Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 11. März 2024

Wenn vom amerikanischen Traum nur eine Zahnbürste bleibt

Ein Mann steht in einer Wüste, Kakteen um ihn herum, er trägt kurze Hosen und Laufschuhe und hält ein gerahmtes Bild von einem Foto eines Hoodies vor seinem Oberkörper.

In der Grenzstation von Ajo arbeitete Tom Kiefer als Hausmeister.

Der Künstler Tom Kiefer sammelte Gegenstände, die Migrant*innen an der US-mexikanischen Grenze weggenommen wurden und schuf daraus eine fotografische Langzeitdokumentation.

Aus Ajo von Arndt Peltner

Die Kleinstadt Ajo im Süden Arizonas wirkt wie aus einem Quentin Tarantino-Film. Umgeben von einer weitläufigen Militärbasis im Norden und Westen, dem Land der Tohono O’odham Nation im Osten und dem Organ Pipe National Monument im Süden. Einst wurde dort Kupfer abgebaut, doch das ist lange her. Die Spuren sind noch weithin sichtbar, gewaltige Halden türmen sich gleich hinter dem Ortsausgang auf.

Mit ihren knapp 3.000 Einwohner*innen ist Ajo die letzte größere Gemeinde vor der mexikanischen Grenze. Von Norden kommend führt der Highway 85 zum zentralen, im spanischen Kolonialstil gestalteten Platz, der von niedrigen Gebäuden umrahmt wird. Hier wartet an einem brütend heißen Tag schon Tom Kiefer. Der Künstler, Fotograf und Grafiker sitzt auf einer Bank vor der örtlichen Bücherei, im Stockwerk darüber liegen sein Studio und sein Archiv, die man über eine steile, knarzende Holztreppe erreicht. In dem alten Gebäude ist es angenehm kühl, auch ohne Klimaanlage. Etwas wackelig steigt Tom Kiefer die Treppe hoch.

Viele Zahnbürsten in einer Reihe nebeneinander dicht an dicht gelegt.

Der Künstler lebt seit 2001 in Ajo, nachdem er seinen Antiquitätenladen in Los Angeles aufgab. "Ich bin damals hierher gezogen und wollte mich ganz auf das Fotografieren konzentrieren, Amerika dokumentieren", erzählt er. "Das ist auch passiert. Aber ich bin nicht rausgegangen, um die Bilder zu machen, vielmehr kam Amerika hierher zu mir." An den Wänden im Flur hängen einige seiner Bilder, die teils wie wohlplatzierte Produktwerbung wirken und doch eine ganz andere Geschichte erzählen. Beim zweiten Hinsehen erkennt man, dass die Dinge, die ­abgelichtet wurden, nicht zum Kauf bestimmt sind. Sie zeigen vielmehr, was ­Migrant*innen, die ohne Ausweispapiere auf der US-Seite der Grenze aufgegriffen wurden, weggenommen und anschließend weggeworfen wurde.

Kiefer sieht sich als Dokumentarist, der mit seinen Bildern zum Nachdenken anregen will. Sein Archiv ist ein rund 30 Quadratmeter großer Raum voller überladener Tische und Regale, Kartons und Plastikboxen. Auf den ersten Blick wirkt das Sammelsurium an Objekten wild durcheinander. Doch als er hierhin und dorthin deutet, wird klar, dass es eine ganz bestimmte Ordnung gibt. Alles ist genau dort, wo Kiefer es für seine Fotos braucht. "Wenn man alles zählt, jede Münze, jede Zahnpasta, jede Zahnbürste, dann wären es sicherlich Hunderttausende von Einzelstücken."

Ein Affe-Plüschtier

All die Objekte – Decken, Kleidung, Spielsachen, Gürtel, Schnürsenkel, persönliche Briefe und private Fotos – hat Kiefer über mehrere Jahre gesammelt, als er Hausmeister einer Polizeistation der Border Patrol südlich von Ajo war. Er hatte den sehr gut bezahlten Teilzeitjob kurz nach seinem Umzug nach Arizona angenommen. "Er gab mir die finanzielle Möglichkeit für meine künstlerischen Ideen", erklärt er und fügt lachend hinzu: "Es war sicherlich keine Karriereentscheidung." Auf seltsame Weise wurde sie es dann aber doch.

Ein Zimmer, das komplett mit verschiedensten Gegenständen zugestellt ist.

Hunderttausende Objekte: Das Atelier von Tom Kiefer hat eine spezielle Ordnung.

Mit Konserven fing es an

Es fing an mit Konserven, erzählt Kiefer: "Diese Lebensmittel, die die Menschen mit sich trugen, wurden ihnen zuerst weggenommen und in den Müll geschmissen. Ich fand das schrecklich, man schmeißt doch kein gutes Essen weg. Also bin ich zum Leiter der Polizeistation gegangen und habe ihn gefragt, ob ich die Konserven nicht zur lokalen Food Bank bringen könne. Er erlaubte das, das war so Mitte 2007. Damit hat das Projekt begonnen, denn als ich die Konserven aus den Containern fischte, waren da auch Bibeln, Rosenkränze, viele Familienfotos."

