Amnesty Journal Tunesien 19. Januar 2024

Reaktionäre Revolte

Vier tunesische Frauen mit offenen Haaren auf einer Couch, eine von ihnen sitzt, die anderen liegen eng aneinander geschmiegt übereinander.

Aus der Metal-Szene zum IS: Die beiden ältesten Töchter der Tunesierin Olfa Hamrouni radikalisierten sich in kürzester Zeit.

"Olfas Töchter", ein Filmexperiment der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania, richtet sich gegen menschenfeindliche Ideologien.

Von Jürgen Kiontke

"Ich habe dich nie geliebt", sagt der Ehemann. Die so Angesprochene ist die Tunesierin Olfa Hamrouni, die ­Gewalt in der Ehe erlebt. Erst als der ­Vater ihrer vier Töchter schon lange weg ist, erkennt sie, dass sie dieses Gefühl des Ungeliebtseins an ihre Kinder weitergegeben hat. "Ich habe meine Töchter zu Putzfrauen erzogen", sagt sie selbstkritisch. Diesen Fehler bekennt sie vor der Kamera der Regisseurin Kaouther Ben Hania, deren Film "Der Mann, der seine Haut verkaufte" für einen Oscar nominiert wurde.

Vom Metal zum militanten Islamismus

"Olfas Töchter" ist ein Dokumentarfilm über eine Mutter, die in Tunesien zweifelhafte Berühmtheit erlangte, weil sich ihre beiden älteren Töchter Rahma und Ghofrane dem Islamischen Staat (IS) in Libyen anschlossen. Beide heirateten IS-Extremisten, Ghofrane bekam selbst eine Tochter. Olfa Hamrouni rief ihre beiden Töchter im Fernsehen auf, nach Tunesien zurückzukommen. Doch waren diese mittlerweile in Libyen festgenommen worden. Sie wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, die sie noch immer verbüßen. Vor ihrem Übertritt zum militanten Islamismus waren die Mädchen in der Metal-Szene unterwegs, schminkten sich und besuchten Partys. Doch nach ­einem Gespräch mit einem radikalen Imam trugen sie Schleier und gaben sich streng religiös. Den Hijab zu tragen und lauthals die Scharia zu preisen, war in ­Zeiten der Arabellion ab 2011 Ausdruck der Revolte, weil es verboten war.

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Warum schließen sich Frauen einer extrem menschenfeindlichen Ideologie an und werden nicht selten zu deren vehementesten Vertreterinnen?

Ben Hania hat in "Olfas Töchter" Spielfilmelemente integriert: In einem ­alten Hotel in Tunis stellen die Mutter und die beiden jüngeren Schwestern Eya und Tayssir prägende Szenen ihres Lebens nach.

Die beiden fehlenden Töchter ersetzte die Regisseurin durch professionelle Schauspielerinnen. Sie füllen ihre Rollen so überzeugend aus, dass sie zur Familie zu gehören scheinen: Sie streiten sich mit der Mutter, klagen an. Beinahe zu intensiv gerät das Reenactment, als sogar die Regisseurin und das Filmteam einbezogen werden.

Die zentrale Frage lautet: Warum schließen sich Frauen einer extrem menschenfeindlichen Ideologie an und werden nicht selten zu deren vehementesten Vertreterinnen? In einer Art cineastischer Familienaufstellung, die ebenso realistisch wie artifiziell ist, reflektiert der Film über eines der gewalttätigsten Phänomene unserer Zeit.

Bei den Filmspielen in Cannes wurde "Olfas Töchter" als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet – was er genau genommen gar nicht ist. Für dieses Werk müsste ein eigener Preis erfunden werden.

"Olfas Töchter". TUN u. a. 2023. Regie: Kaouther Ben Hania, mit Olfa Hamrouni, Tayssir Chikhaoui u. a. Kinostart: 18. Januar 2023.

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

WEITERE FILMTIPPS

Joan Baez ganz privat

von Jürgen Kiontke

Ihre Stimme lässt nach, Krach geht aber: Joan Baez, der Inbegriff aller Protestsänger*innen, benötigt zwar mittlerweile einen Voice-Coach, doch gelingt es ihr immer noch, mit ihrem Hund um die Wette zu heulen.

"I Am A Noise" ist der Titel eines Dokumentarfilms, der einen sehr privaten Einblick in das Leben der mittlerweile 82-jährigen Musikerin gibt. Beim Bügeln ihres Bühnenoutfits erzählt Baez freimütig von frühen Missbrauchserfahrungen und langjährigen psychischen Problemen. Die New Yorkerin war bereits mit 16 Jahren in therapeutischer Behandlung, später starben nahe Familienangehörige, deren Tod sie nur schwer verkraftete. Wir erfahren auch, dass Baez in ihrer Jugend eigentlich Tänzerin werden wollte. 

Doch sollte es bekanntlich anders kommen: Joan Baez lieferte mit ihren Folksongs den Protestsound der 1960er Jahre, nahm im Lauf ihrer Kariere mehr als 30 Alben auf. Beeindruckend war nicht nur ihre glasklare Sopranstimme, sondern auch ihr Engagement für die Menschenrechte. Als sie 15 Jahre alt war, hörte sie das erste Mal Martin Luther King sprechen – was sie maßgeblich prägte. Sie setzte sich für inhaftierte Künstler*innen in den USA und in aller Welt ein, kämpfte gegen Rassismus und unterstützte zivilen Ungehorsam gegen Kriegseinsätze in Vietnam und anderswo.

Bis heute ist Joan Baez Teil von Amnesty International. Sie gründete Gruppen an der US-Westküste, unterzeichnete 1973 die Anti-Folter-Petition, ging 1986 für Amnesty auf Tour. 2015 verlieh ihr die Organisation die Auszeichnung "Ambassador of Conscience Award", der seither ihren Namen trägt.
Der sehenswerte Film lässt zahlreiche Stationen ihres Lebens Revue passieren, während sich Baez auf einen Auftritt vorbereitet – in einem kleinen Club. Er lässt ahnen, welche enorme Wirkung ihre Musik hatte und in gewisser Weise immer noch hat.

"Joan Baez – I Am A Noise". US 2023. Regie: Miri Navasky, Maeve O’Boyle, Karen O'Connor. Kinostart: 28. Dezember 2023

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