Amnesty Journal Italien 25. Februar 2020

Schwere Fahrt für Lebensretter

Rettungsboot Iuventa in voller Fahrt

Die Iuventa während einer Rettungsoperation auf dem Mittelmeer (Archivaufnahme vom 7. Mai 2017)

Wegen angeblicher Beihilfe zu illegaler Einwanderung ermittelt die italienische Justiz gegen zehn Seenothelfer des Rettungsschiffs Iuventa. Bei dem Prozess auf Sizilien drohen ihnen bis zu zwanzig Jahre Haft.



Aus Palermo und Trapani Markus Bickel

Hell und klar steht der fast runde Vollmond über dem Hafen von Palermo. Feierabend für viele Arbeiter, Schichtende. In ihren Blaumännern stoßen sie das Drehkreuz in der Sicherheitsschleuse am Ausgang des weitläufigen Geländes auf, endlich heim zu den Familien. 

Eine halbe Stunde Fußweg ist es in die andere Richtung, bis zum Hafenende. In der Ferne ein quietschender Kran, Container, hohe Hallen, tief am Himmel verglüht eine Sternschnuppe. Von Schlaglöchern übersät ist die letzte Mole gegenüber der Altstadt, eine heftige Welle hat hier vor ein paar Tagen ihre Spuren hinterlassen. Wie ein Hochhaus ragt rechts die Eurocargo Palermo aus dem Wasser, ein riesiges Frachtschiff. Dahinter, geduckt, die Alan Kurdi, das Schiff der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye.

Seit Tagen schon sei die Besatzung am Schweißen, um Schäden am Schiff zu beheben, erzählt Johanna Pohl, zuständig für die Koordination der Crew. Außerdem trainiere sie für den nächsten Einsatz: Mann-über-Bord-Manöver, lebenserhaltende Maßnahmen. Sanft wiegt sich die 35 Meter lange Alan Kurdi im Wasser, im Bauch des Schiffes sammeln sich die Besatzungsmitglieder zum Abendessen, drei Frauen und 15 Männer aus Deutschland, Norwegen, Spanien und Ghana. Kartoffelgratin mit Tomatensoße und Salat gibt es, ein leckerer Duft zieht aus der Küche hinüber in den engen Raum mit niedriger Decke.

Hendrik Simon hat keinen Appetit, doch umso hungriger ist er auf Neuigkeiten. Eigentlich ist er auf Sizilien, um einer Anhörung vor dem Gericht in Trapani beizuwohnen, wo gegen ihn und neun andere frühere Besatzungsmitglieder des Rettungsschiffs Iuventa ermittelt wird. Doch als er hörte, dass die Alan Kurdi im Hafen von Palermo vor Anker liegt, machte er sich kur­zerhand auf in die gut eine Autostunde von Trapani entfernte Mittelmeermetropole.

Die Stadt ist zum Zentrum für die umtriebige europäische Seenotretterszene geworden – wohl nicht zuletzt, weil Bürgermeister Leoluca Orlando mit seinem Appell, die Kriminalisierung ziviler Helfer zu beenden und eine starke europäische Seenotrettung zu schaffen, einen klaren Gegenkurs zur tödlichen Politik der EU auf dem Mittelmeer eingeschlagen hat.

14.000 Menschen gerettet

Sechsmal war Hendrik Simon in den vergangenen Jahren auf Rettungsmissionen im Mittelmeer unterwegs, zweimal davon auf der Iuventa. Die Berliner Organisation Jugend Rettet hatte das Schiff auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlings­krise 2015 für 150.000 Euro gekauft. Mehr als 200 Freiwilligen gelang es danach, bei 16 Einsätzen rund 14.000 Menschen aus dem Meer zu retten. Doch weil die italienischen Behörden das Boot im August 2017 beschlagnahmten, kann Simon den Geflüchteten nun nicht mehr auf den Beibooten, die man RIBs ­(Rigid Inflatable Boats) nennt, direkt zu Hilfe eilen.

