Amnesty Journal Philippinen 07. Juni 2023

Journalismus als Gegengift zur Tyrannei

Eine junge Frau mit Kurzhaarfrisur, Ohrrstecker und Brille im Seitenprofil lächelt.

Ausgezeichneter Journalismus: Maria Ressa im Dezember 2022 in der Region Metro Manila

Im Januar 2023 wurde die philippinische Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa vom Vorwurf der Steuerhinterziehung freigesprochen. Die Journalistin und die Redaktion ihrer Website Rappler hatten regelmäßig kritisch über die frühere Regierung unter Rodrigo Duterte berichtet. Ein Gespräch über politisch motivierte Gerichtsprozesse, digitale Manipulation und Herausforderungen für den heutigen Journalismus.

Interview: Till Schmidt

Welche Bedeutung hat der Freispruch des Berufungsgerichts?

Das Urteil hat endgültig bestätigt, was uns immer klar war: Wir sind aus rein ­politischen Gründen angegriffen worden. Wir wurden mit haltlosen Anschuldigungen überzogen, um uns einzuschüchtern und uns von unserer journalistischen ­Arbeit abzuhalten. Der Prozess hing vier Jahre und zwei Monate wie ein Damoklesschwert über uns. Ich wusste zwar, dass wir unschuldig sind. Dennoch hatte ich mich auch auf den schlimmsten Fall vorbereitet: mehr als 30 Jahre Haft.

Der Freispruch hat ein sehr großes ­Gewicht von uns genommen. So schwer es mir während des Prozesses auch fiel – es blieb mir nichts anderes übrig, als den Frauen und Männern in unserem Justizsystem zu vertrauen. Und das Urteil zeigt: Unsere Gerichtsbarkeit ist unabhängig, auch unter der neuen Regierung von ­Präsident Ferdinand Marcos Jr. Wir sind nicht Nordkorea oder Russland. Die Fakten haben gewonnen.

In drei weiteren Verfahren stehen die Urteile noch aus. Wird das Damoklesschwert wieder jahrelang über Ihnen hängen?

Niemand weiß das. Ich denke oft daran, wie viel Zeit uns verloren geht und wie viele Ressourcen wir für die Gerichtsprozesse aufwenden müssen, die wir sonst in unsere Arbeit stecken könnten. Vor den Angriffen der Regierung waren wir ein ­innovatives, schnell wachsendes Medienunternehmen. Wir haben neue Technologien wie Künstliche Intelligenz zur Verschriftlichung unserer Recherchen ein­gesetzt. Aber die Gerichtsprozesse und die massiven Attacken in den sozialen Medien haben unsere Entwicklung gebremst.

In Ihrer Rede bei der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 2021 sagten Sie: "Solange du nicht dafür kämpfen musst, weißt du nicht, wer du bist." Was meinten Sie damit?

Als Duterte anfing, uns zu attackieren, waren wir vier Rappler-Gründerinnen alle zwischen 50 und 60 Jahre alt. Mit jahrzehntelanger Berufserfahrung, klaren Werten und einer Mission: Wir handelten in dem Bewusstsein, das Richtige zu tun. Die Attacken haben unser Selbstverständnis geprägt. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.

Ich sehe die Angriffe auf Rappler auch im Kontext der weltweiten Attacken auf die Demokratie, ihre Werte und ihre Institutionen. In Zeiten exponentiell wachsender Lügen müssen wir bürgerschaftliches Engagement neu definieren. Das sieht auch das Nobelkomitee so. Ein Jahr nachdem Dmitri Muratow und ich den Preis erhalten haben, ging er an Menschenrechtsorganisationen aus Belarus, Russland und der Ukraine. Wir müssen uns gemeinsam gegen illiberale und autoritäre Angriffe zur Wehr setzen.

