indikationen wie dieser ist Abtreibung in Nicaragua heute verboten.

Wie viele schwangere Mädchen und Frauen seit dem totalen Abtreibungsverbot im Juli 2008 gestorben sind, ist unklar. Nach offiziellen Angaben sind in der ersten Jahreshälfte 2009 allein 33 Mädchen und Frauen an ihrer Schwangerschaft gestorben. Kate Gilmore, die stellvertretende internationale Generalsekretärin von Amnesty International, nennt dieses von den ehemaligen Erzfeinden der sandinistischen und der liberalen Partei verabschiedete Gesetz "zynisch".

Die betroffenen Mädchen und Frauen sowie die behandelnden Ärzte müssen mit Gefängnis von ein bis drei Jahren rechnen, wenn sie einen Abbruch vornehmen. Den Medizinern drohen zudem bis zu fünf Jahre Berufsverbot. Selbst wenn der Embryo nicht lebensfähig ist oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist, bleibt die Abtreibung verboten. Das Gesetz verstoße gegen zahlreiche Menschenrechtsvereinbarungen, die Nicaragua unterzeichnet hat, kritisiert ein Bericht von Amnesty International vom Juli 2009.

Marianita verdankt ihr Leben dem nicaraguanischen Frauennetzwerk gegen Gewalt und der Sonderbeauftragten für Kinderfragen, Norma Moreno, die sich für einen Abbruch eingesetzt hatten. Warum die Zwölfjährige schwanger war? Ihr Vater hatte sie wiederholt vergewaltigt.

Afghanistan: Mutige Mädchen besuchen die Schule

Die Hand hält sie vor ihr Gesicht. Eine schützende Geste. Doch gilt der Schutz nicht ihr selbst, sondern vielmehr ihrer Umwelt. Shamsia Husseini, inzwischen 18 Jahre alt, wurde vor gut einem Jahr von einem Motorradfahrer mit Säure begossen. Seither ist das Gesicht der jungen Afghanin von Narben gezeichnet. Was sie zum Anschlagsopfer werden ließ: Shamsia besucht die Mädchenschule in Mirwais in der südlichen Provinz Kandahar. Die Schule, die von der japanischen Regierung aufgebaut wurde, liegt in einer Region, in der die Clanführer der Taliban das öffentliche Leben dominieren.

Und dort wird der Besuch einer weltlichen Schule, vor allem von Mädchen, zu einer Mutprobe, die oft genug mit der körperlichen Unversehrtheit oder gar mit dem Leben bezahlt wird. Über 100 Anschläge wurden 2008 auf afghanische Schulen verübt, 70 Lehrer wurden getötet. Bei einem Giftgasanschlag auf eine Schule bei Kabul wurden 98 Mädchen verletzt.

Warum Mädchen wie Shamsia bedroht und überfallen werden, erklärte ein Clanführer im Herbst einem deutschen Fernsehsender so schlicht wie wortkarg: "Mädchen sollen das Haus nicht verlassen." Während der Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 war Mädchen der Schulbesuch verboten.

Doch der Satz des Clanführers zielt noch auf einen anderen Aspekt eines Mädchenschicksals in diesem Land. Nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale werden bis heute über die Hälfte der afghanischen Frauen verheiratet, bevor sie 16 Jahre alt sind. Nicht nur der Schulbesuch ist mit dem Tag der Hochzeit in der Regel vorbei: Die Mädchen haben im Haushalt des Mannes zu arbeiten und Kinder zu gebären – oft hat dies dramatische gesundheitliche Folgen für die viel zu jungen Mütter. Afghanistan hat eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten der Welt.

"Die Leute, die mir das angetan haben, wollen nicht, dass Frauen Bildung bekommen. Sie wollen, dass wir dumme Dinger bleiben", sagt Shamsia. Im Weltbild der Taliban hat eine gebildete Frau keinen Platz. Doch das sehen offensichtlich nicht alle Familien in Afghanistan so. Mittlerweile gehen nach Schätzungen der deutschen Regierung rund 30 Prozent der afghanischen Mädchen zur Schule – trotz aller Gefahren.

