Amnesty Journal Südafrika 07. April 2023

Der umgekehrte Blick

Gemälde von zwei schwarzen Frauen, die sich auf einer Couch halb liegend gegenüber sitzen, beide tragen Sommerkleider mit Leopardenfellmuster

Schwarze Künstler*innen auf dem afrikanischen Kontinent und ihr Selbstverständnis: Das Zeitz MOCAA-Museum in Kapstadt zeigt eine große Gruppenausstellung.

Von Lena Reich

Zwei Frauen in Trägerkleidchen mit Leopardenmuster liegen auf einem Sofa. Ihre Blicke sind direkt auf die Betrachtenden gerichtet, so als würden sie sagen: Hier sind wir. Das Acrylgemälde der südafrikanischen Künstlerin Zandile Tshabalala aus dem Jahr 2020 ist das titelgebende Werk der Ausstellung "When We See Us. A Century of Black Figuration in Painting", die derzeit im Zeitz MOCAA (Museum of Contemporary Art Africa) in Kapstadt zu sehen ist. Es ist eines von mehr als 200 Gemälden, die das Selbstverständnis von Künstler*innen aus Afrika und der Diaspora in den vergangenen 100 Jahren wiedergeben. In sechs Räumen bieten die Bilder einen knallbunten, stolzen Blick auf die Lebenswirklichkeit  des afrikanischen Kontinents: vom Ackern auf dem Feld über die Pause in der Fabrik bis zum In-die-Luft-Starren vor dem Computerbildschirm.

Selbstbewusste Sexualität

Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts scheinen sich die Dargestellten mehr und mehr entspannen zu dürfen. Sie werden Teil einer selbstbestimmten Öffentlichkeit wie auf dem Ölgemälde "Hommage an alte Künstler" des zeitgenössischen Malers Chéri Samba aus der Demokratischen Republik Kongo: Das Selbstporträt zeigt den Künstler umgeben von afrikanischen Figuren, die er im Völkerkundemuseum der Universität zu Zürich gefunden hat. Samba, der bereits im Louvre in Paris ausgestellt hat, könnte in seiner künstlerischen Kritik nicht aktueller sein. Wem gehört Kunst eigentlich? Auch in anderen Werken spiegelt sich dieses Selbstbewusstsein wider. Der kongo­lesische Maler Moké zeigt eng tanzende Paare in einem Nachtclub. Marc Padeu aus Kamerun, der für seine Alltagsszenen bekannt ist, hat Männer porträtiert, die lässig vor ihren Autos posieren.

Auffallend viele Frauenporträts betonen die Autonomie des weiblichen Körpers und eine selbstbewusste Sexualität. In "Never Change Lovers in the Middle of the Night" stellt die afroamerikanische Malerin Mickalene Thomas zum Beispiel zwei Frauen beim Sex dar. Bereits der ­Titel der Ausstellung "When we see us" macht die Blickrichtung klar: Er ist angelehnt an die Netflix-Serie "When they see us" über fünf afro-amerikanische Jugendliche, die 1989 eines brutalen Überfalls im Central Park New York verdächtigt werden, und kehrt diesen Blick radikal um: Aus they (sie) wird we (wir).

Ein Ausstellungsraum in einem Museum; an der Wand hängen Bilder, die Männer bei verschiedenen Aktivitäten zeigen, vor ihren Autos posierend oder über einen Schreibtisch gebeugt.

Das Museum Zeitz MOCAA wurde vor fünf Jahren gegründet. Es befindet sich in einem ehemaligen Getreidesilo, das für umgerechnet mehr als 30 Millionen Euro von seiner eierschalenfarbenen Fassade befreit wurde. Heute glänzt der schwarze Skelettbau mit Glasfassade an der Victoria & Alfred Waterfront, wo sich vor allem Geschäftsleute und Tourist*innen tummeln.

Fragen der Teilhabe

Weil Schwarzen Menschen bis 1994 Museumsbesuche verboten waren, haben heute Menschen mit südafrikanischem Pass freien Eintritt. Auf drei Ebenen wechseln sich Ausstellungen ab, die sich stets um Fragen der Teilhabe drehen – in einem Innenraum, der an ein Getreidekorn erinnern soll, aber eher wie eine Höhle daher kommt. In der obersten Etage befindet sich ein Hotel, das einen Blick zur Gefangengeninsel Robben Island bietet, auf der Nelson Mandela 18 Jahre lang inhaftiert war, und auf ein schier endloses Meer aus Wellblechhütten: Von den rund vier Millionen Menschen, die in Kapstadt leben, haben etwa 300.000 ein festes Haus, die allermeisten von ihnen sind Weiße. Für die Schwarze Bevölkerung gehören Armut, Arbeitslosigkeit und Stromausfälle ebenso zur Wirklichkeit wie das koloniale Erbe der Gewalt.

