Amnesty Journal 02. April 2009

Die Eltern von morgen

140 Millionen Frauen weltweit sind von Genital­verstümmelung betroffen. An den Folgen leiden viele ein Leben lang.

An der Schultafel klebt ein großes Blatt Papier. Die Ränder sind leicht vergilbt, an einigen Stellen haben sich kleine Risse in das Papier gefressen. Die Luft hängt heiß und schwül in dem Klassenzimmer der Grundschule. Rund vierzig Schüler blicken teils gespannt, teils gelangweilt zur Tafel. Was sie dort sehen, könnte eine Seeanemone oder ein Zellkörper aus einem Biologiebuch sein. Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass es sich bei der mit Buntstiften gemalten Zeichnung um die schematische Darstellung einer Vagina handelt.

"Könnt ihr mir die Teile der Vagina nennen, die hier zu sehen sind?" Die Lehrerin, eine junge Frau Mitte dreißig, tippt mit dem Zeigefinger auf das Papier. Eine Schülerin meldet sich und geht hocherhobenen Hauptes zur Tafel. Angestrengt, mit herausgestreckter Zunge, das kleine Gesicht fast an die Tafel gedrückt, schreibt sie in Zeitlupe "Scheideneingang". Andere Schüler, auch Jungen, fügen die restlichen Teile hinzu: "Ausgang der Harnröhre", "innere Schamlippen", "äußere Schamlippen", "Klitoris" stehen jetzt auf der Tafel.

"Jetzt frage ich euch", sagt die Lehrerin, "haben alle Mädchen und Frauen diese Teile der Vagina?" Kleine Zeigefinger schnellen hoch. "Ja, alle", antwortet ein Junge. Eine kurze Pause, dann meldet sich ein Mädchen: "Nein, nicht alle haben das alles", sagt sie und lehnt sich gegen die harte Holzlehne ihrer Schulbank.

Wir sind in einer Grundschule in der Kleinstadt Gaoua im Süden von Burkina Faso, einem Land in Westafrika mit 14 Millionen Einwohnern. Burkina Faso heißt auf Deutsch "Land der Aufrechten". Mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) werden hier Schüler zum Thema weibliche Genitalverstümmelung unterrichtet. Es ist erklärtes Ziel des Bildungsministeriums, dass irgendwann alle Schüler landesweit diesen Unterricht bekommen. Seit Mitte der siebziger Jahre engagiert sich Burkina Faso gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien. Es gibt ein eigenes Nationales ­Komitee ("Comité national de lutte contre la pratique de l’exci­sion") und die Praktik ist per Gesetz verboten. Trotzdem sind rund 77 Prozent der Frauen verstümmelt, auch wenn neuere Studien darauf schließen lassen, dass die Zahlen zurückgehen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass rund 140 Millionen Frauen, Mädchen und Babies von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen sind – vor allem in 28 Ländern Afrikas, aber auch in Einwanderungsländern wie Deutschland und Frankreich, wenn Migranten fern der Heimat an ihren Traditionen festhalten.
In welchem Alter beschnitten wird, ist von Land zu Land unterschiedlich, die meisten Mädchen sind jedoch nicht älter als acht und auf ihre Verstümmelung nicht vorbereitet. Viele traumatisiert der Eingriff deshalb schwer. Sie verlieren Vertrauen in ihre Eltern oder Großeltern, denn in der Regel sind sie es, die die Beschneidung organisieren und die eigene Tochter oder Enkelin unter einem Vorwand zur Beschneiderin locken. Betroffene berichten, ihnen sei gesagt worden, sie sollten jemanden besuchen, etwas erledigen oder einer Bekannten im Dorf helfen. ­Ahnungslos hätten sie eine Hütte betreten, seien dort gepackt und von mehreren Helferinnen zu Boden gedrückt worden. Man habe sie an Armen und Beinen festgehalten, ihnen den Mund zugehalten oder sie geknebelt. Beschnitten wird in der Regel ohne Betäubung.

Die Gründe für Genitalverstümmelung sind vielfältig und nicht klar voneinander zu trennen. Am häufigsten wird gesagt, man handle nach dem, was die Vorfahren überliefert hätten. So wird Beschneidung als unhinterfragte Tradition von Generation zu Generation weitergegeben.

In islamisch geprägten Ländern wie Mauretanien oder Mali berufen sich Anhänger auf religiöse Gebote und Vorschriften, obwohl der Koran Genitalverstümmelung nicht vorschreibt.

Viele Männer nehmen an, unbeschnittene Frauen seien wollüstig und man müsse sie beschneiden, damit sie nicht fremdgehen. Nur eine beschnittene Frau ist eine gute Ehefrau, lautet eine weit verbreitete Meinung. Die äußeren Genitalien gelten zudem als unästhetisch und schmutzig. In vielen Ländern dürfen Unbeschnittene deshalb nicht für die Gemeinschaft kochen oder die Wasserstelle benutzen.

