Amnesty Report Libyen 28. März 2023

Libyen 2022

Eine Menschenschlange vor einem Bus, davor eine Sicherheitskraft

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte hielten weiterhin Tausende Menschen willkürlich fest. Zahlreiche Demonstrierende, Anwält*innen, Journalist*innen, Kritiker*innen und Aktivist*innen wurden in Gewahrsam genommen, gefoltert oder anderweitig misshandelt und gezwungen, vor laufender Kamera "Geständnisse" abzulegen. Viele fielen auch dem Verschwindenlassen zum Opfer. Milizen und bewaffnete Gruppen gingen im ganzen Land mit rechtswidriger Gewalt gegen friedliche Proteste vor. Dutzende Menschen wurden wegen ihrer religiösen Überzeugungen, ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Geschlechtsidentität bzw. sexuellen Orientierung oder wegen ihres Aktivismus für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) festgenommen, strafrechtlich verfolgt und zu langen Haftstrafen verurteilt. Gegen einige ergingen sogar Todesurteile. Behörden, Milizen und bewaffnete Gruppen schränkten den Raum für zivilgesellschaftliches Engagement und den Zugang zu humanitärer Hilfe in den betroffenen Gemeinschaften stark ein und führten Verleumdungskampagnen gegen internationale und libysche Menschenrechtsgruppen durch. Milizen und bewaffnete Gruppen töteten und verletzten Zivilpersonen und zerstörten ziviles Eigentum bei vereinzelten, lokal begrenzten Zusammenstößen. Straflosigkeit war noch immer weit verbreitet, und die Behörden finanzierten Milizen und bewaffnete Gruppen, die für Menschenrechtsverstöße verantwortlich waren. Frauen und Mädchen waren fest verwurzelter Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Angehörige ethnischer Minderheiten und Binnenvertriebene sahen sich beim Zugang zu Bildungseinrichtungen und zur Gesundheitsversorgung nach wie vor mit Hindernissen konfrontiert. Die von der EU unterstützte libysche Küstenwache und die Miliz der Sicherheitsbehörde (Stability Support Authority – SSA) fingen Tausende Flüchtlinge und Migrant*innen auf See ab und brachten sie gegen ihren Willen nach Libyen zurück, wo sie in Haft kamen. Inhaftierte Migrant*innen und Flüchtlinge waren Folter, rechtswidriger Tötung, sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit ausgesetzt.

Hintergrund

Die politische Pattsituation in Libyen verfestigte sich weiter, da kein neuer Termin für die ursprünglich für Dezember 2021 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen festgelegt wurde. Im März 2022 stimmte das Parlament einseitig für eine Änderung der Verfassungserklärung und ernannte eine neue Regierung, die Regierung der Nationalen Stabilität. Diese wurde von den selbst ernannten Libysch-Arabischen Streitkräften (Libyan Arab Armed Forces – LAAF) unterstützt, einer bewaffneten Gruppe, die einen Großteil des Ostens und Südens des Landes kontrollierte. Andere politische und militärische Akteure lehnten den Schritt unter Hinweis auf Verfahrensfehler ab und unterstützten weiterhin die Regierung der Nationalen Einheit. Diese behielt die Kontrolle über die Hauptstadt Tripolis, obwohl Milizen, die der Regierung der Nationalen Stabilität nahestanden, versuchten, sie zu stürzen.

Im Juni und Juli 2022 verhängte die LAAF eine Ölblockade, die zu Engpässen bei der Stromversorgung und zu Protesten der Bevölkerung führte. Die LAAF hob die Blockade erst auf, nachdem sie sich mit der Regierung der Nationalen Einheit auf eine Neubesetzung der Leitung der Nationalen Ölgesellschaft geeinigt hatte.

Es gelang auch 2022 nicht, einen Staatshaushalt zu verabschieden und die Finanzinstitutionen zu konsolidieren, was verspätete Lohnauszahlungen im öffentlichen Sektor und Beeinträchtigungen staatlicher Dienstleistungen zur Folge hatte.

