Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 29. April 2021

Amazon und Alphabet: Zähmung der Giganten

Männer und Frauen stehen vor einem Ziegelsteingebäude, wo eine US-amerikanische Flagge weht

Während sie immer reicher und mächtiger werden, stellen sich zwei der einflussreichsten Unternehmen der Welt gegen Gewerkschaftsbestrebungen: Amazon und Alphabet. Doch der Widerstand wächst.

Von Tobias Oellig

Weltweit hat die Corona-Pandemie Menschen in existentielle Krisen gestürzt, zugleich verzeichnen Superreiche enorme Vermögenszuwächse. Jeff Bezos, Gründer und bis Herbst noch Chef von Amazon, zählt zu den Krisengewinnern. Während des Pandemiejahres konnte er sich über einen Vermögenszuwachs von rund 67,5 Prozent (Institute for Policy Studies) freuen. Oder in US-Dollar ausgedrückt: 76,3 Milliarden. Hätte Bezos sie an seine 810.000 US-Beschäftigten verteilt – hätten alle eine Sonderzahlung von jeweils rund 100.000 US-Dollar erhalten.

Nicht nur diese Zahlen sorgen für Unmut in der Belegschaft. Schon lange stehen die Überwachung des Personals und die Arbeitsbedingungen bei Amazon in der Kritik, die sich in Zeiten der Pandemie noch verschlechtert haben. Es brodelt beim weltgrößten Versandhändler.

"Die Menschen haben sich von ihrem Arbeitgeber betrogen gefühlt", sagte Stuart Applebaum von der US-Einzelhandelsgewerkschaft RWDSU. Während Bezos Milliarden anhäufte, seien Zehntausende Lagerarbeiter_innen den Gefahren der Pandemie ausgesetzt gewesen. Knapp 20.000 Beschäftigte steckten sich nach Angaben von Amazon bereits in den ersten Monaten der Pandemie mit Covid-19 an. "Man hat sich nicht um ihre Sicherheit und Gesundheit gekümmert", sagte Applebaum dem Fernsehsender CNBC. "Amazon redet von Gehältern, aber für die Leute, die dort arbeiten, ist das nicht gut genug. Sie werden nicht mit Würde behandelt."

Hoffnungsvoller Kampf

In den USA schaute man seit Jahresbeginn gespannt auf die Kleinstadt Bessemer im Bundesstaat Alabama. Dort hatte Amazon im März 2020 am Stadtrand ein Logistikzentrum eröffnet. Das Lager war Teil einer Expansionsstrategie, die sich während der Pandemie beschleunigte: Im vergangenen Jahr vergrößerte sich die Belegschaft von Amazon in den USA um mehr als 400.000 Personen. Nach Walmart ist Amazon der zweitgrößte Arbeitgeber des Landes. Weltweit hatte der Konzern 2020 fast 1,3 Millionen Voll- und Teilzeitbeschäftigte.

Unterstützt von der RWDSU versuchten Lagerarbeiter_innen in Bessemer eine Gewerkschaft zu gründen – die erste in der mehr als 26-jährigen Geschichte von Amazon. Während der vergangenen Monate kämpfte man in Bessemer bis zuletzt um jede Stimme der rund 6.000 Angestellten. Doch die Schlacht ging verloren.

Eine Frau mit schwarzen Haare trägt eine rote Weste und hält Zettel in der rechten Hand; zusammen mit anderen steht sie vor einer Tankstelle.

Zunächst sah es vielversprechend aus: Fast die Hälfte der Mitarbeiter_innen unterschrieb sogenannte Autorisierungskarten, um die Abstimmung in Gang zu setzen. Komplizierte Arbeitnehmergesetze machen es in vielen US-Bundesstaaten notwendig, dass ein Teil der Belegschaft gegenüber der zuständigen Behörde (National Labor Relations Board in Washington D. C.) ein Bekenntnis zur Gewerkschaft abgibt. Daraufhin wird eine Wahl angesetzt. Stimmt mehr als die Hälfte der Beschäftigten für die Gewerkschaft, gilt der Betrieb als organisiert, und die Gewerkschaft kann Tarifverhandlungen mit dem Arbeitgeber aufnehmen. In Bessemer stimmten zwar etwa 55 Prozent der Angestellten ab, aber das anfängliche Interesse schien plötzlich verflogen zu sein. Man kassierte eine überraschende Niederlage.

