Amnesty Journal 15. Dezember 2023

Welche Farbe hat Teilung?

Ein kleiner Junge steht vor einer Wand, auf die koreanische Schriftzeichen in roter Farbe gemalt sind, die nach unten hin verlaufen wie Blut.

Gemälde des Künstlers: Als Junge wurde der Maler Kang Chun-hyeok Zeuge einer öffentlichen Hinrichtung wie sie in Nordkorea noch heute stattfinden.

Kang Chun-hyeok floh als Jugendlicher aus Nordkorea und verdiente auf dem Weg Geld mit Gemälden. Heute lebt er als Künstler in Südkorea.

Aus Seoul von Felix Lill

Ein Kind steht vor einer Wand, an die eine Ankündigung geschrieben ist. Mit roter Farbe, die wie Blut aussieht, werden die Menschen des Ortes auf eine nahende Vollstreckung hingewiesen: Es gehe um "Kriminelle, die gegen sozialistische Gesetze verstoßen haben". Ein 30-jähriger Verbrecher werde um 7:15 Uhr gerichtet. Der mit überkreuzten Beinen vor dieser Botschaft stehende Junge, den man im Bild nur von hinten sieht, scheint den Text mit Interesse zu lesen. Wird er hingehen?

"Er ging hin", sagt Kang Chun-hyeok und schaut starr an die Wand eines Cafés in Seoul, der Hauptstadt von Südkorea. "Der Junge war ich, vor ungefähr 30 Jahren. Und das, was ich sah, war grauenvoll." Gefesselt habe der angeklagte Mann dagestanden, Offizielle schossen auf ihn, bis er umgefallen sei. Die Schaulustigen, die wie der junge Kang Chun-hyeok gekommen waren, sahen zu. "Viele dürften nicht gewusst haben, was der Mann überhaupt verbrochen hatte", sagt Kang heute. Aber die Botschaft sei allen klar gewesen: Wer die Gesetze Nordkoreas bricht, werde schwer büßen.

Mit der Kraft der Wut

Für Kang Chun-hyeok sind solche Erinnerungen ein Blick in eine mittlerweile ferne Vergangenheit. Seit 2001 lebt der 37-Jährige in Südkorea, aus seinem Geburtsland floh er schon 1998. Aber wenn er an die schweren Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat denkt, kocht es in ihm bis heute, sagt er. In gewisser Weise halte ihn dies am Leben: "Aus den Bildern vor meinem inneren Auge mache ich regelmäßig Bilder, die sich auch andere ansehen können." Und immer wieder verkauft er sie, manchmal für viel Geld.

Kang Chun-hyeok hatte Glück im Unglück: Unglück, weil er in einem Land aufwuchs, das nicht nur zu den ärmsten der Welt zählt, sondern dessen Ein-Parteiensystem rund um eine totalitär geführte Kommunistische Partei kaum Freiheiten zulässt und rabiat gegen Andersdenkende vorgeht. Glück, weil ihm als Kind mit seinen Eltern die Flucht gelang, und er sich später im demokratischen Südkorea als Kunstschaffender etablieren konnte. Kang ist heute der wohl bekannteste Künstler im Süden, der sich aus eigener Erfahrung heraus zur Lage im Norden ­äußert.

Seit 1950 befinden sich Nord- und Südkorea formal im Kriegszustand. Die Halbinsel, die von 1905 bis 1945 unter japanischer Herrschaft stand, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einen kommunistisch regierten Norden und einen kapitalistischen Süden geteilt. 1950 griff der Norden den Süden an, im dreijährigen Koreakrieg starben Millionen Menschen. Weil danach nur ein Waffenstillstand vereinbart wurde, aber kein Friedensvertrag, ist die Grenze bis heute hochmilitarisiert und die Anspannung auf beiden Seiten hoch.

"Meine Heimat ist Korea", sagt Kang Chun-hyeok nur. Er wünsche sich die ­Wiedervereinigung, allerdings unter der Achtung von Menschenrechten und der Garantie von Freiheit. Dass er diese im Norden vermisst hat, ist in seinen Werken nicht zu übersehen. Da sind aus der Erinnerung gezeichnete Bilder öffentlicher Erschießungen. Eine Verfolgungsjagd zwischen flüchtenden Familien und der Polizei. Oder Offizielle, die unter der nordkoreanischen Flagge sitzen, zwar mit Gewehren bewaffnet, aber mit Hunger im Bauch.

Weil unser Heimatort in der Nähe der Grenze nach China und Russland lag, schlich sich mein Vater über die Grenze, um dort Geld zu verdienen. Aber er wurde erwischt und kam in ein Arbeitslager.

Ein koreanischer junger Mann trägt Cargo-Hose, T-Shirt, Baseball-Mütze, Umhängetasche und eine Brille; er steht vor einem überwachsenen Zaun.

Kang Chun-hyeok verarbeitet seine Erfahrungen in der Kim-Diktatur zu Kunst.