Im September 2022 veröffentlichte das libysche Rechnungsprüfungsamt einen Bericht, in dem großflächige Korruption und Misswirtschaft in den staatlichen Einrichtungen im Jahr 2021 aufgedeckt wurden. Laut dem Bericht ging es dabei um Gelder in Höhe von mehreren Milliarden Libyschen Dinar.

Willkürliche Inhaftierung, rechtswidriger Freiheitsentzug und unfaire Gerichtsverfahren

Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte hielten weiterhin Tausende Menschen willkürlich fest. Einige von ihnen waren bereits seit über elf Jahren ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert. Im Laufe des Jahres verkündete die Regierung der Nationalen Einheit und die LAAF jedoch die Freilassung zahlreicher Gefangener, die im Zusammenhang mit dem Konflikt inhaftiert worden waren, und anderer politischer Häftlinge.

Zahlreiche Menschen wurden wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Einstellung, ihrer Stammeszugehörigkeit oder aufgrund ihrer Kritik an mächtigen Milizen oder bewaffneten Gruppen willkürlich festgenommen. Einige Personen wurden Opfer des Verschwindenlassens oder bis zu elf Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Zudem kam es zu Fällen, in denen Gefangene als Geiseln benutzt wurden, um Lösegelder zu erpressen.

Im Mai 2022 entführten Milizionäre der Sicherheitsbehörde (SSA) Ahmed al-Daykh, einen Mitarbeiter des libyschen Rechnungsprüfungsamts, als er sich vor dem Amtsgebäude aufhielt. Er hatte zuvor Besorgnis über die innerstaatliche Korruption geäußert. Ahmed al-Daykh blieb acht Tage lang "verschwunden", bevor er ohne Anklage freigelassen wurde.

Zivilpersonen und Einzelpersonen, denen Menschenrechtsverstöße vorgeworfen wurden, mussten sich in grob unfairen Gerichtsverfahren vor Militärgerichten verantworten. Im Juni 2022 verwies das Berufungsgericht in Tripolis 82 Angeklagte, denen eine Beteiligung an der Tötung von mehr als 1.200 Häftlingen im Abu-Salim-Gefängnis im Jahr 1996 vorgeworfen wurde, an die Militärgerichtsbarkeit. Das Gericht in Tripolis begründete diese Entscheidung damit, dass der Tatort eine militärische Einrichtung war und es sich bei den Angeklagten um Angehörige der Streitkräfte handelte. Viele der Angeklagten waren im Anschluss an ihre Festnahme nach dem Sturz der Regierung von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 gefoltert oder anderweitig misshandelt worden. Ihre durch Folter erpressten "Geständnisse" wurden in den Gerichtsverfahren gegen sie verwendet.

Milizen und bewaffnete Gruppen entführten Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter und schüchterten sie ein.

Rechtsbeistände, die Zivilpersonen vor Militärgerichten in Ostlibyen vertraten, berichteten über Schikanen und Einschüchterungen durch Militärrichter und Staatsanwälte. Im Mai 2022 nahm die bewaffnete Gruppe Internal Security Agency Benghazi (ISA-Bengasi) den Rechtsanwalt Adnan al-Arafi in Bengasi fest und hielt ihn 13 Tage lang fest. Er hatte zuvor eine Beschwerde gegen einen Militärrichter eingereicht.

Strafprozesse fanden auf dem Mitiga-Stützpunkt in Tripolis statt, der von der Miliz Deterrence Apparatus for Combating Organized Crime and Terrorism (DACOT) kontrolliert wurde. Rechtsbeistände und Richter*innen befürchteten Vergeltungsmaßnahmen, wenn sie Vorwürfe über willkürliche Inhaftierung oder Folter und andere Misshandlungen durch DACOT-Milizionäre vorbrachten oder untersuchten.

Folter und andere Misshandlungen

Milizen und bewaffnete Gruppen folterten und misshandelten Gefangene weiterhin systematisch und ungestraft. Angehörige von Häftlingen und Gefangene berichteten von Schlägen, Elektroschocks, Scheinhinrichtungen, Auspeitschungen, Waterboarding, Aufhängen in schmerzhaften Positionen und sexualisierter Gewalt. Dies betraf Personen in Gewahrsam der DACOT, der SSA und der ISA in Tripolis, der Joint Operations Force (JOF) in Misrata sowie Gefangene bewaffneter Gruppen wie der ISA, der Tariq Ben Zeyad und der 128. Brigade in Ostlibyen.

