Amnesty Journal 23. März 2021

Patient vs. Patent

Die Zeichnung zeigt einen goldenen Ring; anstelle des Edelsteines schmückt ihn eine Tablette.

Lukratives Geschäftsmodell: Patentschutz für Medikamente.

Zahlreiche Organisationen fordern eine Aufhebung des Patentschutzes auf unentbehrliche Medikamente. Doch die Pharmaindustrie hält an ihrem lukrativen Geschäftsmodell fest.

Von Uta von Schrenk

Nandita Venkatesan und Phumeza Tisile überlebten, doch beide verloren ihr Gehör. Die Inderin Venkatesan erkrankte 2013, Tisile aus Südafrika 2010 an multiresistenter Tuberkulose. Die damals verfügbare Behandlung ging mit schweren Folgeschäden einher. Inzwischen gibt es zwar Bedaquilin, ein schonenderes Mittel gegen diese Form der Tuberkulose, die auf die Standardbehandlung nicht anspricht. Doch auf dem Medikament liegt ein Patent, und das macht es teuer, zu teuer für viele Erkrankte weltweit.

Um anderen Betroffenen ihre Behinderung zu ersparen, ­haben Venkatesan und Tisile Anfang 2019 beim Patentamt in Mumbai die Patentverlängerung von Bedaquilin angefochten. Sie werden dabei von Ärzte ohne Grenzen unterstützt. Das Patent auf Sirturo, so der Markenname Bedaquilins, läuft in Indien 2023 ab. Durch ein weiteres Patent auf eine andere Darreichungsform des Präparats will der Hersteller Johnson & Johnson den Patentschutz bis 2027 verlängern. Dies würde die Produktion des Mittels als günstiges Nachahmerprodukt weiterhin blockieren – und so vielen Erkrankten eine Behandlung vorenthalten.

"Patente töten"

Tuberkulose ist eine der Haupttodesursachen weltweit. Jährlich sterben 1,5 Millionen Menschen an der Krankheit. Und die Zahl der Patient_innen mit arzneimittelresistenten Formen nimmt zu. Eine "Bedrohung für die Gesundheitssicherheit", schreibt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dass eine Behandlung mit dem von der WHO empfohlenen Bedaquilin pro Tagesdosis 1,5 US-Dollar und in manchen Ländern weit darüber kostet, sei "ein immenser Preis für die Heilung einer Armutskrankheit", sagt Elisabeth Massute, politische Referentin bei Ärzte ohne Grenzen. Das Medikament muss über 24 Wochen eingenommen werden. So wurden der NGO zufolge im Herbst 2019 nur 20 Prozent der Patient_innen, die es bräuchten, mit ­Bedaquilin behandelt.

"Patente töten", heißt ein Aufruf der BUKO Pharma-Kampagne und der Organisationen medico international (Deutschland), Outras Palavras (Brasilien), People’s Health Movement und Society for International Development, die eine Aufhebung des Patentschutzes auf alle unentbehrlichen Medikamente fordern. "Die WHO schätzt, dass ein Drittel aller Patient_innen weltweit wegen hoher Preise und anderer struktureller Hindernisse keinen Zugang zu dringend benötigten Medikamenten hat", schreiben die Initiatoren. Der Acess to medicine index, ­finanziert von der britischen und niederländischen Regierung sowie privaten Stiftungen und Fonds, geht von zwei Milliarden Betroffenen aus. Der Index hat 53 patentgeschützte Arzneimittel untersucht, die nach Angaben der WHO für die Weltgesundheit von besonderer Bedeutung sind. Laut Index ist zwar die Mehrheit der untersuchten Arzneimittel mit einer Zugangsinitiative verknüpft, sie werden also aus staatlichen Programmen oder von karitativen Organisationen (teil)finanziert. Doch seien diese Initiativen in "Umfang und Reichweite begrenzt" – sie gelten nur für eine Handvoll der ärmsten Länder. Das schließt Millionen arme Menschen in den Schwellenländern aus.

Eintausend-Dollar-Pille

Das Patentsystem der Pharmaindustrie belastet die weltweiten Gesundheitssysteme auf vielfältige Weise. Zum einen treibt es die Kosten immens in die Höhe. So wurde das Medikament Sofosbuvir, mit dem Hepatitis-C erstmals heilbar war, bei seiner Einführung 2014 als "Eintausend-Dollar-Pille" bekannt. Herstellen lässt sich das Medikament Schätzungen zufolge indes für weniger als einen US-Dollar pro Tablette. In Deutschland kostet die Therapie mit dem Sofosbuvir-Kombinationspräparat heutzutage immer noch rund 30.000 Euro. Unerschwinglich für Patient_innen in besonders betroffenen Ländern wie China, Brasilien, Ägypten oder der Ukraine. Diese haben daher eine Zwangslizenz erteilt. Die Therapie mit Generika kostet dort inzwischen weit unter 100 US-Dollar. Die Preise, die für patentgeschützte Medikamente teils aufgerufen würden, seien geradezu "absurd", kritisiert Massute. "Ein Airbag kostet nicht Zehntausende Euro – und er rettet auch Leben."

Welche Bedeutung der Preis in der öffentlichen Gesundheitsversorgung hat, zeigen die Impfungen gegen Pneumokokken. Seit Ende 2019 ist ein neuer Impfstoff auf dem Markt, der um 30 Prozent günstiger ist als die bisher verfügbaren. Ein Preisunterschied auf Leben und Tod: Jedes Jahr sterben fast eine Million Kinder an Lungenentzündung, die durch diese Bakterien verursacht wird. Laut Ärzte ohne Grenzen könnten mit dem günstigen Serum mehr als 55 Millionen Kinder zusätzlich geimpft werden.