Dabei hatte sich selbst US-Präsident Joe Biden für die Arbeiter_innen stark gemacht. In einem Video sagte er, ohne Amazon zu nennen: "Es sollte keine Einschüchterung, keinen Zwang, keine Drohungen, keine gewerkschaftsfeindliche Propaganda geben. Jeder Arbeiter sollte die freie und faire Wahl haben, einer Gewerkschaft beizutreten."

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Mit aller Macht hatte Amazon in den vergangenen Monaten versucht, die Belegschaft zu beeinflussen. In einer Anhörung des Haushaltsausschusses des US-Senats zur Einkommensungleichheit schilderte die Lagerarbeiterin Jennifer Bates die Kampagne: In stundenlangen verpflichtenden Meetings und Einzelgesprächen sowie mit SMS und E-Mails an die Mitarbeiter_innen habe das Unternehmen Druck aufgebaut. "Es war sehr ärgerlich zu sehen, dass einige der jüngeren Leute, die aufgeschlossen gegenüber der Gewerkschaft waren, dadurch verwirrt wurden." Mit SMS und Emails an seine Angestellten und mit Anti-Gewerkschaftsschildern auf den Gängen und Toiletten hätte Amazon versucht, sie zu entmutigen. "Kein Ort war tabu. Kein Ort schien sicher zu sein."

Auch in den sozialen Medien machte Amazon Stimmung, ließ eine eigene Anti-Gewerkschafts-Website einrichten, die Beitragszahlungen an Gewerkschaften diskreditierte: "Kaufen Sie dieses Abendessen nicht, kaufen Sie nicht diese Schulsachen, kaufen Sie diese Geschenke nicht, weil Sie nicht die fast 500 US-Dollar haben, die Sie als Gewerkschaftsbeitrag bezahlt haben", hieß es auf www.doitwithoutdues.com. Mittlerweile ist die Website nicht mehr erreichbar.

Das Blog Gizmodo veröffentlichte Auszüge aus einem "Anti-Gewerkschafts-Training-Video", mit dem Amazon-Manager sensibilisiert wurden, um Anzeichen von Gewerkschaftsbestrebungen in der Belegschaft zu erkennen.

Medien berichteten, Amazon habe die Ampelschaltung vor dem Versandlager verändern lassen – laut der Gewerkschaft More Perfect Union on Twitter, um Gewerkschaftsaktivist_innen die Kontaktaufnahme mit Mitarbeiter_innen zu erschweren; nach Angaben der Stadtverwaltung, um lange Wartezeiten wegen roter Ampeln zu verhindern. "Das Verhalten von Amazon war verabscheuungswürdig", sagte Stuart Applebaum von der RWDSU.

Union Busting

Die systematische und professionelle Bekämpfung von Gewerkschaften hat in den USA Tradition, das sogenannte Union Busting ist ein millionenschweres Geschäft. Schätzungsweise 340 Millionen US-Dollar geben US-Arbeitgeber jährlich nach Angaben des Economic Policy Institute aus dem Jahr 2019 aus, um Gewerkschaftsgründungen zu verhindern.

Um Amazon in Alabama zu vertreten, engagierte das Unternehmen den Anwalt Harry Johnson, einen Republikaner, der bereits als ehemaliges Mitglied des National Labour Review Board Vorarbeit für später verabschiedete gewerkschaftsfeindliche Passagen im Bundesarbeitsrecht leistete. Johnson arbeitet für Morgan Lewis, eine Anwaltskanzlei, die Unternehmen im Kampf gegen Gewerkschaften berät.

"Amazon verfügt über unbegrenzte Ressourcen, um die Gewerkschaftsbewegung zu bekämpfen", kommentierte John Logan, Professor für Labor and Employment Studies. Logan gilt als Experte für die Union Avoidance Industry, frei übersetzt: Gewerkschaftsvermeidungsindustrie. Seinen Angaben zufolge hat Amazon Anti-Gewerkschaftsberater_innen während des Kampfes in Alabama Honorare von fast 10.000 US-Dollar täglich gezahlt. Das Union Busting in Bessemer sei drastisch gewesen, kommentierte Joshua Brewer von der RWDSU. "Wir haben noch nie etwas Vergleichbares in diesem Ausmaß gesehen."