Nach dem Anschlag auf die Mädchenschule in Mirwais, bei dem elf Mädchen und vier Lehrer angegriffen wurden, waren die Klassenräume zunächst wie leergefegt. Erst als der Direktor den verängstigten Eltern Polizeischutz und Schulbusse für ihre Töchter versprach, kamen die meisten der 1.500 Schülerinnen wieder. Darunter selbst die schwer verletzte Shamsia. "Ich will mein Land aufbauen", sagt sie. Eines mit sicheren Schulen für Mädchen.

Uganda: Kindersoldatin kämpft für den Frieden

Wenn jemand Grace Arach noch vor zehn Jahren gesagt hätte, sie würde mit Mitte zwanzig den ugandischen Frauenpreis, dotiert mit rund 1.800 Euro, bekommen, Grace hätte dies wohl für einen fiesen Witz gehalten. Grace war zwölf Jahre alt und auf dem Weg zu ihrer Großmutter in Pawel, als Rebellen der ugandischen "Lord’s Resistance Army" (LRA) den Wagen des Priesters, mit dem sie mitfahren konnte, stoppten, das Mädchen rauszerrten und das Auto mit einer Landmine in die Luft jagten.

Grace Arach hatte das Pech, zu jenen mehr als 20.000 Kindern zu gehören, die von der "Armee des Herrn" im Bürgerkrieg zwischen Nord-Uganda und Süd-Sudan laut Caritas bislang zwangsrekrutiert und unter Schlägen und unsäglichen Qualen zu kleinen Tötungsmaschinen deformiert wurden. Um die Kinder zu disziplinieren, zwangen die Rebellen sie, sich mit dem Blut jener Kinder zu bemalen, die auf der Flucht ermordet wurden. Oder sie mussten sich auf sie legen, damit sie wissen, wie sich der Tod anfühlt, der auf sie wartet, wenn sie nicht spuren.

Weltweit kämpfen heute rund 250.000 Minderjährige in Bürgerkriegen und bewaffneten Konflikten. Auf die Mädchen unter ihnen wartet meist ein perfides Schicksal: Oft werden sie – neben der Abrichtung zum Töten und dem Einsatz an der Front – "verdienten" Kämpfern als "Ehefrauen" zugeführt oder sie werden von den sogenannten Kameraden vielfach missbraucht und vergewaltigt.
Grace Arach musste mit Otti Lagony, einem stellvertretenden Kommandeur der LRA, leben, der sie mit einem Tau an sich band, – und später mit einem Mann namens Odongo, dessen zehnte Frau sie wurde.

Es dauerte sieben Jahre, bis sich für Grace Arach eine Gelegenheit bot, zu fliehen. Zuvor trug sie eine halbautomatische Waffe und 70 Schuss Munition, überlebte die Cholera, einen Schuss in die Brust und Schlachten, bei denen mehr als 2.000 Menschen starben.

Eine Woche nach ihrer Flucht saß Grace wieder in der Schule, diesmal in Gulu, Nord-Uganda, einem Rehabilitationszentrum für Kindersoldaten der Organisation World Vision. Derzeit studiert sie an der Universität Gulu Entwicklungsforschung und engagiert sich für "Children/Youth as Peacebuilders" (CAP), eine kanadische Friedensorganisation, die sich speziell für Kinder in Kriegs- oder Nachkriegssituationen – etwa in Angola, Kambodscha, Ruanda oder Kolumbien – einsetzt. Grace betreut traumatisierte Kinder und versucht sie davon zu überzeugen, zur Schule zu gehen und eine Ausbildung zu machen, etwas zu lernen eben, nur nicht das Töten.

Jemen: Neunjährige reicht Scheidung ein

Letztlich war es reiner Zynismus, der Nujood Ali Muhammed Nasser aus Sana’a die Freiheit brachte. Mit acht Jahren wurde das jemenitische Mädchen verheiratet – an einen 30 Jahre alten Mann. Für 1.100 Euro ging Nujood Anfang 2008 über den Tisch. Das Geld sollte dem Vater, einem arbeitslosen Lkw-Fahrer, helfen, seine zwei Ehefrauen und die 16 Kinder zu ernähren.