Der letzte Journalist, der die Auszeichnung erhielt, war Carl von ­Ossietzky im Jahr 1936.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Dmitri und mich begreife ich als große Anerkennung für Journalist*innen. Wir leben weltweit sehr gefährlich und müssen für unsere alltägliche Arbeit viel aufs Spiel setzen. Eine freie Berichterstattung ist ein Barometer für Demokratie – und ich werde nicht müde zu betonen, dass sie heute weltweit massiv bedroht ist. Inzwischen leben wieder rund 60 Prozent der Weltbevölkerung unter autokratischer Herrschaft, und wir sind überall mit dem Aufstieg und der Etablierung der extremen Rechten konfrontiert. Ohne die Online-Netzwerke, die verschiedene Gruppen miteinander verbinden, hätte die extreme Rechte niemals so stark werden können.

Als Sie 1986 ihre journalistische Karriere begannen, gab es keine Online-Netzwerke. Wie hat sich der Journalismus seither verändert?

Damals war Journalismus ein angesehener Beruf. Nun ist er kontinuierlichen ­Angriffen ausgesetzt. Heute müssen Journalist*innen viel dafür tun, um professionelle Standards und unsere Berufsethik aufrechtzuerhalten. Damals galt und ­heute gilt es außerdem zu erkennen, dass der Zugang zu Informationen, ihre Auf­bereitung und Verbreitung auch viel mit Macht zu tun hat.

Man trägt eine Verantwortung für das Wohlergehen von Menschen. Letztlich müssen wir Journalist*innen heute das zurück­erobern, was zerstört wurde: Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Maria
Ressa

Wie genau meinen Sie das?

Investigativ zu arbeiten, ist eine Herausforderung – nicht nur intellektuell, sondern auch sozial, etwa wenn es um die Quellen geht, und körperlich, wenn du zum Beispiel ohne Schlaf und Essen aus Kriegsgebieten berichtest. Dazu kommt Transparenz: Die Kommunikation darüber, was du weißt, was du nicht weißt und für wen du arbeitest. Außerdem trägt man eine Verantwortung für das Wohlergehen von Menschen. Letztlich müssen wir Journalist*innen heute das zurück­erobern, was zerstört wurde: Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Das ist kein leichtes Unterfangen. Nicht nur wegen der autoritären ­Attacken auf die Meinungs- und ­Pressefreiheit. Sondern auch vor dem Hintergrund der extrem schnelllebigen medialen Aufmerksamkeits­ökonomie.

In der Tat. Doch wer nur Popularität genießen will, sollte Influencer*in werden. Emotionen zu manipulieren, das ist kein Journalismus, sondern PR. Als Journalis­t*innen haben wir kein Interesse daran, die Leute etwas glauben zu machen. Im Gegenteil: Wir stellen die Fakten, den Kontext und Interpretationen zur Verfügung, damit die Rezipient*innen ihre ­eigenen Schlüsse ziehen.

Sie haben gemeinsam mit Dmitri Muratow Ende 2022 einen "Zehn-Punkte-Plan zur Überwindung der Informationskrise" präsentiert. Was ist der Hintergrund dieses Plans?

Wir sind der Auffassung, dass die meisten Regierungen die Macht der Technologieunternehmen nicht verstehen. Umgekehrt respektieren die Unternehmen keine Machtbegrenzungen. Vielerorts können sie einfach mal loslegen und schauen, was passiert. Unser Zehn-Punkt-Plan enthält deshalb drei wichtige Forderungen.

Welche sind das?

Erstens muss Überwachung aus Profitgründen gestoppt werden. Aspekte wie Data Privacy, User Safety oder Content Moderation mögen uns als getrennte Dinge erscheinen, doch sind sie letztlich Teile eines Systems, das die Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff "Überwachungs­kapitalismus" nennt: die Manipulation unserer Emotionen, die sich auf unsere Ängste, Wut und Hassgefühle im realen Leben auswirkt. Zweitens muss die Diskriminierung durch Algorithmen aufhören, die LGBTI+, Frauen sowie Schwarze und People of Colour noch zusätzlich marginalisiert. Und schließlich muss der Journalismus als Kontrollinstanz und Hinterfragung von Macht anerkannt und besser geschützt werden: als Gegengift zur Tyrannei, als Garantie dafür, dass Macht ­begrenzt wird.