Gefangene wurden unter grausamen und unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Es herrschten Überbelegung und unhygienische Bedingungen, und es gab keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Zudem erhielten die Inhaftierten weder genug zu essen noch ausreichend Möglichkeiten, sich zu bewegen.

Berichten zufolge starben Dutzende Menschen in Libyen in Gewahrsam infolge von Folter, fehlender medizinischer Versorgung und Unterernährung.

Milizen und bewaffnete Gruppen ignorierten weitgehend einen Erlass des Innenministeriums vom Mai 2022, der die Veröffentlichung von "Geständnissen" von Gefangenen in den Sozialen Medien untersagte.

Das libysche Recht sah auch 2022 weiterhin Körperstrafen wie Auspeitschungen und Amputationen vor.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Milizen und bewaffnete Gruppen entführten zahlreiche Mitarbeiter und Aktivisten zivilgesellschaftlicher Organisationen. Dies geschah im Kontext einer Verleumdungskampagne, die von den Ministerien der Regierung der Nationalen Einheit und verbündeten Milizen gegen libysche und internationale Menschenrechtsgruppen geführt wurde. Sie warfen den Gruppen vor, Atheismus und Homosexualität zu verbreiten und die "libyschen Werte" anzugreifen.

Internationale und libysche humanitäre Organisationen berichteten von immer stärkeren Einschränkungen. So wurde ihnen u. a. der Zugang zu Hafteinrichtungen und zu hilfsbedürftigen Gruppen verweigert, und Mitarbeitende wurden festgenommen, vorgeladen und anderweitig schikaniert.

Im Juli 2022 ordnete ein Gericht in Bengasi die vorübergehende Suspendierung des Erlasses Nr. 286/2019 zur Regulierung von NGOs an. Die Aktivitäten und die Finanzierung von NGOs in ganz Libyen blieben jedoch weiterhin stark eingeschränkt.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Im Laufe des Jahres wurden zahlreiche Aktivist*innen, Medienschaffende und andere Personen von Milizen und bewaffneten Gruppen entführt, willkürlich inhaftiert oder bedroht, weil sie ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahrgenommen hatten.

Zwischen Februar und März 2022 wurden mindestens sieben Männer allein deshalb festgenommen, weil sie friedlich ihre Meinung geäußert hatten oder der zivilgesellschaftlichen Gruppe Tanweer angehörten. Als Beweismittel gegen sie akzeptierten die Justizbehörden "Geständnisse", die während ihrer Zeit in Gewahrsam der ISA in Tripolis durch Folter erzwungen und auf Video aufgezeichnet worden waren. Die Männer hatten in der Haft keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Sechs von ihnen wurden nach unfairen Gerichtsverfahren wegen "Beleidigung und Verunglimpfung des Islam" und "Missbrauchs von Internetnetzwerken" schuldig gesprochen und zu Haftstrafen zwischen einem Jahr und zehn Jahren verurteilt.

Zwischen Mai und August 2022 gingen Milizen und bewaffnete Gruppen in den Städten Sebha, Sirte, Bengasi, Misrata, Bayda und Tripolis mit rechtswidriger und teils tödlicher Gewalt gegen Menschen vor, die an überwiegend friedlichen Protesten teilnahmen. Die Proteste richteten sich gegen die Macht von Milizen und bewaffneten Gruppen und die zunehmend marode wirtschaftliche Lage. Mindestens zwei Männer kamen ums Leben und zahlreiche weitere wurden verletzt. Bewaffnete Akteure hielten in Misrata und Bengasi zudem Aktivisten und Journalisten willkürlich bis zu 14 Wochen lang fest, weil diese auf Social-Media-Plattformen Aufrufe zu Protesten unterstützt bzw. über Proteste berichtet hatten.

Im März 2022 entführte die ISA-Sirte den Journalisten Ali al-Refawi, weil er über die Proteste in Sirte berichtet hatte. Sie übergaben ihn anschließend der bewaffneten Gruppe Tariq Ben Zayat, die ihn bis Juli ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung festhielt.

