Amnesty Journal Russische Föderation 02. Mai 2023

"Ich denke, es sind einige tausend"

Drei Kinder laufen durch ein Flüchtlings-Zeltlager, über ihnen Schnüre, an denen die Zelte aufgespannt sind, hinter ihnen Erwachsene, eins der Kinder fährt auf einem kleinen Roller.

Der Menschenrechtsverteidiger Jewgenij Sacharow aus Charkiw spricht über nach Russland verschleppte ukrainische Kinder, den Haftbefehl gegen Putin, russische Kriegsverbrechen und den Beginn seiner Menschenrechtsarbeit in der Sowjetunion.

Interview: Bernhard Clasen

Der Internationale Strafgerichtshof hat kürzlich Haftbefehl gegen Präsident Wladimir Putin und dessen Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa wegen Kriegsverbrechen und der rechtswidrigen Deportation von Kindern erlassen. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Ich unterstütze sie. Grundlage der Entscheidung ist auch die rechtswidrige Verschleppung von Kindern einer nationalen Gruppe in eine andere: Russland holte Kinder aus der Ukraine, um sie zu russischen Staatsbürgern zu machen und sie in russischen Pflegefamilien unterzubringen.

Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, das zu verheimlichen.

Nein. Präsident Wladimir Putin unterzeichnete am 30. Mai 2022 ein Dekret, das es Bürgern der Ukraine, einschließlich der Bewohner der "Volksrepubliken" von Donezk und Luhansk erleichtert, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. In diesem Dekret wurden Kinder explizit erwähnt. Dann gab es weitere Verordnungen, die die Unterbringung von Kindern in russischen Pflegefamilien erleichtern sollten. Gleichzeitig startete man eine mediale Kampagne, um Adoptivfamilien für ukrainische Kinder zu finden.

Wie lief die Verschleppung ab?

Zunächst brachte man die Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland. Dort kamen sie in Aufnahmelager und erhielten im Schnellverfahren die russische Staatsbürgerschaft. Anschließend wurden sie von russischen Familien adoptiert.

Ein älterer Mann, graues Haar, lächelnd, in Hemd und Pullover, Rucksack über die linke Schulter hängend, draußen vor einem Gebäude.

Jewgenij Sacharow lebt in Charkiw und gehörte zu den Gründer*innen der Menschenrechtsgruppe Charkiw, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und sich gegen Zensur einsetzt.

Was sind das für Kinder?

Waisenkinder und Kinder, deren Eltern das Sorgerecht nicht wahrnehmen konnten oder durften, aber auch Kinder, die ihre Eltern im Krieg verloren haben, ­deren Eltern zum Beispiel in Mariupol ­getötet wurden.

Konnten die Verwandten dieser Kinder etwas dagegen unternehmen?

Ja, einige Großmütter machten sich auf die Suche nach ihren Enkeln. Sie belegten mit Dokumenten, dass sie die Großeltern sind. In diesen Fällen hat Russland die Kinder zurückgeschickt. Es gibt aber noch eine weitere Gruppe, nämlich Kinder, die mit den Eltern nach Russland fliehen wollten. Immer wieder kommt es vor, dass dabei die Eltern festgehalten wurden und die Kinder weiterfahren mussten. Auch solche Kinder wurden in Adoptiv­familien untergebracht. Ich weiß von ­einem Vater, der mit drei Kindern nach Russland reisen wollte. Er wurde festgehalten, die Kinder mussten weiter. Der ­älteste Sohn schaffte es, den Vater telefonisch zu erreichen: "Papa, wenn du uns nicht innerhalb von fünf Tagen abholst, kommen wir in eine Adoptivfamilie." Der Vater ließ alles stehen und liegen und holte seine Kinder zurück. Kurzum: Wenn Erziehungsberechtigte sich meldeten, gab man ihnen die Kinder zurück.

Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wird Völkermord nicht nur als das Töten von Menschen definiert. Es ist auch ein Genozid, so der Strafgerichtshof, wenn man Kinder aus einer nationalen Gruppe herausnimmt und ihnen eine andere Umgebung und Ideologie aufzwingt.

Wie können ukrainische Angehörige mit den russischen Behörden in Kontakt treten?

Das läuft über den beim ukrainischen Präsidenten angesiedelten Menschenrechtsbeauftragten. Dieser wendet sich an die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa. Und die macht sich in solchen Fällen auf die Suche nach den Kindern und organisiert dann deren Reise in die Ukraine.

Wie bewerten Sie den russischen Umgang mit ukrainischen Kindern?

