Amnesty Report Südafrika 04. August 2023

Den Teufelskreis durchbrechen

Ein junger Mann in Jeans und T-Shirt mit Baseballcap auf dem Kopf trägt eine Brille, beugt sich über einen an einem Tisch sitzenden Jungen und zeigt ihm etwas, daneben sitzt noch ein kleinerer Junge.

Im südafrikanischen Gqeberha lernen Kinder und Jugendliche aus einem Township, sich künstlerisch auszudrücken.

Von Lena Reich

Die Bilder an den Wänden ­zeigen bunte Hütten, vor denen zwei Frauen um einen Suppenkessel stehen, oder eine Frau, die einem kleinen Mädchen aus einem Buch vorliest. Auf ­einer Zeichnung ist eine Figur inmitten eines Raumes dargestellt, den Kopf zur Brust geneigt. Eine sehr zeitgenössische Stimmung geht von diesen Werken aus, die von Kindern und Jugendlichen aus dem Township Walmer gemalt wurden und die Räume der Kunstschule Masifunde zieren.

"Das ist Kunst, das ist Leben", sagt Banele Njadayi stolz und deutet mit seinem riesigen Schlüsselbund auf die Malereien. Der 41-jährige mit der großen Brille und einem freundlichen Lächeln leitet die Kunstschule der Masifunde Changemaker Academy in Gqeberha, wie die südafrikanische Stadt Port Elizabeth seit Februar 2021 heißt. Als Njadayi die Tür zum Kunst­raum aufschließt, strömen ein Dutzend Schüler*innen wortlos an ihm vorbei und nehmen gelassen an zwei langen Tischen Platz. Aus dem Schrank greift der Kunstlehrer einen Stapel DIN A 3-Blätter, Paletten mit Ölkreiden und verteilt sie. Täglich bietet er hier Malkurse an, am Nachmittag, wenn die Kinder aus den Schulen nach Hause kommen und über freie Zeit verfügen. "Damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen", sagt Njadayi, der selbst aus einem Township stammt.

40.000 Menschen auf vier Quadratkilometern

Über bodentiefe Fenster fällt der Blick auf einen kleinen Garten, in dem zwei Wassertanks stehen. Dahinter glänzen die Wellblechdächer von Walmer, das zu den ältesten informellen Vierteln der Stadt gehört. Nach Schätzungen der NGO Masifunde, Trägerin der gleichnamigen Kunstschule, leben hier auf rund vier Quadratkilometern mehr als 40.000 Menschen. Die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche. Ihnen will Njadayi Kraft geben: "Für mich ist Kunst die Möglichkeit, mit der Welt zu kommunizieren, ohne den Mund aufmachen und sprechen zu müssen. Bei uns lernen die Schüler*innen, ihren Blick zu schärfen und ihre Meinung, ihre Wahrnehmung der Welt in Bildern und Skulpturen zu äußern." Für die Malereien, die nun im Flur der Schule hängen, bat er die Mädchen und Jungen, ein Motiv aus Kunstbüchern zu wählen, zu denen sie in der Bibliothek Zugriff haben. Diese Motive sollten sie auf ihre eigene Weise interpretieren und mit ihrer persönlichen Situation in Verbindung bringen. "Es war eine Art Bewusstseinsübung, auch um zu verstehen, was in unseren Gemeinden vor sich geht."

Als Njadayi vor zehn Jahren sein Studium am College in Gqeberha abbrach und begann, als Kunstvermittler bei Masifunde zu arbeiten, waren die Kunstgruppen noch übersichtlich. Heute unterrichtet er knapp 200 Kinder und Jugendliche. Erst mit der Zeit sei das Bewusstsein der Familien dafür gewachsen, dass Kunst und kreative Arbeit den sozialen Zusammenhalt fördern und das Selbstvertrauen stärken. Unter Njadayis Regie stellen die Kids ihre Kunstwerke in Galerien der Stadt aus und sorgen damit auch für einen Austausch zwischen denen, die in den Townships wohnen, und jenen, die auf der anderen Seite leben.