"Alles davon ist Lebensrealität", bezeugt Kang. "In den 1990er Jahren gab es in Nordkorea eine Hungersnot. Weil unser Heimatort in der Nähe der Grenze nach China und Russland lag, schlich sich mein Vater über die Grenze, um dort Geld zu verdienen. Aber er wurde erwischt und kam in ein Arbeitslager." Als der Vater wieder nach Hause zurückgekehrt war, packte die Familie spontan ihre Sachen und machte sich mit einer Handvoll Nachbarn auf nach China. "Es war nachts, Grenzpolizisten sahen und verfolgten uns."

Auf der anderen Seite der Grenze ging das Versteckspiel weiter. "Wir kamen bei einer Bauernfamilie unter, arbeiteten für sie und erhielten als Gegenleistung ihren Schutz." Dort erlebte Kang Chun-hyeok seine Pubertät und fand zu seinem Kindheitshobby zurück: Malen. Bald erkannte er, dass sich mit seinem Talent Geld verdienen ließ. "Wie andere Teenager wollte ich rauchen, hatte aber kein Geld. Eines Tages sprach ich den Besitzer des Schreibwarenladens an, bei dem ich immer Stifte und Papier kaufte. Ich bot ihm an, Poster zu zeichnen und sie bei ihm zu verkaufen. Die Gewinne könnten wir uns teilen."

Vom Bau auf die Kunsthochschule

Der Ladenbetreiber willigte ein. Und er war überrascht, wie gut sich die Poster des Jungen verkauften. "Ich zeichnete ­alles Mögliche, von Porträts beliebter K-Popstars bis zu Skizzen von Tieren. Und nach kurzer Zeit nahm ich damit mehr Geld ein als mein Vater, der mittlerweile auf einer Baustelle arbeitete!" Das Leben hätte so weitergehen können, Kang Chun-hyeok sprach schon Chinesisch. Doch dann wurde die Familie von der chinesischen Polizei erwischt. Sie entkamen und gelangten über Vietnam nach Kambodscha.

Von dort aus gelang die Ausreise nach Südkorea. Aber das Leben in Freiheit stellte sich als eines ohne Sicherheit heraus. "Meine Fähigkeiten waren plötzlich nutzlos. Handzeichnungen von K-Popstars brauchte hier ja niemand!" Kang Chun-hyeok, dessen Eltern sich nach der Ankunft im Süden scheiden ließen und später beide verstarben, begann auf dem Bau zu arbeiten. Als er sozialen Anschluss gefunden hatte, ermutigten ihn Freunde, es doch wieder mit der Kunst zu versuchen. Er bewarb sich an der Hongik Universität in Seoul, der führenden Hochschule für Kunst, und erhielt einen Platz.

Seit seinem Studienabschluss sind sieben Jahre vergangen. Schon als Student stellte Kang bei der Kunstbiennale Ostrale in Dresden aus und konnte das Gemälde, das ihn als Jungen zeigt, für rund 7.000 Euro verkaufen. Im Jahr 2014 trat er zudem in der südkoreanischen TV-Casting-Serie "Show Me The Money" auf, wo er auch als Rapper Aufsehen erregte. Seine Texte klagten nicht nur die Menschenrechtslage im Norden an, sondern auch die volatilen Beziehungen zwischen Nord und Süd.

30.000 Geflüchtete aus dem Norden

Mit der Zeit bemerkte der aufstrebende Künstler, dass seine Arbeiten eher dort beeindruckten, wo man über Nordkorea besonders wenig wusste. Im Süden der Halbinsel sind die Schicksale, die Kang Chun-hyeok zu Bildern verarbeitet, nicht einzigartig. Rund 30.000 Geflüchtete aus dem Norden leben in Südkorea. "Würde ich in die USA ziehen, könnte ich wahrscheinlich wesentlich mehr Geld verdienen", vermutet Kang, der bis heute gelegentlich auf dem Bau arbeitet.

Zumal die Beliebtheit seiner Kunst auch politischen Schwankungen in Südkoreas Zwei-Parteiensystem unterworfen sei. "Wenn die Konservativen regieren, ist das für mich besser." Die Konservativen setzen auf eine härtere Gangart gegenüber Nordkorea, während die liberale Demokratische Partei eher den Austausch sucht.

Seit 2022 regiert mit Yoon Suk-yeol ein Konservativer, der Nordkorea – das seinerseits regelmäßig Raketentests durchführt – immer wieder mit militärischer Abschreckung droht. Am Austausch mit Nordkorea ist die gegenwärtige Regierung in Seoul kaum noch interessiert. Für Kang Chun-hyeok sind damit erneut gute Zeiten angebrochen. Im Sommer hat er ein Bild für gut 5.000 Euro verkauft. Es zeigt zwei Föten, die im selben Bauch schwimmen. Der obere ist rot gemalt, der untere blau, verbunden sind sie durch eine Nabelschnur. 

"Nord und Süd gehören zusammen", erklärt Kang. Doch auch wenn ihm seine Erfahrungen ein künstlerisches Fortkommen ermöglichen: Lieber würde er Bilder von der Natur malen, oder Abstraktes. Aber was bleibe ihm übrig? "Solange Korea geteilt ist, muss meine Kunst mit Korea zu tun haben."

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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