Rechtswidrige Angriffe

Die seit Oktober 2020 geltende nationale Waffenruhe hielt 2022 im Allgemeinen. Allerdings verletzten Milizen und bewaffnete Gruppen bei vereinzelten, lokal begrenzten bewaffneten Zusammenstößen das humanitäre Völkerrecht. Unter anderem kam es zu wahllosen Anschlägen und zur Zerstörung von ziviler Infrastruktur und Privateigentum.

Im August 2022 kamen bei Zusammenstößen zwischen Milizen in dicht besiedelten Vierteln von Tripolis 32 Menschen ums Leben, darunter drei Kinder und weitere Zivilpersonen. Zahlreiche Wohnhäuser und anderes Privateigentum sowie mindestens vier medizinische Einrichtungen wurden dabei beschädigt. Im September wurden bei Zusammenstößen zwischen rivalisierenden Milizen in der Stadt al-Zawyia ein Kind und mindestens sechs weitere Menschen, die meisten von ihnen Zivilpersonen, getötet.

Mehrere Länder, darunter Russland, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate, verstießen gegen das seit 2011 geltende UN-Waffenembargo, indem sie ausländische Kämpfer*innen und militärische Ausrüstung nicht aus Libyen abzogen.

Mindestens 39 Menschen starben 2022 in Libyen durch Landminen und Blindgänger.

Straflosigkeit

Staatsbedienstete sowie Angehörige von Milizen und bewaffneten Gruppen, die für völkerrechtliche Verbrechen verantwortlich waren, genossen nahezu völlige Straffreiheit. Die Behörden finanzierten weiterhin bewaffnete Gruppen und Milizen, die für Menschenrechtsverstöße verantwortlich waren, und integrierten deren Mitglieder ohne vorhergehende Überprüfung in staatliche Einrichtungen. Im November ernannte die Regierung der Nationalen Einheit Emad Trabulsi, den Befehlshaber der Miliz der SSA, zum amtierenden Innenminister, obwohl ausreichend Belege für die Beteiligung seiner Miliz an Straftaten gegen Migrant*innen und Flüchtlinge vorlagen.

Die libyschen Behörden ergriffen keine Maßnahmen, um JOF-Milizionäre für die außergerichtliche Hinrichtung des 27-jährigen Altayeb Elsharari im März 2022 zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem unterstützten sie die Miliz weiterhin mit staatlichen Mitteln.

Im Laufe des Jahres wurden in den Städten Tarhouna und Sirte Massengräber entdeckt, in denen die sterblichen Überreste von Personen vermutet wurden, die von den bewaffneten Gruppen al-Kaniat bzw. Islamischer Staat getötet worden waren. Es gab erhebliche Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit, Wirksamkeit und Transparenz der laufenden Untersuchungen zu rechtswidrigen Tötungen, die von al-Kaniat in Tarhouna verübt worden waren. Zudem wurden diejenigen, gegen die ausreichende zulässige Beweismittel für eine Beteiligung an Straftaten vorlagen, nicht in fairen Verfahren vor reguläre Gerichte gestellt.

Im Juli 2022 verlängerte der UN-Menschenrechtsrat das Mandat der Erkundungsmission zur Untersuchung der seit 2016 in Libyen begangenen völkerrechtlichen Verbrechen um einen letzten, nicht verlängerbaren Zeitraum von neun Monaten.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Vonseiten der Behörden gab es keinerlei Bemühungen, Frauen, Mädchen sowie lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) vor Tötung, Folter und rechtswidrigem Freiheitsentzug durch Milizen, bewaffnete Gruppen und andere nichtstaatliche Akteure zu schützen. Frauen und Mädchen sahen sich mit Hindernissen konfrontiert, wenn sie wegen Vergewaltigung und anderer sexualisierter Gewalt Anzeige erstatten wollten. So waren sie dem Risiko einer strafrechtlichen Verfolgung wegen sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe – in Libyen eine Straftat – ausgesetzt und mussten mit Vergeltungsmaßnahmen der Täter rechnen.