In den zehn Jahren, die Kiefer als Hausmeister arbeitete, bekam er aus nächster Nähe mit, welche Habseligkeiten die Grenzschützer*innen als "unnötig" oder "potenziell gefährlich" einstuften und in den Müll warfen. Es war fast alles, was die Menschen bei sich hatten. Kiefer nahm die Dinge mit, und sein Archiv wuchs von Tag zu Tag. Mit feinfühligen und respektvollen Fotos dokumentierte er die Objekte, die eine ganz andere Geschichte der Situation an der Grenze erzählen, wie sein Bild von Dutzenden aufgereihten Zahnbürsten zeigt: "Es sind rote, weiße und blaue Zahnbürsten, 50 an der Zahl. In den Farben Amerikas, rot, weiß und blau. Es geht gar nicht patriotischer."

Eine stille, nüchterne Anklage

Die Fotos zeigen Geldbörsen, Schnürsenkel, Schuhe, Rucksäcke, Haarbürsten, Tücher, Jeanshosen in allen Größen, nebeneinander liegend, aufgereiht, aufgestapelt. Auf einem Foto sind Spielsachen zu sehen, auf einem anderen ein leicht verdreckter Kinderrucksack mit Miffy, dem kleinen Hasen. Daneben ein Foto mit zwölf Gläsern Babynahrung. Was hatten diese Kinder durchgemacht auf ihrem langen Weg Richtung Norden, in ein Land, das sie nicht haben will? Sie hatten von Drogenkartellen kontrollierte Gebiete hinter sich, Armut, Hunger und Gewalt.

Die Sohlen von Converse All-Star-Schuhen auf einem Kunstrasen.

Kiefers Fotos sind in ihrer Schlichtheit eine stille, erschütternde Anklage. Sie erzählen etwas anderes als die aufgeregten politischen Migrationsdebatten: Geschichten von ganz normalen Menschen auf ihrem Weg in eine hoffentlich bessere Zukunft für sich und ihre Kinder. Tom Kiefer hat seinem nicht enden wollenden Fotoprojekt den Titel "El Sueño Americano / The American Dream" gegeben. Neben dem Archiv befindet sich sein Fotostudio, durch die zahlreichen Fenster fällt das Sonnenlicht. Auf einem riesigen Tisch liegen Dutzende seiner Drucke, an den Wänden hängen einige davon gerahmt. Ein Bild Hunderter Schnürsenkel, das an Medusa aus der griechischen Mythologie erinnert. Kiefer erzählt, dass die Migran­t*innen, die umgehend wieder über die Grenze abgeschoben wurden, ihre Schnürsenkel nicht zurückbekamen. 

Auf der mexikanischen Seite wurden sie deshalb direkt als Abgeschobene erkannt und damit zur leichten Beute der Drogen- und Menschenhandelskartelle.

Fotoprojekt mit ungewisser Zukunft

Kiefer zeigt auf ein Foto mit Damenbinden, auch diese wurden den Frauen weggenommen und landeten in den Müllcontainern. "Wenn sie dann ihre Periode hatten, mussten sie jemanden fragen, meistens einen Mann, denn nicht immer waren Grenzbeamtinnen vor Ort. Das ist doch total verrückt." Ein anderes Bild zeigt in Großaufnahme eine Plastikwasserflasche, umwickelt mit silbernem Isolierband, wie sie die Migrant*innen auf dem langen Weg durch die Wüste mit sich führen. "Sie sah wie eine Skulptur aus, ein Kunstwerk. Ich brachte sie nach Hause und ließ sie fast fünf Jahre lang liegen, ich wusste nicht, wie ich sie fotografieren sollte. Ich versuchte es mit unterschiedlichem Hintergrund, aber nichts passte. Und eines Tages legte ich sie auf einen Untergrund, den ich mit Isolierband überzogen hatte."

Tom Kiefer hat über die Jahre Hunderte solcher Fotos gemacht. Er sei noch lange nicht fertig mit seiner Dokumentation dieses Kapitels des "American Dream". Doch ihm laufe die Zeit davon. "Lassen Sie uns hinsetzen", meint er und lässt sich in einen Sessel fallen: "Ich habe Parkinson, das beeinflusst meine Balance und meine Mobilität schon sehr." Immer wieder zittert er während des Gesprächs, mal mehr, mal weniger. Das Erzählen ermüdet ihn sichtlich. Die Worte verschleifen, klingen teils gepresst. "Ich hoffe, dass irgendeine Organisation oder irgendjemand kommt, um das Projekt weiter zu finanzieren. Jemand, der die Bedeutung und den Bildungswert dieser Arbeit erkennt und einfach fragt: Mr. Kiefer, was brauchen Sie?" Bislang habe er alles selbst gemacht. Er kramt Fotos hervor, auf denen er auf zwei Leitern über den Objekten steht, um sie aufzunehmen. Doch das wird ihm langsam zu viel. Tom Kiefer überlegt kurz und meint dann: "Ich mache einfach weiter, bis es nicht mehr geht und dann werde ich wohl alles spenden."

Arndt Peltner ist freier USA-Korrespondent und lebt in Oakland/Kalifornien. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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