Ein weiterer Grund für die Aufrechterhaltung der Tradition ist das Tabu, mit dem der Eingriff in vielen Ländern belegt ist. In Sierra Leone werden die Mädchen ermahnt, mit niemandem über das, was sie erlebt haben, zu sprechen – sonst "schwillt euch der Bauch an, bis ihr daran sterbt", sagt die Beschneiderin. Es folgt ein Fest, bei dem sie Geschenke bekommen und über das schweigen, was sie erlebt haben. So sehnen sich andere, die noch nicht soweit sind, nach nichts mehr, als auch bald initiiert und beschenkt zu werden.

Auch Schmerz spielt eine Rolle: In Sierra Leone ist die Praktik Teil eines Initiationsrituals in einen Geheimbund, einen Zusammenschluss von Frauen. Die Treffen finden an einem abgeschiedenen Ort statt, wo die Frauen unter sich sind, tanzen, Alkohol trinken und neue Mitglieder initiieren: Das heißt, sie beschneiden Mädchen, unterziehen sie Tapferkeitsprüfungen und bereiten sie auf das Leben als "richtige" Frau vor. Später sind die Mitglieder stolz darauf, dass sie die Prüfungen bestanden und den Schmerz der Beschneidung ausgehalten haben. Schmerz zu erdulden, ist ein Zeichen von Tapferkeit.

Auch medizinische Mythen sind weit verbreitet: Manche glauben, die Klitoris sei giftig und das Neugeborene würde sterben, wenn sein Kopf sie berühre. Andere denken, die Beschneidung erhöhe die Fruchtbarkeit und erleichtere die Geburt.

Das Gegenteil ist der Fall, auch wenn viele Frauen ihre Beschwerden nicht mit der Beschneidung in Verbindung bringen. So können während der Verstümmelung starke Blutungen und Schockzustände auftreten. Unsterile Instrumente bis hin zu rostigen Klingen können Wundstarrkrampf und andere Infektionen hervorrufen, die ohne ärztliche Behandlung zum Tod führen können. Viele Betroffene leiden unter chronischen Schmerzen, haben Abszesse und Zysten oder Schwierigkeiten bei der Monatsblutung. Viele Frauen berichten von Schmerzen und verminderter sexueller Lust und Empfindsamkeit. Das Beschneiden mehrerer Mädchen mit derselben Klinge sowie Verletzungen durch aufbrechende Narben beim Geschlechtsverkehr erhöhen das Risiko einer HIV-Übertragung. Weil sich Narbengewebe schlechter dehnen kann, treten häufiger Komplikationen bei der Geburt auf. Eine höhere Säuglingssterblichkeit bei beschnittenen Frauen ist nachgewiesen.

Die meisten Organisationen, die sich gegen die Praktik einsetzen, arbeiten jedoch nicht im medizinischen Bereich. Sie wollen, dass es gar nicht erst passiert; dass die Menschen verstehen, dass der Eingriff nicht nur der Gesundheit schadet, sondern auch eine Menschenrechtsverletzung ist. Weibliche Genitalverstümmelung verletzt das Recht auf Sicherheit, auf persönliche Freiheit, auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt es zahlreiche Konventionen, die Regierungen und die internationale Gemeinschaft verpflichten, Verantwortung für den Schutz der Gesundheit und der Rechte der Frauen und Kinder zu übernehmen.

In den Aktionsprogrammen zur Menschenrechtskonferenz (Wien 1993), auf der Weltkonferenz zu Bevölkerung und Entwicklung (Kairo 1994) und auf der Weltfrauenkonferenz (Peking 1995) werden Regierungen dazu aufgefordert, sich aktiv gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien einzusetzen. Das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW 1997) verurteilt diskriminierende Praktiken gegen Frauen. Im Kinderrechtsabkommen der UNO (CRC 1989) wird Genitalverstümmelung als Verletzung der Rechte des Kindes verurteilt. Das Protokoll der Afrikanischen Union für die Rechte von Frauen in Afrika (Maputo Protokoll 2005) benennt weibliche Genitalverstümmelung explizit als Verletzung der Menschenrechte von Frauen. Zahlreiche afrikanische Länder ­haben Gesetze gegen Genitalverstümmelung erlassen.

Aber Papier ist geduldig. Es gibt kaum ein Land, in dem Fälle von Verstümmelung angezeigt werden. Und wenn dies geschieht, stehen die Gerichte vor der Frage, wen sie verurteilen sollen. Die Eltern, die die Beschneidung angeordnet haben? Dann wächst das Mädchen womöglich ohne sie auf. Die Beschneiderin? Sie macht aus Sicht der Bevölkerung einen normalen Job, der meist von der Mutter an die Tochter weitergegeben wird.