Ohrringe aus Wellblech vom Dach

Einer, der es auf die andere Seite geschafft hat, ist Lwando Lunika. Als 16-Jähriger verwandelte er mit der Masifunde-Malgruppe die grauen Betonwände in Walmer in bunte Kunstwerke, nahm mit seinen mitreißenden Porträts an einer Schulausstellung in Gqeberha teil und ­beeindruckte die Direktorin des Wits Arts Museum in Johannesburg derart, dass sie ihn mit einem Stipendium zum Weitermachen ermutigte. Heute gehört Lunika zu den gefeierten zeitgenössischen Künstler*innen Südafrikas und wird von einer Johannesburger Galerie vertreten. Sein riesiges Bild hängt im Flur und erinnert die Kinder daran, dass auch er einmal in der Kunstschule Masifunde war.

Masifunde ist isiXhosa, eine der elf Landessprachen Südafrikas, und heißt: Lasst uns lernen. Mit Chören, Theatergruppen, Musikunterricht und anderen Programmen setzt das 45-köpfige Team auf Bildung durch Vertrauen und gibt den rund 350 Kindern und 200 arbeitslosen Jugendlichen Struktur in ihrem Leben. In der Schmuckwerkstatt gleich neben dem Hauptgebäude verarbeiten Trainees das Wellblech der Dächer zu Ohrringen und Ketten, die sie in Malls und auf Märkten verkaufen, machen junge Väter eine Ausbildung zum Barrista oder sorgen für die Stromversorgung des Gebäudekomplexes durch Solarpanels. Mit Bewerbungstrainings und einem riesigen Computerraum unterstützt Masifunde die Zukunft der Jugend. "Mit Jugend meinen wir Menschen zwischen 18 und 35 Jahren", erklärt Banele Njadayi"Die Hälfte hat die Schule abgebrochen, mehr als die Hälfte ist arbeitslos." Knapp 30 Jahre nach dem Ende der Apartheid und dem Versprechen Nelson Mandelas, Bildung für alle zu etablieren, versucht der Verein, den Teufelskreis aus Armut, Korruption, schlechter Gesundheitsversorgung und Gewalt zu durch­brechen.

Lockdown, Essensknappheit, kalter Entzug

Amnesty International macht seit ­Jahren auf das marode Bildungssystem Südafrikas aufmerksam, das noch immer vom Erbe der Apartheid gezeichnet ist. Viele Schulen haben kein fließendes Wasser oder angemessene Toiletten. Oft lernen bis zu 60 Kinder in einem Klassenraum, in dem der Putz von den Wänden bröckelt und die Infrastruktur kurz vor dem Zusammenbruch steht. Die Corona-Pandemie hat die Probleme noch verschärft. Ein im Februar veröffentlichter Amnesty-Bericht belegt, dass unter dem Lockdown in Südafrika, der länger als drei Monate dauerte und mit einer strikten Ausgangssperre verbunden war, besonders Kinder und Jugendliche aus ärmeren Gemeinden litten. Sie hatten weder Strom- noch Internetanschluss, lebten mit ihrer Familie in viel zu kleinen Hütten aus Stein oder Wellblech und hatten kaum zu essen. Zeitgleich wurde ein Alkohol- und Zigarettenverbot ausgesprochen, quasi eine ganze Nation auf kalten Entzug gesetzt, die Gewalt nahm extrem zu.

Auch davon erzählen die selbstgemalten Bilder in den Fluren der Kunstschule Masifunde. "Wir hatten wirklich Angst um unsere Kinder, weil sie durch die Schulschließung kein Schulessen bekamen", sagt Njadayi und breitet eine Zeitung vor sich aus. Während der Pandemie kreierte er mit seinen Kolleg*innen mehrere Ausgaben voller Bildergeschichten und Rätsel gegen Langeweile und Stress und verteilte sie mit Essenspaketen an den Haustüren der Familien. Auch jetzt ist die Kunstschule mehr als ein Ort der Kreativität und künstlerischen Ausbildung. Sie ist ein Schutzraum für die ­Jugend von Walmer und damit für das ­ganze Viertel.

Lena Reich ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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