 

Porträtbild

Hendrik, Rettungsbootfahrer der Iuventa und Software-Entwickler aus Bremen

Im Gegenteil. Der 44-jährige Informatiker braucht jetzt selbst juristische Unterstützung, weil er zum Ziel strafrechtlicher Ermittlungen geworden ist: Beihilfe zur illegalen Einwanderung lautet der Vorwurf gegen ihn und neun weitere Mitglieder der Iuventa-Crew (Siehe Graphic Report Seite 18). Angeblich sollen sie 2016 und 2017 in mindestens drei Fällen mit Schleppern auf Schlauchbooten kooperiert haben. Um das zu beweisen, verwanzte der italienische Geheimdienst sogar die Brücke der Iuventa. Handys und Laptops von Crewmitgliedern wurden beschlagnahmt.

Dabei hatten Simon und die anderen verfolgten Iuventa-­Aktivisten, die sich als "Iuventa10" zusammengeschlossen haben, nur getan, was menschlicher nicht sein könnte: Menschen vor dem Ertrinken retten. Doch genau dafür drohen ihnen jetzt bis zu zwanzig Jahre Haft.

Die Kosten für die Verteidigung im westsizilianischen Trapani gehen in die Hunderttausende. Am Nachmittag vor dem Besuch auf der Alan Kurdi im Hafen von Palermo hat Simon dort seine Anwältin Francesca Cancellaro und ihren Kollegen Nicola Canestini getroffen.

Doch wann der Prozess beginnt, ist noch immer unklar – möglicherweise erst Ende 2020. Dass zweieinhalb Jahre nach der Beschlagnahmung der Iuventa noch nicht einmal die Anklageschrift vorliegt, erleichtert die Sache für Simon und die anderen Beschuldigten nicht. Schließlich ist der Fall seit der Hetzkampagne italienischer Rechtspopulisten gegen die zivile Seenotrettung derart politisiert, dass Richter und Staatsanwälte unter enormem öffentlichen Druck stehen, den Prozess mit einem Schuldspruch zu beenden.

"Nicht die ­Besatzung der Iuventa sollte vor Gericht stehen, sondern ein ­System, das die Rettung von Menschenleben zur Straftat erklärt – und jene straffrei lässt, die für den Tod Tausender Menschen auf dem Mittelmeer verantwortlich sind", sagt Simon.

Johanna Pohl von der Alan Kurdi kann ein Lied davon singen, was mit jungen engagierten Menschen geschieht, die für die gescheiterte Flüchtlingspolitik der EU in Haftung genommen werden. Die 37-Jährige hat ihre Masterarbeit im Studiengang Global Health am Karolinska Institutet in Stockholm über "Kriminalisierung der Seenotrettung zwischen 2016 und 2018" geschrieben. Dabei hat sie erfahren, welche Ängste ein drohender jahrelanger Gefängnisaufenthalt bei Aktivisten auslösen kann, die ­eigentlich nur ihren Teil zur Verbesserung der Welt beitragen wollten.

Politisierung durch Kriminalisierung

Die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung schweißt die Seenotretterszene zusammen. Zwar unterhalten sich Simon und Pohl an diesem Abend zum ersten Mal, doch sehen sie aus wie alte Bekannte, als sie in der Messe der Alan Kurdi die Köpfe zusammenstecken.

"Natürlich hat die Beschlagnahmung der Iuventa Auswirkungen auf uns alle", sagt die gebürtige Berlinerin. "Unser humanitärer Grundsatz, dass man dem Sterben im Mittelmeer nicht einfach nur zusehen darf, wurde dadurch stärker politisiert. Wir müssen uns eindeutiger positionieren."

Das ist nicht zuletzt eine Folge des harten Kurses der im September 2019 abgelösten rechten Regierung in Rom. Der damalige Innenminister Matteo Salvini von der Lega Nord hatte im Jahr zuvor durchgesetzt, dass Italien keine auf See geretteten ­Migranten mehr an Land lässt. Tagelang irrten Rettungsschiffe wie Lifeline und Aquarius deshalb im Sommer 2018 mit Hunderten Menschen an Bord über das Mittelmeer, ehe sie endlich in Malta anlegen durften. Rom gelang es so letztlich auch, die Einstellung der EU-Marinemission "Sophia" zu erzwingen, die seit 2015 mehr als 50.000 Menschen auf der Flucht aus Libyen, Tunesien und der Türkei gerettet hatte.