In Kulturen, in denen Genitalverstümmlung praktiziert wird, ist die Tradition Teil des gesellschaftlichen Lebens und wird nicht als "falsch" oder Straftat wahrgenommen. Meistens wird sogar in der Annahme gehandelt, dem Mädchen oder der jungen Frau etwas Gutes zu tun. Aus Sicht der einen ist Genitalverstümmelung eine Menschenrechtsverletzung, aus Sicht der anderen eine wertvolle Tradition. Unvereinbare Sichtweisen, die aufeinanderprallen.

Sollte man deshalb nichts tun und die Andersartigkeit einer Kultur und damit womöglich auch Menschenrechtsverletzungen wie "Ehrenmorde", Frühheirat oder Genitalverstümmelung billigen? Das wäre zu einfach. Wichtiger ist die Frage, was getan werden kann. Wie vermieden werden kann, dass das, was getan wird, nicht als Eingriff in die Kultur verstanden wird und das Gegenteil von dem bewirkt, was man erreichen möchte. Das Wissen über die gesundheitlichen Folgen der Genitalverstümmelung hat beispielsweise nicht dazu geführt, dass weniger beschnitten wird – es hat den Eingriff nur in Krankenhäuser verlagert. Dort beschneiden Ärzte unter hygienischen Bedingungen und freuen sich über zusätzliche Einnahmen. An der Menschenrechtsverletzung ändert sich dadurch nichts. In Ländern, in denen es inzwischen Gesetze gibt, geschieht die Praktik heimlich und an immer jüngeren Mädchen, viele von ihnen Babies. Einige Eltern entscheiden sich heute dafür, ihre Tochter in einem Nachbarland beschneiden zu lassen, in dem es kein Gesetz gibt. Das nennt man "Beschneidungstourismus".

Aufklärung allein führt nicht dazu, dass Menschen ihr Verhalten ändern. Jeder weiß, dass Rauchen tötet. Aber wer hört allein deshalb schon auf? Umso schwieriger, wenn es um tief verankerte Traditionen geht, um kulturelle Gesetze. Damit sich Verhalten wirklich ändert, müssen langfristige Veränderungsprozesse angestoßen werden, an denen alle Menschen in der Gemeinde teilhaben. Ein Einzelner wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wenn er sich gegen die Beschneidung seiner Tochter ausspricht. Entscheidet sich aber die ganze Gemeinde dagegen, ist das ein ­Erfolg. Je mehr Mädchen nicht beschnitten sind, desto einfacher können Vorurteile – dass sie stinken, schmutzig, untreu sind – ­abgebaut werden. Männer sind dabei enorm wichtig, denn meist sind sie es, die in der Familie das Einkommen haben und die Beschneidung der Tochter bezahlen. Sie sind es auch, die das letzte Wort haben und die Beschneidung ihrer Tochter verbieten können. Und sie können sich entscheiden, eine unbeschnittene Frau zu heiraten. Es ist nicht nur ein Frauenthema.

Eine Methode, die sich an Frauen und Männer richtet, ist der "Generationendialog". Der von der GTZ entwickelte Ansatz schafft Raum, auch über heikle Themen wie Genitalverstümmelung zu sprechen, ohne dass die Teilnehmer mit fertigen Botschaften behelligt werden. Moderatoren aus demselben Dorf leiten den Dialog an – zunächst in Kleingruppen nach Geschlecht und Alter getrennt, später versammelt sich das ganze Dorf. Davon inspiriert, entstand in Burkina Faso der "Approche Famille" ("Familienansatz"), bei dem die Großfamilie zusammenkommt, um über Traditionen zu diskutieren und über Veränderungen zu verhandeln. Doch Wandel braucht Zeit.

Besonders den Älteren fällt es schwer zu akzeptieren, dass Traditionen nicht in Stein gemeißelte Gesetze sind. Sie befürchten den Verlust von Werten, und dass ihre Kultur ihr Gedächtnis verliert. "Starrköpfig" nennen das viele junge Menschen. Sie wollen, dass sich ihre Gesellschaft verändert. Dass sie selbst und nicht die Eltern und Großeltern über ihren Körper und Ehepartner entscheiden. Viele von ihnen lehnen Genitalverstümmelung ab. Und selbst wenn die Entscheidungen heute noch in den Händen der Älteren liegen: Mit ihnen wächst eine selbstbewusste junge Generation heran, die später anders über das Wohl ihrer Töchter entscheiden kann. Sie sind die Eltern von morgen.

Von Rebekka Rust
Die Autorin arbeitet für das Projekt "Überwindung der weiblichen Genitalverstümmelung" der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Ziel des Projekts ist es, Maßnahmen zur Überwindung der Genitalverstümmelung in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu verankern und damit zur Verwirklichung der Menschenrechte von Frauen und Mädchen beizutragen (www.gtz.de/fgm). Sie veröffentlichte das Buch "Beschneidung im Geheimbund. Weibliche Genitalbeschneidung in Sierra Leone aus kulturwissenschaftlicher Sicht". Von 2007 bis 2008 arbeitete sie als Volontärin beim Amnesty Journal. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder.

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