Besonders dramatisch ist die Lage der Frauen. Zwar hat Präsident Cyril Ramaphosa geschlechtsspezifischer Gewalt den Kampf angesagt, doch trotz eines Nationalen Strategieplans und Aufklärungskampagnen steigen die Fälle von Gewalt gegen Frauen und Femizide weiter an. Nichtregierungsorganisationen und Amnesty International zeigen sich deshalb immer wieder besorgt.

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Interview mit Tandazani Dhlakama

Tandazani Dhlakama hat die Ausstellung "When We See Us" gemeinsam mit der ­Direktorin des Zeitz MOCAA, Koyo Kouoh, kuratiert.

Interview: Lena Reich

Warum haben Sie sich für Porträts entschieden?

Das Porträt ist eines der ältesten, universellen Genres, mit denen Künstler*innen von sich selbst, ihren Gemeinschaften, Hoffnungen und Träumen erzählen. Um neue Ausdrucksformen zu finden, verweisen sie aufeinander oder auf vergangene Bewegungen. Die Kunstwerke rufen so unzählige Kollektive und Kunstschulen ins Gedächtnis, die zur afrikanischen Kunstgeschichte beigetragen haben.

Gibt es Verbindungen zwischen den Kunstwerken?

Sie ergänzen sich. So erinnern zum Beispiel die Arbeiten des in Tansania geborenen Sungi Mlengeya an jene der 46 Jahre älteren amerikanischen Künstlerin Bark­ley Hendricks. Der US-Amerikaner Henry Taylor steht neben dem mosambikanischen Künstler Luis Meque und Kudzanai-Violet Hwami aus Simbabwe: Obwohl die drei sich nie getroffen haben, ähneln sich ihre Pinselstriche verblüffend. All diese Kunstwerke erinnern uns an die trans­diasporischen Verbindungen der Diaspora: Ihre Urheber*innen nahmen an ähnlichen Initiativen teil, tauschten Ideen aus und inspirierten sich gegenseitig über Länder und Kontinente hinweg. Koyo Kouoh nennt diese Gegenüber­stellungen "parallele Ästhetik".

Eine schwarze Frau mit schulterlangem Haar trägt eine Bluse, Make-Up und Ohrringe; sie hält ihre Arme vor dem Körper verschränkt.

Was hat es mit den Klängen in den Ausstellungsräumen auf sich?

Der südafrikanische Komponist und Klangkünstler Neo Muyanga hat die Klangumgebung exklusiv für die Ausstellung produziert, sie ist so etwas wie der Soundtrack. Der Klang reagiert auf die sechs Räume, die in die Bereiche Alltag, Freude und Gelage, Ruhe, Sinnlichkeit, Spiritualität und Triumph sowie Emanzipation unterteilt sind.

Warum beziehen sich die Bilder kaum auf aktuelle soziale und politische Missstände in Afrika?

"When We See Us" liegt das Phänomen der schwarzen Freude zugrunde. Freude ist radikal und politisch. Auch ohne dass sie auf politischen Widerstand trifft, kann sie ein tiefgründiges Werkzeug sein, um schädliche Stereotypen zu beseitigen. Wir haben uns entschieden, Blackness durch figurative Malerei zu feiern, um hervor­zuheben, wie sich unzählige Schwarze Künstler aus der ganzen Welt immer selbst gesehen und in ihren eigenen ­Begriffen ausgedrückt haben: auf eine Weise, die sich weigert, Traumata in den Vordergrund zu stellen.

Welche aktuellen künstlerischen ­Ansätze interessieren Sie besonders?

Mich interessiert, wie Künstler*innen auf lokale Kontexte und Geschichten reagieren. Gleichzeitig interessiere ich mich für Künstler*innen, die über die verwobene Geschichte und ihr Erbe nachdenken. Manchmal findet die erstaunlichste ­Arbeit außerhalb des Mainstreams der Kunstwelt statt. Und manchmal erkennt der Markt nur langsam die Schwerkraft, Komplexität oder Tiefe dieser unglaublichen Kunstwerke aus den verschiedenen Teilen der Welt.

Lena Reich ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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