Im September wurde die 32-jährige Kholoud al-Ragbani getötet, nachdem sie die Scheidung eingereicht hatte. Die Behörden leiteten keine Untersuchung zu dem Mord ein und sorgten nicht dafür, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Diskriminierung

Ethnische Minderheiten und indigene Gemeinschaften

Einige Angehörige der ethnischen Minderheiten der Tabu und der Tuareg wurden im Süden Libyens beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, einschließlich Gesundheitsversorgung und Bildung, diskriminiert. Dies betraf insbesondere diejenigen, die aufgrund diskriminierender Gesetze und Vorschriften in Bezug auf den Erhalt der libyschen Staatsbürgerschaft keine Ausweispapiere hatten. Einige blieben staatenlos, da die Behörden ihre libysche Staatsangehörigkeit nicht anerkannten.

LGBTI+ und Frauen

Im Oktober 2022 veröffentlichte die Regierung der Nationalen Einheit den Erlass Nr. 902/2022, der Kindern libyscher Mütter und nichtlibyscher Väter Zugang zum öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen gewährt. Der Erlass garantierte ihnen jedoch nicht das Recht auf die libysche Staatsangehörigkeit, wie es Kindern libyscher Väter und nichtlibyscher Mütter zustand.

Zwischen Februar und Mai 2022 nahmen Polizei und DACOT-Milizionäre in Tripolis, Misrata und Zliten mindestens 26 Personen wegen Crossdressing fest. Die meisten von ihnen wurden ohne Anklage freigelassen.

Binnenvertriebene

Fast 143.000 Menschen waren nach wie vor im eigenen Land vertrieben, einige schon seit über zehn Jahren. Tausende Familien aus Bengasi, Derna und anderen Teilen Ostlibyens konnten nicht in ihre Heimat zurückkehren, da sie Vergeltungsmaßnahmen durch mit der LAAF verbündete bewaffnete Gruppen und die Zerstörung ihres Eigentums befürchteten. Für den Zugang zu Bildungs- und Gesundheitsdiensten oder den Bezug von staatlichen Löhnen und Renten waren offizielle Dokumente unerlässlich, doch bei der Beschaffung mussten diese Familien immer wieder Verzögerungen oder Ablehnungen hinnehmen, komplizierte bürokratische Verfahren durchlaufen oder sich auf persönliche Beziehungen verlassen. Hunderte mussten sich in Tripolis und Misrata in schlecht ausgestatteten angemieteten Unterkünften selbst versorgen.

Tausende Einwohner*innen der Stadt Tawergha, die seit 2011 vertrieben waren, konnten nicht in ihre Häuser zurückkehren, weil es an grundlegenden Dienstleistungen fehlte. Diejenigen, die zurückkehrten, berichteten, dass es weder angemessenen Wohnraum noch Strom oder sauberes Wasser gab. Zudem erhielten sie keinerlei Entschädigung für das von den in Misrata stationierten Milizen geplünderte oder zerstörte Eigentum.

Im Mai 2022 befahlen SSA-Milizionäre den Menschen aus Tawergha, die sich im Lager al-Fallah befanden, ihre Unterkünfte zu verlassen, da ihnen sonst die Zwangsräumung drohe. Al-Fallah war das einzige noch verbleibende Lager für Vertriebene aus Tawergha in Tripolis.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Flüchtlinge und Migrant*innen waren großflächigen und systematischen Menschenrechtsverletzungen und -verstößen durch Sicherheitskräfte, Milizen und bewaffnete Gruppen ausgesetzt, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Zahlreiche Migrant*innen und Geflüchtete starben auf ihrem Weg nach Europa in libyschen Gewässern oder auf libyschem Boden.

Die von der EU unterstützte libysche Küstenwache und die SSA-Miliz gefährdeten das Leben von Flüchtlingen und Migrant*innen, die das Mittelmeer überqueren wollten. Boote wurden beschossen oder anderweitig vorsätzlich beschädigt, was zum Tod von Menschen führte (siehe Länderkapitel Italien). Am 18. Februar 2022 töteten SSA-Milizionäre einen Mann und verletzten weitere Personen, als sie ein Boot mit Migrant*innen und Geflüchteten auf dem Mittelmeer abfingen.

