Amnesty Report Polen 24. April 2024

Polen 2023

Das Bild zeigt Kerzen und Bilder, die am Boden liegen, eine Person beugt sich darüber

Protest gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der polnischen Stadt Krakau am 7. Juni 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Polen setzte 2023 weiterhin auf fossile Brennstoffe und reichte beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen neue EU-Regelungen zur Bekämpfung des Klimawandels ein. Ein Ausschuss des Senats stellte fest, dass die Parlamentswahl 2019 aufgrund des Einsatzes der Spionagesoftware Pegasus nicht fair verlaufen war. Das Parlament debattierte über eine umstrittene Gesetzesänderung, der zufolge es NGOs verboten wäre, an Schulen über Antidiskriminierung aufzuklären. Der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen blieb eingeschränkt. Eine Reform des Gesetzes über häusliche Gewalt weitete den Straftatbestand auf Gewalt im digitalen Raum und wirtschaftliche Gewalt aus. Angehörige des Grenzschutzes verletzten an der Grenze zu Belarus nach wie vor die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen. Die Regierung ging weiterhin gegen Richter*innen und Staatsanwält*innen vor, die Bedenken bezüglich der Justizreformen äußerten.

Hintergrund

Bei der Parlamentswahl im Oktober 2023 gewannen Oppositionsparteien die Mehrheit der Sitze. Die neue Regierung kündigte eine Reihe von Maßnahmen an, um die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und Hasskriminalität strafbar zu machen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Infolge einer Umweltkatastrophe waren im Juli 2022 in der Oder Tausende Fische und andere Tiere verendet. Bis Ende 2023 hatte die Regierung jedoch noch keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, um das Ökosystem des Flusses wiederherzustellen, obwohl die Verschmutzung andauerte und weiterhin die Tierwelt sowie die Gesundheit und Lebensgrundlagen von Menschen gefährdete.

Polen setzte bei der Energieerzeugung weiterhin auf Kohle und andere fossile Brennstoffe. Im Juli 2023 reichte das Land beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen neue klimapolitische Maßnahmen der EU ein, die u. a. vorsahen, ab 2035 keine Neuwagen mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen.

Recht auf Privatsphäre

Am 6. September 2023 erklärte der Sonderausschuss des Senats zur Aufklärung von Fällen illegaler Überwachung, dass der Einsatz der Pegasus-Spionagesoftware gegen führende Oppositionelle und Regierungskritiker*innen rechtswidrig war und die Parlamentswahl im Jahr 2019 deshalb unfair verlaufen sei. 

Recht auf Bildung

Im August 2023 setzte das Parlament die Debatte über eine Änderung des Bildungsgesetzes (Lex Czarnek 3.0) fort. Der letzte Änderungsentwurf, ein Vorschlag von Bürger*innen, enthielt ein Verbot der Unterrichtsangebote von NGOs zu Sexualkunde und Antidiskriminierung, die im Lehrplan der Schulen nicht vorkamen. Die Gesetzesänderung wurde letztlich nicht umgesetzt, da der Senat sein Veto dagegen einlegte.

Es bestand weiterhin die Sorge, dass ukrainische Flüchtlingskinder keine Schulbildung erhielten, u. a. wegen Sprachbarrieren. Schätzungsweise 200.000 ukrainische Kinder waren weiterhin gänzlich vom polnischen Bildungssystem ausgeschlossen.

Recht auf soziale Sicherheit

Im Juli 2023 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die monatlichen Kindergeldzahlungen, die im Zuge des Förderprogramms "Familie 500 plus" eingeführt worden waren, von 500 auf 800 Zloty (etwa 184 Euro) erhöhte.

Polen hatte noch keinen der UN-Mechanismen akzeptiert, die Beschwerden über mutmaßliche Verletzungen der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte auf internationaler Ebene ermöglichen würden.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Der Zugang zu legalen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen war nach wie vor eingeschränkt. Schwangere waren gefährdet, weil Krankenhäuser selbst in lebensbedrohlichen Situationen keine Abbrüche vornahmen. Berichten zufolge starb mindestens eine Frau, der man im Mai 2023 einen Schwangerschaftsabbruch verweigerte, an den Folgen.

Im März 2023 verurteilte ein Gericht die Frauenrechtlerin Justyna Wydrzyńska auf Grundlage drakonischer und diskriminierender Gesetze zu acht Monaten Sozialdienst, weil sie eine Frau beraten und unterstützt hatte, die von häuslicher Gewalt betroffen war und einen sicheren Schwangerschaftsabbruch benötigte. Das Urteil war noch nicht rechtskräftig, da ihre Rechtsbeistände Rechtsmittel dagegen einlegten.

Die Polizei schikanierte weiterhin Frauen, die eines Schwangerschaftsabbruchs verdächtigt wurden. In Krakau unterzog die Polizei im April 2023 eine Frau einer Leibesvisitation und konfiszierte ihre elektronischen Geräte. Die Frau hatte zuvor einer Ärztin, die sie in einer anderen Angelegenheit aufgesucht hatte, berichtet, sie habe in der vorhergehenden Woche einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Im Juni 2023 trat eine Änderung des Gesetzes über häusliche Gewalt in Kraft, die den Straftatbestand der häuslichen Gewalt um Gewalt im digitalen Raum und wirtschaftliche Gewalt erweiterte. Zudem wurden damit auch Ex-Partner in den Kreis der potenziellen Täter einbezogen. Die strafrechtliche Definition von Vergewaltigung entsprach jedoch weiterhin nicht der des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention).