Das ist ein Genozid. Im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wird Völkermord nicht nur als das Töten von Menschen definiert. Es ist auch ein Genozid, so der Strafgerichtshof, wenn man Kinder aus einer nationalen Gruppe herausnimmt und ihnen eine andere Umgebung und Ideologie aufzwingt.

Von wie vielen Kindern sprechen wir?

Es sind unterschiedliche Zahlen im Umlauf. Ich denke, es sind einige tausend. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft sprach von mehr als 6.000 Kindern. Das Portal "Kinder des Krieges" geht von 12.000 aus.

Was können Sie zum Ausmaß der von der russischen Armee verübten Kriegsverbrechen sagen?

Ich kann hier nur über die Kriegsverbrechen sprechen, mit denen unsere Organisation und die mit uns kooperierenden Organisationen zu tun hatten. Deswegen erheben wir bei unseren Daten keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mit Stand von Mitte April 2023 haben wir 7.519 Tote, 9.385 Verletzte, 20 Vergewaltigungen und 3.787 Vermisste. Die jeweils aktuellen Zahlen finden Sie auf unserer Internet­seite.

Ende März 2023 trat in der Ukraine ein neues Mediengesetz in Kraft. ­Daran ist viel Kritik laut geworden. Wie schätzen Sie es ein?

Das neue Mediengesetz vereint alles, was bisher Gegenstand unterschiedlicher Gesetze war. Ich glaube, dass dieses Gesetz viel Schaden anrichtet. Insgesamt enthält es sehr viele Einschränkungen der Medienfreiheit. Das ist nicht richtig. In diesem Gesetz finden sich mehr Einschränkungen als in der Verfassung. All diese Einschränkungen werden dazu führen, dass sich Journalisten immer mehr selbst zensieren. Es finden sich darin auch zahlreiche Sanktionsmöglichkeiten für alle, die es verletzen. Gleichzeitig wacht nur eine einzige Behörde über die Einhaltung, nämlich der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat. Er kann nun vor Gericht Sanktionen gegen ein Medium anstreben und in einigen Fällen sogar ohne Gerichtsentscheid Strafen verhängen.

Sie leisten seit mittlerweile 55 Jahren Menschenrechtsarbeit.

Meine Eltern waren mit bekannten Dissidenten befreundet. Meine Mutter studierte gemeinsam mit Larissa Bogoras und Juli Daniel. Die aus Charkiw stammende Bogoras wurde 1968 bekannt durch ihre Teilnahme an einer Protestaktion auf dem Roten Platz in Moskau gegen den ­sowjetischen Einmarsch in der Tschecho­slowakei. Der Schriftsteller Juli Daniel wurde 1966 in einem Schauprozess zu fünf Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt und verbannt. Ich habe damals, vor 55 Jahren, das Schlussplädoyer von Daniel mehrfach abgetippt und habe ihn später immer wieder in der Verbannung besucht. Und ich war in Charkiw Vertreter der von Alexander Solschenizyn gegründeten Stiftung zur Unterstützung von politischen Gefangenen. Auch heute, in der unabhängigen Ukraine, bleibt Menschenrechtsarbeit wichtig.

War in der Sowjetunion ein Konflikt mit den Behörden nicht unausweichlich?

Ich wusste, dass man sich beim KGB für mich interessierte. Gleichwohl hatte ich Glück, war nie in Haft. Im Gegensatz zu einem guten Freund unserer Familie, Anatoli Martschenko, der nach einem Hungerstreik im Lager 1986 gestorben ist. Nach seinem Tod begann die Perestroika, und das war die Zeit, in der wir in die Öffentlichkeit gehen konnten. 1986 wurde ich Charkiwer Korrespondent der "Chronik der laufenden Ereignisse", eine der am längsten erscheinenden Samisdat-Zeitschriften der Sowjetunion. Bald danach wurde ich in den Stadtrat von Charkiw gewählt. Dort gründete ich den Ausschuss zur Unterstützung der Opfer der politischen Repressionen. 1990 wurde ich Vorsitzender von Memorial Charkiw, 1992 folgte die Gründung unserer Menschenrechtsgruppe Charkiw.

Jewgenij Sacharow, Jahrgang 1952, studierter Mathematiker, lebt in Charkiw und gehörte zu den Gründer*innen der Menschenrechtsgruppe Charkiw, die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und sich auch gegen Zensur einsetzt. Seit der Gründung ist Sacharow Vorsitzender der ­Organisation.

Bernhard Clasen ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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