Amnesty Journal Ukraine Litauen 13. Mai 2022

Schulausflug in den Frieden

Kinder einer Schulklasse haben sich zusammen mit ihren Lehrerinnen zum Foto aufgestellt, hinter ihnen stehen Bäume und Schulgebäude.Schüler_innen und Lehrerinnen aus Charkiw vor der Migrationsbehörde in Vilnius aufgestellt.

In Sicherheit: Schüler_innen und Lehrerinnen aus Charkiw vor der Migrationsbehörde in Vilnius.

Lehrerinnen und Schüler_innen einer Schule im ukrainischen Charkiw sind vor der russischen Armee ins litauische Vilnius geflohen. Die Direktorin hofft auf eine baldige Rückkehr.

Eine Reportage von Sead Husic

Mädchen und Jungen rennen durch die Flure. Es herrscht Unruhe in den Klassen, bevor der Unterricht beginnt. Ein scheinbar unbeschwerter, ganz normaler Tag in der Schule Varnu Sala (Kräheninsel) in einem beschaulichen Vorort der litauischen Hauptstadt Vilnius. Doch normal ist hier nichts. Die Lehrerinnen und Schüler_innen sind erst vor wenigen Tagen aus Charkiw gekommen, einer umkämpften Stadt im Osten der Ukraine. Anfang April lagen Teile der Stadt in Trümmern, immer wieder flogen russische Bomber Angriffe. Die Menschen suchten Schutz in Kellern und Tiefgaragen oder flohen.

"Nur eine Nacht später war alles anders"

Die Litauerin Irena Pranskevičiutė, die seit vielen Jahren im Bildungswesen arbeitet, hat viele Kontakte zu Schulen in der gesamten Ukraine. Kurz nach Kriegsbeginn erhielt sie eine ungewöhnliche Anfrage. Die Direktorin der Schule Gravitacija in Charkiw wollte wissen, ob man nicht ihre gesamte Schule in Vilnius unterbringen könne. Irena Pranskevičiutė griff die Idee sofort auf, wandte sich an die Inhaberin der Privatschule Varnu Sala, organisierte gemeinsam mit ihr und einer Lehrerin private Unterkünfte in der Nähe der Schule und rief zu Spenden auf. Margerita Pilkauskaite hat die Schule erst vor wenigen Monaten gegründet. Deswegen besuchen bisher nur 30 die für etwa 200 Schüler_innen ausgelegte Schule und niemand muss nun enger ­zusammenrücken. "Ich habe alle Eltern gefragt, was sie von der Idee halten, die Schule für ukrainische Schüler zur Verfügung zu stellen. Und alle waren dafür", sagt Pilkauskaite.

Zu den ersten, die kamen, gehörte die Direktorin der Gravitacija, Ekaterina Strelchenko, und ihre zwölfjährige Tochter. Ihr Mann und ihr Sohn seien in Charkiw geblieben, um zu kämpfen, erzählt sie. "Noch vor wenigen Wochen haben wir ein ganz normales Leben geführt, und in der Schule liefen die Vorbereitungen für unser alljährliches Frühlingsfest, das wir am 5. März feiern wollten. Wir hatten absolut keine Vorstellung davon, was uns bevorstehen würde. Am 23. Februar sind wir wie immer nach der Schule nach Hause gegangen. Und nur eine Nacht später war alles anders." Zunächst habe sie gedacht, nach wenigen Tagen sei alles ausgestanden, berichtet Strelchenko. "Dass Russland Städte, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten bombardiert, habe ich nicht für möglich gehalten."

Eine Schuldirektorin, eine Frau mittleren Alters mit blondem Haar bis zum Kinn, lächelt, sitzt in ihrem Büro, trägt einen Pullover mit der Aufschrift "Calvin Klein".

Schuldirektorin im Exil: Ekaterina Strelchenko

Zwischendurch klingelt ihr Mobiltelefon. Es melden sich weitere Schüler_innen und deren Eltern, die gerade aus Charkiw nachkommen, das von Vilnius mehr als 1.200 Kilometer Luftlinie entfernt ist. Sie alle haben eine tagelange, anstrengende Fahrt hinter sich, haben fast die gesamte Ukraine durchquert und mussten sich immer wieder vor Bomben und Artilleriebeschuss in Sicherheit bringen. Unter den Geflüchteten sind auch 13- und 14-Jährige ohne Begleitung. Um sie kümmern sich die Lehrerinnen der Varnu Sala besonders.