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Dezember 2023 entließ der neue Kulturminister die Führungsriege der staatlichen Medien. Die öffentlich-rechtlichen Medien bedurften zwar dringend einer Reform, doch verstieß dieses Vorgehen gegen internationale Menschenrechtsstandards bezüglich des Rechts auf Meinungsfreiheit.

Diskriminierung

Im Dezember 2023 löschte ein Abgeordneter mit einem Feuerlöscher die Lichter einer Menora, die anlässlich des jüdischen Chanukka-Fests im Parlamentsgebäude aufgestellt worden war. Obwohl seine Partei ihn suspendierte und das Parlament seine Immunität aufhob, stieß sein Vorgehen bei einem Teil der Gesellschaft auf Zustimmung.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Flüchtlinge und Migrant*innen, die über die belarussische Grenze nach Polen kamen, wurden von den Behörden weiterhin feindselig behandelt. Der polnische Grenzschutz verweigerte den Geflüchteten internationalen Schutz und schob sie zurück nach Belarus. Einige der Betroffenen wurden dort von den Grenzposten misshandelt und in den Białowieża-Waldzurückgeschickt. Von Mitte 2021 bis Ende 2023 starben Berichten zufolge mindestens 55 Migrant*innen und Asylsuchende aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung, Unterernährung und Erschöpfung.

Tausende Flüchtlinge und Migrant*innen, darunter auch Minderjährige, denen es gelungen war, über die belarussische Grenze nach Polen zu kommen, wurden weiterhin willkürlich in geschlossenen Hafteinrichtungen für ausländische Staatsangehörige festgehalten. Die automatische Inhaftierung ohne Einzelfallprüfung hatte zahlreiche Gerichtsurteile zur Folge, die den Betroffenen Entschädigungen für ihre rechtswidrige Inhaftierung zusprachen.

Viele ukrainische Flüchtlinge lebten noch immer in Gemeinschaftsunterkünften, die nur als Übergangslösung gedacht waren, und hatten Schwierigkeiten, Mietwohnungen zu finden. Die meisten Flüchtlinge mussten bis zu 75 Prozent der Kosten für ihre Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften selbst tragen. Obwohl bestimmte Personengruppen von dieser Verpflichtung ausgenommen sein sollten, galt sie doch für die Mehrheit der Flüchtlinge. Einige von ihnen kehrten deshalb in die Ukraine zurück.

Im Oktober 2023 hielt die Regierung parallel zur Parlamentswahl ein Referendum zu Migration und Sozialpolitik ab. Dabei sollten die Bürger*innen suggestive und irreführende Fragen beantworten, darunter eine, die implizierte, dass Flüchtlinge "illegal" seien. Im Vorfeld des Referendums nahmen migrationsfeindliche Äußerungen von Politiker*innen und regierungsnahen Medien stark zu. Das Referendum scheiterte, weil viele Bürger*innen ihre Teilnahme aus Protest verweigerten und das notwendige Quorum von 50 Prozent nicht erreicht wurde.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die Regierung ging 2023 weiterhin gegen Richter*innen und Staatsanwält*innen vor, die Bedenken bezüglich der Justizreformen äußerten. Im Januar 2023 übertrug das Parlament dem Obersten Verwaltungsgericht die Zuständigkeit für Disziplinarverfahren gegen Richter*innen, obwohl dies gegen die polnische Verfassung verstieß. Die Entscheidung löste nicht die Probleme im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit von Richter*innen, denn diese konnten nach wie vor entlassen werden, wenn sie die Rechtmäßigkeit und die Entscheidungen des Landesjustizrats (Krajowa Rada Sądownictwa – KRS) in Zweifel zogen, der an ihrer Nominierung beteiligt war. Der KRS war umstrukturiert worden, um den Einfluss der Exekutive auf die Judikative zu stärken und politische Kontrolle über die Ernennung von Richter*innen auszuüben. 

Im Juli 2023 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Tuleya gegen Polen, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die die Immunität des Richters Igor Tuleya aufgehoben und ihn suspendiert hatte, nicht unabhängig und unparteiisch war. Nach Ansicht des EGMR verletzten die gegen den Richter ergriffenen Maßnahmen seine Rechte auf ein faires Verfahren, auf Achtung des Privatlebens und auf freie Meinungsäußerung.

Im Juli 2023 verabschiedete das Parlament eine Änderung des Gesetzes zur Verteidigung des Heimatlandes, die verhinderte, dass Piotr Raczkowski weiterhin als Richter tätig sein konnte. Die Änderung sah vor, dass ein Militärrichter, der aus dem Militärdienst entlassen wurde, auch als Richter in den Ruhestand treten musste. Zum Zeitpunkt der Änderung war Piotr Raczkowski der einzige Richter, den dies betraf. Er war für seine Kritik an der PiS-Regierung bekannt, die bereits zuvor versucht hatte, ihn mit verschiedenen Mitteln aus dem Amt zu entfernen.

Im April 2023 verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Untersuchung des russischen Einflusses auf die innere Sicherheit Polens, das allgemein als "Lex Tusk" bezeichnet wurde. Es gab zahlreiche menschenrechtliche Bedenken gegen das Gesetz, so wurde u. a. befürchtet, dass es dazu dienen könnte, Oppositionelle wie Donald Tusk sowie Dissident*innen und andere Personen, die für ein politisches Amt kandidierten oder der Regierung kritisch gegenüberstanden, ins Visier zu nehmen und zu stigmatisieren.

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