Lobbyisten der Pharmaindustrie, wie etwa der Verband der forschenden Arzneimittelunternehmen in Deutschland, verteidigen hingegen den Patentschutz wegen der immensen Entwicklungskosten in Milliardenhöhe. "Deshalb sind Firmen darauf angewiesen, dass sie ihre erfolgreich entwickelten Medikamente auch eine Zeit lang allein vermarkten und so wieder Geld hereinholen können", heißt es vonseiten des Verbandes.

Der Mangel an Transparenz untergräbt die Möglichkeiten von Regierungen und Kunden, faire Preise für lebenswichtige Medikamente auszuhandeln.

Elisabeth
Massute
politische Referentin bei Ärzte ohne Grenzen

Das Kostenargument sei schwierig zu beurteilen, kritisieren NGOs. Denn die Firmen legten in der Regel nicht offen, was sie für die Entwicklung ausgeben. "Dieser Mangel an Transparenz untergräbt die Möglichkeiten von Regierungen und Kunden, faire Preise für lebenswichtige Medikamente auszuhandeln", sagt Massute von Ärzte ohne Grenzen. 2019 wollte die Weltgesundheitsversammlung, das höchste Entscheidungsgremium der WHO, mit einer Resolution über mehr Transparenz zu fairen Medikamentenpreisen weltweit beitragen. Der Vorstoß wurde jedoch unter anderem von der deutschen Regierung blockiert.

Hilfsorganisationen fürchten auch eine Fehlsteuerung in der Arzneimittelforschung infolge der immensen Gewinne, die sich mit patentgeschützten Medikamenten erzielen lassen: Entwickelt wird, was sich lohnt. Bedaquilin war mit einem anderen Medikament nach mehr als 40 Jahren die erste Innovation in der Behandlung der multiresistenten Tuberkulose. "Ohne eine grundlegende Änderung des bestehenden pharmazeutischen Forschungsmodells könnten künftig eher Arzneimittel für Verdauungsstörungen von Haustieren produziert werden, als Medikamente für Arme", warnte Thomas Gebauer, Sprecher der Stiftung medico bereits vor Jahren.

Die Initiativen, die hinter dem Aufruf "Patente töten" stehen, kritisieren das Patentsystem noch aus einem weiteren Grund: Es sorge dafür, "dass auch jene Medikamente hochpreisig gehalten werden, deren Entwicklung auf öffentlich finanzierter Forschung basiert". So ergab eine unabhängige Analyse im Auftrag der US-amerikanischen Gesundheitsinitiative Treatment Action Group, dass die öffentlichen Investitionen in die Entwicklung des Tuberkulosemittels Bedaquilin bis zu fünfmal höher waren als die von Johnson & Johnson selbst. Auch die "Eintausend-Dollar-Pille" gegen Hepatitis C basiert laut BUKO Pharma-Kampagne auf universitärer Forschung.

Fairer und schneller Zugang zu Arzneimitteln

Was also tun? Zum einen lassen sich Patentrechte auf juristischem Wege einschränken oder aussetzen. Staaten können nach dem internationalen Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) etwa Zwangslizenzen einfordern. Dafür muss ein nationaler Gesundheitsnotstand vorliegen. Oder sie können Medikamente aus einem Land importieren, in dem das Medikament günstiger ist. Dies ist aber nur legal, wenn der Hersteller in jenem Land seine Patentrechte beim Verkauf bereits geltend gemacht hat. "Für viele ärmere Länder sind diese Wege ein wichtiger Beitrag, um den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten zu erleichtern", sagt die Rechtsanwältin Miriam Saage-Maaß vom European ­Center for Constitutional and Human Rights.

Seit Jahren beteiligen sich viele Pharmaunternehmen an Arzneispenden und freiwilligen Patentpools wie dem Medicine Patent Pool, mit dessen Hilfe bereits die Versorgung Millionen HIV-infizierter Menschen weltweit erschwinglicher wurde. Tine Hanrieder, Professorin für Health and International Development an der London School of Economics and Political Science, betrachtet freiwillige Patentpools und Arzneispenden jedoch ­lediglich als "karitative Notlösung", wie sie in einem Zeitungsbeitrag schreibt. Die Wissenschaftlerin empfiehlt eine andere Strategie. Forschende und zivilgesellschaftliche Netzwerke hätten "längst eine Reihe von Modellen entwickelt, mit denen sich die Forschung und Entwicklung vom Patentsystem entkoppeln lässt, im Sinne des Gemeinwohls".

Dass das geht, hat die Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi) bewiesen, ein weltweiter Zusammenschluss von Forschungsinstitutionen. So hat die Initiative mit öffentlicher Finanzierung und in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Sanofi-Aventis das Malaria-Medikament ASAQ entwickelt. Es wird seit 2007 zum Selbstkostenpreis verkauft. Während die Pharmaindustrie Entwicklungskosten in Milliardenhöhe anführt, kann die DNDi nach eigenen Kalkulationen neue Wirkstoffe für 60 bis 190 Millionen Euro entwickeln und zulassen.

Dass ein fairer und schneller Zugang zu Arzneimitteln für die gesamte Weltbevölkerung von vitalem Interesse ist, zeigt abermals der Fall Bedaquilin: Wissenschaftler_innen haben im vergangenen Jahr einen neuen Tuberkulosestamm identifiziert, der bereits auch gegen Bedaquilin unempfindlich ist.

Uta von Schrenk ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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