Mindestens 19.308 Flüchtlinge und Migrant*innen wurden 2022 abgefangen und gegen ihren Willen nach Libyen zurückgebracht, wo Tausende Personen auf unbestimmte Zeit unter extrem schlechten Bedingungen in Hafteinrichtungen der Abteilung zur Bekämpfung unerlaubter Migration (Directorate for Combating Illegal Migration – DCIM) sowie der SSA und anderer Milizen festgehalten wurden. Der UN-Unterstützungsmission in Libyen, weiteren UN-Organisationen sowie Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen wurde der Zugang zu diesen Hafteinrichtungen verweigert. In einigen Fällen erhielten sie die Möglichkeit, Hilfsgüter zu liefern und Dienstleistungen zu erbringen, durften aber keine vertraulichen Gespräche mit den Inhaftierten führen. Tausende weitere Flüchtlinge und Migrant*innen wurden nach der Ausschiffung Opfer des Verschwindenlassens oder galten als vermisst.

SSA-Milizen hielten Tausende Migrant*innen und Flüchtlinge willkürlich im al-Mayah-Gefängnis fest. Dort waren sie Schlägen, Zwangsarbeit, Vergewaltigung und anderer sexualisierter Gewalt, einschließlich Zwangsprostitution, ausgesetzt.

Mit Stand vom 27. November 2022 hielt die DCIM mindestens 4.001 Migrant*innen und Flüchtlinge fest. Sie wurden unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, erlitten schwere Folter und anderweitige Misshandlungen, mussten Lösegelder beschaffen, um freizukommen, und erhielten keine angemessene medizinische Versorgung. Angestellte der DCIM teilten Amnesty International bei einem Treffen in Tripolis im Februar 2022 mit, dass die DCIM alle bis auf vier Haftanstalten in Tripolis geschlossen habe. Die mutmaßlich geschlossenen Haftanstalten befanden sich jedoch noch in Betrieb und wurden von Milizen verwaltet, darunter auch das berüchtigte Haftzentrum al-Mabani, das von der Miliz der Sicherheitsbehörde kontrolliert wurde.

Bewaffnete Gruppen unter dem Kommando der LAAF brachten Tausende Migrant*innen und Flüchtlinge nach Ägypten, in den Sudan, in den Tschad und nach Niger. Die Betroffenen erhielten kein ordnungsgemäßes Verfahren und wurden gezwungen, ohne ausreichende Nahrung und Wasser in Lastwagen zu steigen.

Von den 43.000 Flüchtlingen und Asylsuchenden in Libyen, die beim UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) registriert waren, wurden bis zum 15. Oktober 2022 insgesamt 693 außer Landes gebracht bzw. in anderen Ländern aufgenommen. Mindestens 1.255 Migrant*innen wurden über die Internationale Organisation für Migration in ihre Herkunftsländer zurückgebracht. Es bestanden jedoch Zweifel, ob ihre Entscheidungen zur Rückkehr gemäß dem Grundsatz der freien und informierten Zustimmung getroffen wurden und somit wirklich freiwillig waren.

Todesstrafe

Das libysche Recht sah weiterhin für eine Vielzahl von Straftaten die Todesstrafe vor, nicht nur für vorsätzliche Tötung. Auch 2022 wurden Todesurteile verhängt, so z. B. von Militärgerichten im Osten Libyens nach grob unfairen Gerichtsverfahren. Hinrichtungen wurden jedoch nicht vollzogen.

Im September verurteilte ein Gericht in Misrata Diaa al-Din Balaaou wegen Apostasie (Abfall vom Glauben) zum Tode.

Klimakrise

Libyen übermittelte keinen nationalen Klimabeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC), wie es das Pariser Klimaschutzabkommen vorsieht, zu dessen Unterzeichnern Libyen gehört. Expert*innen stuften das Land aufgrund seiner begrenzten Wasserressourcen und trockenen Böden sowie der Dürren als besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels ein. Zudem sei Libyen aufgrund der jahrelangen Konflikte und prekären Sicherheitslage kaum auf die Verschlechterung der Umweltbedingungen vorbereitet.

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