Normalität in schrecklichen Zeiten

"Wir versuchen, hier so schnell wie möglich einen geregelten Schulalltag aufzubauen, damit die Kinder und Jugendlichen nicht immer nur an den Krieg denken", sagt Strelchenko. Sie ist überzeugt davon, das nächste Schuljahr wieder in Charkiw beginnen zu können, und zeigt auf ihrem Mobiltelefon das Schulgebäude, das sie über eine Live-Webcam sehen kann. Auch ein Blick in die Innenräume ist möglich: In den Klassenzimmern stehen verwaiste Bänke und Tische. An der Tafel sind kyrillische Sätze zu lesen, in der Ecke steht eine Landkarte, auf dem Lehrerpult liegen Bücher. Noch hat die Schule keine Schäden erlitten. Das gibt Strelchenko Hoffnung: "Ein Prinzip unserer Schule ist der Zusammenhalt. Und solange wir zusammenbleiben, haben alle das Gefühl, dass es weitergeht."

Eine der Mütter ihrer Schülerinnen, Olesia Avdoskyna, ist mit ihrer 16-jährigen Tochter Sofia nach Vilnius gekommen. "Ich habe als Buchhalterin in einem Nahrungsmittelunternehmen gearbeitet, und in der Firma war klar, dass unser Land bald angegriffen wird. Wir wohnten in der Nähe einer Flugzeugfabrik und stellten daher ein Ziel für die russischen Angriffe dar. Als es dann losging, konnten wir es dennoch nicht fassen", sagt Avdoskyna, während ihr Tränen über das Gesicht laufen. Sofia habe wegen der stän­digen Angst vor Beschuss und Bombenangriffen nicht mehr geschlafen. "Ich wusste, wir müssen weg." Zuvor habe sie noch den Hund einschläfern lassen, weil er die Strapazen einer Flucht nicht überstanden hätte, berichtet sie, und man merkt ihr an, dass ihr dies nicht leicht ­gefallen ist.

Alle fühlen sich betroffen, weil sie Angst haben, dass unser Land als nächstes angegriffen werden könnte.

Agne
Klimčiauskaitė
Lehrerin

"Die Litauer engagieren sich sehr, um den Menschen in der Ukraine zu ­helfen, denn sie empfinden diesen Krieg auch als ihren", erklärt die Lehrerin Agne Klimčiauskaitė, die an der Varnu Sala Französisch und Litauisch unterrichtet. "Alle fühlen sich betroffen, weil sie Angst haben, dass unser Land als nächstes angegriffen werden könnte." Freiwillige fahren die Eltern, Schülerinnen und Lehrerinnen mit ihren Autos und einem Kleinbus zur Ausländerbehörde. Vor dem Gebäude warten viele Flüchtlinge darauf, sich anzumelden. Es gibt Stände mit Babykleidung, Nahrung, Windeln, Kosmetika, Handtüchern, Lebensmittelpaketen, Wasserflaschen und Kleidung. Freiwillige bringen die Sachspenden hierher und sprechen den Flüchtlingen Mut zu.

Orte, die es vielleicht nie mehr geben wird

In der Schule stehen Sofia und ihre Freundin Alexandra nebeneinander und lächeln verschämt, als sie gefragt werden, was sie am meisten vermissen. "Ich war in Charkiw in einem Tanzverein, und das hat meinen Wochenrhythmus bestimmt. Ich frage mich, ob ich je wieder zu diesem Verein gehen werde", sagt Alexandra. "Und natürlich vermisse ich all die Orte, an denen ich mich mit meinen Freunden getroffen habe und die es vielleicht nie mehr geben wird." Sofia denkt ebenfalls an die vielen Orte und Gesichter, die sie vielleicht nie mehr sehen wird. "Es ist eine ganze Welt, die man verloren hat, und das macht mir sehr zu schaffen", sagt sie. Dann werden die beiden gerufen. Die Schuldirektorin arrangiert die Schüler_innen, die bisher eingetroffen sind, zu einem Klassenfoto. Fast alle lächeln, ganz so, als gehörten sie zu einer ganz normalen Schule.

Später sieht man Strelchenko nachdenklich auf ihr Mobiltelefon starren. Sie klickt sich durch die verschiedenen Ansichten ihrer Schule in Charkiw und ­atmet tief aus. "Es wird von schweren Bombardierungen berichtet. Aber unsere Schule steht noch."

Sead Husic ist Autor, freier Journalist und Fotograf. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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