Als Nujood nach zwei Monaten Missbrauch und Schlägen ihre Eltern um Hilfe anfleht, hat die Familie nur den gehässigen Satz für sie übrig, sie könne ja vor Gericht ziehen und sich scheiden lassen. Nur, dass Nujood den Ratschlag ihrer sogenannten Tante, der zweiten Ehefrau ihres Vaters, ernst nimmt. Das Mädchen geht, fragt sich zum Gericht in Sana’a durch und setzt sich dort in den Flur.

Nach einem halben Tag Warten wird der Richter Muhammed Al-Qathi auf sie aufmerksam. "Ich will die Scheidung", sagt ihm das Mädchen. Und der Richter nimmt sie erst einmal mit zu sich nach Hause, organisiert ihr eine engagierte Anwältin, die den Fall kostenlos übernimmt, und lässt Nujoods Vater und Ehemann in Untersuchungshaft wegen Kindesmissbrauchs und Menschenhandels nehmen. Mitte April 2008 gibt der zuständige Richter Nujoods Ersuchen statt und löst die Ehe auf.

Das jemenitische Recht erlaubt es, Mädchen in jedem Alter zu verheiraten. Allerdings ist Sex mit ihnen erst ab der Pubertät erlaubt. Hiermit wird Nujoods Scheidung begründet – eine Strafe für den Ex-Mann folgt daraus nicht. "Ich bin so glücklich, wieder frei zu sein", sagte das Mädchen nach dem Urteil, "ich will zurück in die Schule gehen und nie, nie wieder heiraten."

Rund die Hälfte der jemenitischen Mädchen wird einem Amnesty-Bericht zufolge minderjährig verheiratet. Und das bedeutet in der Regel für die Mädchen und Teenager das Ende der Kindheit und des Schulbesuchs. Ab der Hochzeit haben sie für die Familie des Mannes zu arbeiten – und ihm selbst zur Verfügung zu stehen.

Und das hat Folgen, die ein jemenitischer Sozialwissenschaftler so beschreibt:
39 Prozent der minderjährig verheirateten Mädchen sind nach der Hochzeitsnacht traumatisiert, sie leiden unter Depressionen, Angstzuständen, manche erholen sich nie wieder von diesem Erlebnis. Eine Mehrheit der Kinderbräute nimmt zudem körperlich Schaden: Mit elf oder zwölf Jahren ist ihr Körper nicht weit genug entwickelt, um eine Schwangerschaft und Geburt unbeschadet zu überstehen.

Vor diesem Hintergrund ist Nujoods erfolgreiche Scheidung ein historisches Urteil – Rechte sind etwas wert und selbst ein kleines Mädchen kann sie einklagen. Dieser eine Fall ist das ermutigende Signal für viele malträtierte Mädchen in diesem Land – und auch anderswo, denn Zwangsheirat ist keine jemenitische Spezialität. Weltweit gibt es laut Unicef mehr als 60 Millionen Frauen, die als Kind oder Jugendliche verheiratet wurden. Im Niger sind es 77 Prozent der Frauen. Im indischen Bundesstaat Rajasthan sind 15 Prozent der Frauen bei ihrer Hochzeit nicht einmal zehn Jahre alt. Die meisten Betroffenen, etwa die Hälfte, leben in Südasien. Das sind immerhin 21,3 Millionen gezwungene Ehefrauen.

Mädchen, die sich ihrer Verheiratung widersetzen, gehen oft ein großes Risiko ein. Amnesty kommt in einem Bericht über Zwangsheirat zu dem Schluss: "Wenn Frauen sich weigern, die für sie bestimmte Heirat einzugehen, sind sie Repressionen durch eigene Familienmitglieder ausgesetzt, die von Beschimpfungen und Drohungen über Prügel bis hin zum Ehrenmord reichen."

Trotzdem hat Nujoods Gang zum Gericht im Jemen gleich Schule gemacht: Bereits in den ersten Monaten nach ihrem Erfolg haben drei weitere Kinderbräute die Scheidung eingeklagt. Und auch in Saudi-Arabien hat sich ein neunjähriges Mädchen im Frühjahr 2009 von ihrem 50 Jahre alten Ehemann scheiden lassen.

Die Autorin ist Journalistin und lebt in Berlin.
Mitarbeit: Daniel Kreuz.

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Amnesty Journal Frauen

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