Auch Schiffe der Bundeswehr patrouillierten bis März 2019 vor der libyschen Küste. Neben dem eigentlichen Ziel der Mission, Schleuser zu bekämpfen, hielten die Soldaten ein Mindestmaß an staatlicher Seenotrettung aufrecht – 22.500 Menschen konnte die deutsche Marine bis zum Ende des Einsatzes retten. In das Vakuum, das sie hinterließen, stießen die privaten Lebensretter.

Anders jedoch als erfahrene Hilfsorganisationen wie Save the Children und Ärzte ohne Grenzen, die die Geretteten auf großen Schiffen medizinisch versorgen und nach Italien bringen können, haben die Boote kleiner Initiativen meist nur wenig Platz an Deck. Sie reichen bei Weitem nicht an die Aufnahme­kapazitäten heran, die die Schiffe der Operation "Sophia", der europäischen Grenzschutzagentur Frontex oder der italienischen Küstenwache bis zu ihrem weitgehenden Rückzug aus der Seenotrettung boten.

Die Beschlagnahmung der Iuventa, die seit August 2017 im Hafen von Trapani festsitzt, hatte jedoch noch andere Konsequenzen: Hunderte Freiwillige, die sich angesichts des Sterbens auf dem Mittelmeer 2016 und 2017 bei Seenotrettungsorganisationen wie Mission Lifeline, Cadus, Sea-Watch oder Jugend Rettet meldeten, wissen nun, dass ihnen strafrechtliche Verfolgung drohen könnte. Sie würden sich gut überlegen, ob sie wirklich ihre Freiheit riskieren wollten – für ein paar Wochen guten Gewissens auf hoher See, sagt Johanna Pohl. Außerdem bedeute das Damoklesschwert einer möglicherweise zwanzigjährigen Haftstrafe für eine Zwanzigjährige etwas anderes als für einen Mittvierziger, fügt Hendrik Simon hinzu.

Zuhause im Hamburger Hafen

Dariush Beigui sieht das nicht anders – und dennoch würde er am liebsten so schnell wie möglich zurück aufs Mittelmeer. Trotz der Strafe, die ihm wie Simon wegen seiner Tätigkeit auf der Iuventa droht. Routiniert manövriert der Kapitän das Tankschiff Bunker Service 12 in ein abgelegenes Becken am Rande des Hamburger Hafens. 10.000 Liter Diesel hat ein Kunde hier bestellt, nach einer Viertelstunde ist der Treibstoff aus seinem 55 Meter langen Schiff abgezapft. Dann steuert Beigui es die Elbe aufwärts zur Landestelle der Bunker Service. Ruhige Gewässer sind das hier in Hafen-City, vorbei an Elbphilharmonie und schmucken Klinkerbauten.

Als Kapitän der Iuventa war Beigui noch 2017 gemeinsam mit Hendrik Simon auf dem Mittelmeer unterwegs. Wenige Wochen vor der Beschlagnahmung des Schiffes war das, die Kampagne der rechten Regierung in Rom gegen zivile Seenotretter lief da bereits auf Hochtouren. Nun sind die beiden linken Aktivisten vor allem auf Land aktiv: Im Herbst und Winter 2019 begleiteten sie die Band Feine Sahne Fischfilet auf ihrer Tour durch Deutschland. Das Ziel: Bei Veranstaltungen am Rande der Konzerte das Publikum über Seenotrettung aufzuklären und Spenden zu sammeln für den teuren Prozess in Trapani.

Wie Simon würde der 41-jährige Hamburger am liebsten schon morgen wieder auf einem der Seenotrettungsschiffe ­anheuern, die seit Jahresbeginn verstärkt zwischen Libyen, Malta und Italien unterwegs sind.

Zwar sieht Beigui es kritisch, dass Aktivistinnen und Menschenrechtler auf dem Mittelmeer die Lücken füllen müssen, für die die EU-Staaten mit ihrer mörderischen Abschottungspolitik sorgten. Doch das sei immer noch besser als nichts zu tun.