Ein weißer Mann mit einem Stapel Zettel in der Hand steht mit anderen Menschen vor einer Tankstelle.

Kurz nach der Abstimmung bedankte sich Amazon in einer offiziellen Stellungnahme bei den Mitarbeiter_innen in Bessemer für die Teilnahme an der Wahl. Es habe viel Lärm gegeben in letzter Zeit, aber man freue sich über das Ergebnis. Weniger als 16 Prozent hätten für den Beitritt zur Gewerkschaft gestimmt. "Die Gewerkschaft wird jetzt sagen, dass Amazon diese Wahl gewonnen hat, weil wir Mitarbeiter eingeschüchtert haben, aber das stimmt nicht", schreibt Amazon. "Amazon hat nicht gewonnen – unsere Mitarbeiter haben sich entschieden, gegen den Beitritt zur Gewerkschaft zu stimmen."

Amazon in Deutschland

Auch in Deutschland liegen Gewerkschaften mit Amazon im Clinch, auch hier hat der Konzern während der Pandemie satte Gewinne einfahren können. 2020 erzielte Amazon in Deutschland laut Geschäftsbericht des US-Mutterkonzerns ein Plus von mehr als 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

"Ausbaden mussten das die Kolleginnen und Kollegen", sagt Orhan Akman, der bei der Gewerkschaft Verdi für den Einzel- und Versandhandel zuständig ist. "Durch die permanente Arbeitshetze und Leistungskontrolle ist die Einhaltung von Abständen und anderen Maßnahmen gegen Ansteckungen oft kaum möglich." Amazon weigere sich bisher, einen verbindlichen Tarifvertrag zum Schutz der Beschäftigten abzuschließen.

Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück: "Wir sind zu einer Projektionsfläche für Gruppen geworden, die Aufmerksamkeit für ihre Themen suchen", heißt es in einer Stellungnahme. Die Beschäftigten würden von "exzellenten Löhnen, exzellenten Zusatzleistungen und exzellenten Karrierechancen" profitieren.

Viele von ihnen sehen das anders. Vor dem Osterwochenende legten Mitarbeiter_innen an sechs Amazon-Standorten vier Tage lang die Arbeit nieder. Nach Verdi-Angaben beteiligten sich rund 2.000 Menschen.

Zähe Verhandlungen hierzulande, die verlorene Wahl in Bessemer – auch wenn sich Amazon im Kampf gegen Gewerkschaften immer wieder behaupten kann, lässt sich nicht leugnen, dass der Widerstand der Belegschaften gegen die Arbeitsbedingungen weltweit wächst.

Ein schwarzer Mann mit rotem Gewerkschafts-T-Shirt und roter Mütze steht an einer Straße vor einem Straßenschild, neben ihm lehnt ein Banner mit der Aufschrift "It´s your future"

Nelson Lichtenstein, Professor für US-Arbeitshistorie an der University of California, bewertet den Ausblick für Gewerkschaftsbildungen in den USA trotz der Niederlage in Bessemer optimistisch: "Die enormen Anstrengungen, die von Amazon nötig waren und die breite Unterstützung durch Mainstream-Demokrat_innen und den Präsidenten zeigen, dass das, was früher als 'Arbeitsfrage' bekannt war, jetzt wieder auf der sozialen und politischen Agenda steht."

Rumoren in der Tech-Branche

Und zwar auch dort, wo man mit Gewerkschaften in den vergangenen 25 Jahren eher wenig am Hut hatte: im Silicon Valley. Dort übertrumpfen sich Konzerne gegenseitig, wenn es darum geht, gut bezahlte "white collar worker" mit kostenlosen Snacks, Tischtennisplatten und Musikräumen am Arbeitsplatz bei Laune zu halten – und Gewerkschaften wie ein Relikt industrieller Zeiten wirken lassen.

Dabei war das Valley lange Zeit eine gewerkschaftliche Hochburg, vor dem digitalen Zeitalter, als die Region noch als größtes Obstanbaugebiet der Welt galt. Das änderte sich, als die Technologie in den 1960er Jahren begann, immer größeren Raum einzunehmen. Doch seit einigen Jahren häufen sich Arbeitskämpfe im Tech-Sektor. Und ausgerechnet beim weltweit erfolgreichen Konzern Alphabet/Google, dem lange Zeit beliebtesten Arbeitgeber in den USA, war man mit einer Gewerkschaftsgründung erfolgreich.

