Amnesty Journal Türkei 17. Januar 2024

Recht unzugänglich

Türkische Frauen demonstrieren gegen ein Abtreibungsverbot, vorneweg läuft eine junge Frau mit Pferdeschwanz, hinter ihr ältere Frauen mit Kopftuch, die Schilder hochhalten, auf denen "Kurtaj Haktir Karar Kadinlarin Platformu" u.a. steht.

In der Türkei sind Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich erlaubt. Einen Eingriff vornehmen zu lassen, ist für ungewollt Schwangere schwierig.

Von Jelena Malkowski

"Keinen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu garantieren, ist Gewalt durch den Staat", sagt Hale Çelebi von der türkischen Frauenorganisation Mor Çatı in Istanbul. Sie kennt sich mit dieser Art von Gewalt aus, denn Mor Çatı betreibt seit mehr als 20 Jahren das erste private Frauenhaus der Türkei, und Çelebi ist häufig der erste Kontakt für Anruferinnen. Hier melden sich Frauen, die selbst häusliche Gewalt erfahren haben oder andere schützen wollen, wegen Kindesmissbrauchs, psychischer Gewalt – oder eben Schwangerschaftsabbrüchen. Denn in der Türkei ist es zunehmend schwieriger geworden, den Eingriff vornehmen zu lassen. 

Schwangerschaftsabbrüche sind in der Türkei seit 1983 legal: Ungewollt Schwangere dürfen bis zur zehnten Schwangerschaftswoche abtreiben; bei Minderjährigen ist die Zustimmung der Eltern und bei Verheirateten die des Ehepartners erforderlich. Im "European Abortion Policies Atlas" schneidet die Türkei trotzdem nicht gut ab: Die Zeitspanne ist demnach zu kurz, und die Zustimmung von Eltern oder Ehepartnern wird ebenfalls kritisch gesehen. Doch ist ein Schwangerschaftsabbruch Teil der staatlichen Gesundheitsversorgung, und es gibt auch keine gesetzliche Grundlage dafür, dass medizinisches Personal die Durchführung aus Gewissensgründen ­ablehnen kann. 

Erdoğan: "Schwangerschaftsabbrüche sind Mord"

Die Realität in der Türkei sieht aber anders aus. Im Jahr 2012 bezeichnete der mittlerweile seit 20 Jahren regierende Recep Tayyip Erdoğan Schwangerschaftsabbrüche als "Mord" und kündigte ein Verbot an. Nach starken Protesten feministischer Organisationen wurde die Gesetzesänderung zwar nie umgesetzt, doch stellten die Äußerungen eine Zäsur dar: "Legal hat sich nichts geändert. Und dennoch veränderte sich seitdem alles", sagt Çelebi. In den Räumlichkeiten von Mor Çatı, die sich versteckt in einem Altbau am zentralen Taksimplatz in Istanbul befinden, erzählt sie, dass nahezu kein öffent­liches Krankenhaus mehr Schwangerschaftsabbrüche anbietet und längst auch nicht mehr alle privaten. Das be­deutet Kosten für ungewollt Schwangere. Manchmal rufen sie bei Mor Çatı an, um nach finanzieller Hilfe zu fragen, manchmal wollen sie wissen, wo sie noch einen sicheren Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen können, und manchmal sind sie sich nicht mal mehr sicher, ob sie überhaupt das Recht auf einen Abbruch haben.

Eine Studie der Kadir Has-Universität bestätigt diese Erfahrungen: Die Soziologin Mary Lou O’Neil und ihr Team kontaktierten dafür 295 Krankenhäuser in der Türkei und stellten fest, dass nur drei Prozent Schwangerschaftsabbrüche ohne zusätzliche Hindernisse durchführen. Oft sei ihnen sogar geantwortet worden, ein Abbruch sei verboten. "Das beunruhigt mich am meisten", sagt O’Neil.

Finanzielle Hürde

Auch Özge Aktaş glaubte als Studentin noch, ein Schwangerschaftsabbruch sei in der Türkei gar nicht erlaubt, weil sie von einer Frau gehört hatte, die dafür nach Zypern gereist war. 2020, als sie bereits arbeitete, wurde sie ungewollt schwanger. In einem Istanbuler Café erzählt die heute 30-Jährige offen von ihren Erfahrungen. Sie zögert mit keiner Antwort, aber manchmal zittert ihre Hand, und kurz hat sie Tränen in den Augen.

Eigentlich hätte sie gerne ein Kind, doch die Umstände waren damals nicht die richtigen. So war sie sich schnell sicher, dass sie die Schwangerschaft abbrechen wollte. In ­Istanbul bekam sie ohne große Probleme einen Termin in einer Privatklinik. Dass sie einen Abbruch auch an einem staat­lichen Krankenhaus hätte vornehmen lassen können, wusste sie nicht.