Hoffnung 2020

Außerdem gibt es seit Jahresbeginn ermutigende Signale aus den Mittelmeeranrainerstaaten. Nicht nur der Alan Kurdi erlaubten die italienischen Behörden, nach langer Auszeit wieder Richtung libyscher Hoheitsgewässer aufzubrechen. Auch die Sea-Watch 3 der gleichnamigen Hilfsorganisation verließ im Januar den italienischen Hafen Tarent für neue Rettungseinsätze. Für Aufsehen hatte im vergangenen Sommer der Fall der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete gesorgt, die festgenommen worden war, weil sie trotz eines Verbots in den Hafen von Lampedusa eingelaufen war, um 53 Migranten an Land zu bringen. Im Januar wies Italiens oberstes Gericht den Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen ihre Freilassung ab – Rackete sprach von einem "wichtigen Urteil für alle Seenotretter".

Auch Claus Peter Reisch, der frühere Kapitän der Lifeline, erzielte im Januar auf Malta einen juristischen Erfolg. Ihm war vorgeworfen worden, das unter niederländischer Flagge fahrende Schiff der Nichtregierungsorganisation Mission Lifeline nicht richtig registriert zu haben, als es mit mehr als 200 Migranten an Bord im Juni 2018 in maltesische Gewässer einfuhr.

Weil er ein Jahr später mit dem zweiten Schiff der NGO, der Eleonore, Sizilien angesteuert hatte, ermittelt seitdem die ­italienische Justiz gegen ihn – wie im Falle der "Iuventa10" lautet der Vorwurf auf Beihilfe zur illegalen Einwanderung.

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Kurz nach dem Freispruch auf Malta kündigte Reisch seine Zusammenarbeit mit der Mission Lifeline auf. Er müsse sich zunächst darum kümmern, Geld für Anwalts- und Reisekosten in Höhe von 300.000 zusammenzubekommen, die ihm die Ermittlungen in Italien beschert haben, sagt der konservative Bayer, fügt aber hinzu: "Wenn ich allerdings akut einen Schlüssel für ein Schiff in die Hand bekäme, würde ich vermutlich doch schwach werden und fahren."

Was Beigui, Pohl, Reisch, Simon und viele andere Seenotretter über alle politischen Differenzen hinweg eint, ist etwas zutiefst Humanes – der unbedingte Wunsch, Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren, allen juristischen und politischen Schikanen zum Trotz. Dafür engagiert sich jetzt auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die gemeinsam mit einem breiten Bündnis, dem unter anderem Ärzte ohne Grenzen und Sea-Watch angehören, die Anschaffung des Schiffes Poseidon ­finanziert. Und Amnesty Deutschland zeichnet die "Iuventa10" im April mit dem Menschenrechtspreis aus, nicht zuletzt deshalb, weil sie zahlreichen Flüchtenden das Leben gerettet und damit grundlegende Menschenrechte verteidigt haben.

Literatur zum Thema Seenotrettung

Zoe heißt Leben

"Ich riskierte 20 Jahre Haft, weil ich Hunderte von Menschen aus Seenot rettete", heißt es im Untertitel des Buchs von Zoe Katharina. "Und ich würde es wieder tun". Während ihrer Ausbildung zur Bootsbauerin schloss sich die damals 20-jährige Zoe Katharina 2017 für ein paar Wochen der Iuventa-Crew an – eine Entscheidung, die ihr Leben für immer verändert hat: Konfrontiert mit Krankheit, Panik und Tod von Geflüchteten kämpfte sie an Bord auch mit ihrer eigenen Wut und Hilflosigkeit. Und sieht sich nun einem langen Verfahren ausgesetzt.



Zoe Katharina: Zoe heißt Leben. Patmos Verlag, 220 Seiten, 20 Euro.

Lass uns mit den Toten tanzen

Eine Kapitänin sticht mit einer Crew aus Weltverbesserern in See, da Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, die Zuflucht in Europa suchen. Die Besatzung kann nicht akzeptieren, dass die EU-Staaten die Seenotrettung eingestellt haben. Pia Klemp, Kapitänin der Iuventa im Jahr ihrer ­Beschlagnahmung, hat ihre Erfahrungen in Romanform gepackt – eine authentische Schilderung des Lebens an Bord, die zeigt, wie die europäische ­Politik ihre selbst propagierten Werte verrät.



Pia Klemp: Lass uns mit den Toten tanzen. Maro Verlag, 220 Seiten, 20 Euro.

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