In seinem Bestseller "Über Tyrannei" hat der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder 20 Vorschläge zur ­Bekämpfung des heutigen Autoritarismus skizziert. Darunter ist auch die Idee, bewusster von Menschen aus anderen Ländern zu lernen. Was können Sie deutschen Leser*innen mitgeben?

"Über Tyrannei" ist ein inspirierendes Buch. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Wenn du attackiert wirst, dann schau auch darauf, was das emotional bei dir auslöst. Mir hat es geholfen, die Angriffe und Verleumdungen systematisch zu analysieren. Sie zielten darauf ab, mich und Rappler zu zerstören. Eine Studie des International Centre for Journalists hat ergeben, dass 60 Prozent der Attacken gegen mich in den Online-Netzwerken meine Glaubwürdigkeit als Journalistin und das Vertrauen in meine Arbeit unterminieren sollten, zum Beispiel mit Memes, die mich als Kriminelle darstellten. Andere Angriffe galten mir als Privatperson und sollten meinen "Spirit" brechen. Doch das ist nicht gelungen, weil ich die Attacken einordnen konnte.

Meine Lektion ist: Wenn du merkst, dass jemand nach dem Schema "wir gegen die" vorgeht, dann tritt erst einmal einen Schritt zurück und denke nach. Wir müssen die Themen angehen, die wirklich unsere Aufmerksamkeit erfordern und dürfen uns nicht im "Wir vs. die" verlieren. Denn wir brauchen einander.

Till Schmidt ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Zur Person

Maria Ressa, geboren 1963 in Manila, arbeitet seit mehr als 35 Jahren als Journalistin. Sie wuchs in den USA auf und kehrte nach ihrem Studium in Princeton 1986 auf die Philippinen zurück, um nach dem Ende der Marcos-Diktatur für das neu etablierte unabhängige Fernsehen zu arbeiten. Für den philippinischen Medienkonzern ABS-CBN war sie als Produzentin und Direktorin tätig. Für CNN arbeitete sie zuerst als Investigativreporterin und leitete später jahrelang die Dependancen des Senders in Manila und Jakarta.

2012 gründete Maria Ressa das unabhängige philippinische Newsportal Rappler mit. Das Onlinemagazin übte ab 2016 scharfe Kritik am damaligen Präsidenten Rodrigo Duterte und seiner Regierung, indem es detailliert über außergerichtliche Hinrichtungen in Zusammenhang mit dem "Anti-Drogen-Krieg" sowie über Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen und Fälle von Korruption berichtete. Als Geschäftsführerin von Rappler war Ressa kontinuierlich politisch motivierten Attacken ausgesetzt, darunter Hate Speech in den Online-Netzwerken und zahlreichen persönlichen Diffamierungen durch den Präsidenten. Im Oktober 2021 erhielt sie zusammen mit Dmitri Muratow den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für die Pressefreiheit.

Auch nach dem Regierungswechsel im Juli 2022 setzt Rappler seinen kritisch-investigativen Journalismus fort und veröffentlicht nun Recherchen zur Regierung von Präsident Ferdinand Marcos Jr. Maria Ressa schrieb mehrere Bücher, unter anderem zu Terrorismus in Südostasien. Ihr internationaler Bestseller "How to Stand Up to a Dictator. Der Kampf um unsere Zukunft" erschien 2022 in deutscher Übersetzung im Quadriga Verlag.

 

Maria Ressa vor Gericht

Mitte Januar 2023 hat ein Berufungsgericht in Manila Maria Ressa und ihr Medienunternehmen Rappler vom Vorwurf der Steuerhinterziehung freigesprochen. In drei weiteren Verfahren steht das letztgültige Gerichtsurteil allerdings noch aus. In einem der Fälle wird Ressa erneut Steuerhinterziehung vorgeworfen. Dazu kommen Berufungsverfahren gegen eine Schließungsanordnung von Rappler sowie gegen eine Verurteilung wegen angeblich diffamierender Äußerungen im Internet. Kritiker*innen werten auch diese Vorwürfe als politisch motiviert. Aktuell ist Maria Ressa frei auf Kaution.

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