Am ersten Arbeitstag des neuen Jahres überraschten Mitarbeiter_innen Google mit der Gründung der Alphabet Workers Union. Anders als bei Amazon geht es dabei nicht um unwürdige Arbeitsbedingungen, körperliche Strapazen oder Stundenlöhne. Als Minderheitengewerkschaft, die den Communications Workers of America angeschlossen ist, könnte die AWU wegen ihrer Größe auch keine Verhandlungen mit Alphabet führen. Sie wird vom National Labour Relations Board nicht anerkannt. Man hat sich jedoch bewusst so organisiert, um externe Google-Dienstleister mit vertreten zu können.

Ihre Stärke bezieht die AWU daraus, medialen Druck auf Google aufzubauen. "Wir schließen uns zusammen – Zeitarbeiter_innen, Lieferant_innen, Auftragnehmer_innen und Vollzeitbeschäftigte –, um eine einheitliche Arbeitnehmer_innenstimme zu schaffen", kündigten Parul Koul und Chewy Shaw von der AWU in ihrem Gründungsmanifest in der New York Times an.

Man wirft Google vor, das einstige Motto "Don’t be evil" vergessen zu haben. Man wolle es wieder mit Leben füllen und ein Unternehmen schaffen, für das man guten Gewissens arbeiten könne. Immer wieder wurde Google in den vergangenen Jahren mit Vorwürfen konfrontiert, die Sexismus und Machtmissbrauch durch Führungskräfte betrafen.

2015 legte die Google-Mitarbeiterin Erica Baker in der Aktion "Share My Salary" ihr Gehalt offen, zahlreiche Kolleginnen taten es ihr gleich und machten so auf die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern bei Tech-Firmen aufmerksam. Kurze Zeit später verließ Baker Google. 2018 unterzeichneten mehrere tausend Mitarbeiter*innen einen Brief gegen das "Projekt Maven" und protestierten damit gegen eine Beteiligung ihres Arbeitgebers an der Entwicklung von Softare für Drohnenangriffe. Im gleichen Jahr fand der "Google Walkout" statt, bei dem rund 20.000 Google-Arbeiter*innen die Arbeit niederlegten, um gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu demonstrieren. Der Protest richtete sich auch gegen den Umgang Googles mit Andy Rubin, Erfinder des Betriebssystems Android, der eine Abfindung von 90 Millionen Dollar erhalten haben soll, nachdem ihm vorgeworfen worden war, eine Mitarbeiterin sexuell belästigt zu haben.

Ende 2020 sorgte der Fall von Timnit Gebru für Aufsehen. Die Co-Leiterin eines Google-Teams, das sich mit ethischen Fragen zur Künstlichen Intelligenz befasst, und Gründerin der Organisation Black in AI, die sich für mehr People of Color in der IT-Forschung einsetzt, wurde entlassen, nachdem sie auf mögliche Probleme mit Diskriminierung in Systemen der Künstlichen Intelligenz hingewiesen hatte.

Reservierte Reaktion

Eine Anerkennung der AWU durch Google steht aus. Gegenüber US-Medien reagierte Google – ähnlich wie Amazon in Alabama – reserviert: "Wir haben uns stets bemüht, ein unterstützendes und wertschätzendes Arbeitsumfeld zu schaffen", erklärte Kara Silverstein, Googles Director of People’s Operations. Natürlich hätten alle Angestellten geschützte Arbeitnehmerrechte. "Aber wir werden (...) uns direkt mit unseren Mitarbeiter_innen auseinandersetzen."

Schätzungen zufolge hat Alphabet in den USA etwa 135.000 Festangestellte sowie rund 120.000 Zeitarbeitnehmer_innen. Wie einflussreich eine aus rund 800 Beschäftigten (März 2021) bestehende Minderheitengewerkschaft werden kann, bleibt offen. In jedem Fall sei die AWU ein "mächtiges Experiment", sagt Veena Dubal, Rechtsprofessorin an der University of California. "Wenn die AWU wächst – und Google wird alles tun, um das zu verhindern – könnte das enorme Auswirkungen haben."

Tobias Oellig ist freier Reporter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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