In der Privatklinik musste sie insgesamt 1.750 türkische Lira (damals umgerechnet 200 Euro) für den Abbruch zahlen. "Es war eine hohe Ausgabe für mich, aber weil ich damals schon mein eigenes Geld verdiente, war es kein riesiges Problem", sagt Aktaş. Das ist aber nicht für alle so: "Für marginalisierte Frauen ist dies eine hohe Hürde und verschärft bestehende Ungleichheiten", sagt Katharina Masoud, Referentin für Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International. Der Zugang zu Schwangerschafts­abbrüchen sei in den Menschenrechten verankert, er betrifft etwa das Recht auf Selbstbestimmung, auf Privatsphäre und auf Nichtdiskriminierung von Frauen.

Viele Ärzt*innen lehnen den Eingriff ab

Einer Umfrage der Hacettepe-Universität von 2018 zufolge hatten 15 Prozent der Frauen in der Türkei mindestens einen Schwangerschaftsabbruch in ihrem Leben. Dazu trägt laut Expertinnen auch ein Mangel an Aufklärung bei: In der Türkei gibt es keine verpflichtende Sexualaufklärung in den Schulen. Nur wenige laden Organisationen wie die Stiftung für Familiengesundheit und -planung in der Türkei (TAPV) ein oder lassen Angestellte von ihnen ausbilden. Nurcan Müftüoğlu, die seit 30 Jahren bei der Stiftung arbeitet und mittlerweile deren Geschäftsführerin ist, berichtet, dass sie früher auch mit staatlichen Schulen zusammengearbeitet hätten. Angesichts des veränderten politischen Klimas könnten sie heute aber nur noch mit Privatschulen kooperieren. Die mangelnde Aufklärung führt aus ihrer Sicht zu frühen Schwangerschaften, Krankheiten wie HIV und einem Mangel an sexueller Selbstbestimmung.

Auch der Zugang zu Verhütungsmitteln werde immer schwieriger: Seit einigen Jahren sollten diese als Teil der staatlichen Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen. "Aber es gibt nicht genug, besonders in ländlichen Gegenden fehlen sie", sagt Müftüoğlu. Zwar sind Verhütungsmittel privat verfügbar, aber die ­Inflation und damit rasant gestiegene Preise verschlechtern die Situation weiter.

Die Einschränkung von sicheren Schwangerschaftsabbrüchen führt vor allem dazu, dass Frauen zu Methoden greifen, die ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen.

Katharina
Masoud
Referentin für Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International

Özge Aktaş kann sich vorstellen, dass ihre damalige Situation mit einer besseren Aufklärung eine andere gewesen wäre, Feride Horoz allerdings nicht: Ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes wurde sie trotz Verhütung und der Pille danach schwanger. Weil sie und ihr Mann nur ein Kind wollten und sie zudem unter postnataler Depression litt, entschied sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch. Auch sie konnte den Abbruch jedoch nur privat vornehmen lassen und musste dafür ­umgerechnet etwa 500 Euro bezahlen.

O’Neil zufolge lehnen selbst an Privatkrankenhäusern viele Ärzt*innen einen Schwangerschaftsabbruch unter Berufung auf ihre Gewissensentscheidung ­inzwischen ab, obwohl es die offiziell gar nicht gibt. 

Gizem Kaplan ist eine der wenigen Ärzt*innen, die auch an einem staatlichen Krankenhaus Schwangerschafts­abbrüche durchführt. Ihre Kolleg*innen seien von der Krankenhauspolitik eingeschüchtert, sagt sie. Für ihre Haltung werde sie von Vorgesetzten benachteiligt, ihre Arbeitsstunden würden genauestens geprüft und Beschwerden von Patient*innen direkt an sie weitergeleitet. Kaplan sieht das als direkten Einfluss des Staates: "Diese Regierung hat eine Anti-Abtreibungspolitik, und die meisten staatlichen Krankenhäuser werden von Befürwortern der Regierung geleitet", sagt sie.

Die Geburtenrate in der Türkei steigt dennoch nicht: Seit Anfang der 2000er Jahre liegt sie relativ konstant bei etwa zwei Kindern pro Frau; seit 2017 sinkt sie sogar. Die Einschränkung von sicheren Schwangerschaftsabbrüchen führt laut Amnesty-Expertin Masoud vor allem dazu, dass Frauen zu Methoden greifen, die ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen.

Jelena Malkowski ist freie Journalistin. Mitarbeit: Gül Sena Erdoğdu. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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