Amnesty Journal Italien 06. März 2024

Sich eine Zukunft schneidern

Markenzeichen: Die Frauen kaufen die nigerianischen Stoffe auf dem Großmarkt in Rom.

Im Süden Italiens beutet die Mafia afrikanische Migrant*innen aus. In einer ehemaligen Mafiaresidenz in der Nähe von Neapel betreiben Frauen aus Nigeria und aus der Region gemeinsam eine Näherei.

Aus Castel Volturno Nina Apin (Text) und Michele Amoruso (Fotos)

Paola Russo steht vor einem halb abgewickelten Stoffballen und flucht: Der Auftrag muss fertig werden, 50 Taschen für ein Geschäft im Stadtzentrum. 30 davon stapeln sich schon auf dem Schneidetisch. Das Problem ist: Der Zuschnitt wurde falsch berechnet, der Stoff reicht nicht. "Madonna, was für ein Chaos!" Die 53-Jährige wirft sich theatralisch auf einen Stuhl, in dem kleinen, mit bunten Stoffen und Näh­tischen vollgepackten Raum herrscht ­angespannte Stille. Vivian Emwindoemwaifo kontrolliert mit einem Maßband nach. Mit einem Zungenschnalzen, das ihre goldenen Creolen wackeln lässt, verkündet sie: "Mist."

Kurze Krisensitzung: Alle sechs Frauen im Raum vermessen Stoffreste, begutachten das Lager, diskutieren lautstark. Mit einer kleinen Änderung im Design ist die Produktion gerettet. Der Rest der verschnittenen Stoffe wird zu Handyhüllen aufbereitet, die auf Märkten in der Region guten Absatz finden. Aufatmen, die Nähmaschinen rattern wieder, die übliche Arbeitsroutine kehrt ein: messen, schneiden, anreichen, nähen, verpacken, zwischen den Frauen fliegen Wortfetzen hin und her – in neapolitanischem Dialekt und Bini, einer Sprache, die in der nigerianischen Provinz Edo gesprochen wird.

In einer Schneiderwerkstatt: Eine italienische Frau mittleren Alters stützt sich mit dem Arm auf einem Schneidertisch ab und hält einen Stoff in der Hand.

Problemlöserin: Paola Russo, Sozialarbeiterin und Leiterin der Schneiderei "Action Women"

"Wir sind kein gewöhnlicher Betrieb, nicht immer läuft es rund", stellt Paola Russo trocken fest, als sie auf der Bank vor der Schneiderei eine Zigarettenpause macht. "Aber das hier ist auch ein spezielles Umfeld." Die resolute Neapolitanerin mit der Lockenmähne ist Sozialarbeiterin. Seit 2014 leitet sie die kleine Schneiderei "Action Women" in Castel Volturno. Soziale Schneiderei nennt sich der Betrieb, der als Ausbildungsprojekt für afrikanische Migrantinnen begann. Seit drei Jahren trägt sich die Schneiderei wirtschaftlich selbst. Fünf Frauen sichert das Nähen aktuell den Lebensunterhalt. Vier von ihnen stammen aus Nigeria, eine aus der Region. Alle Frauen haben Kinder, leben in prekären familiären Verhältnissen. ­Arbeitslosigkeit, Sucht und häusliche ­Gewalt sind Themen, die viele kennen. "Das Leben ist hier für alle hart", sagt Russo. "Alles, was Sie über diese Stadt ­gehört haben, stimmt – und trotzdem gibt es Hoffnung und viel Engagement."

Zwei nigerianische Frauen stehen vor einem Schneidertisch und begutachten Stoffe, hinter ihnen sitzt eine Näherin an einer Nähmaschine.

Planen den nächsten Zuschnitt: Mary Aighbeghian (li.) und Vivian Emwindoemwaifo

Mafia, Migration, Menschenhandel

Die süditalienische Region Kampanien hat mit die höchsten Arbeitslosenzahlen in ganz Europa. Die Küstenstadt Castel Volturno, eine halbe Autostunde nördlich von Neapel gelegen, erlangte traurige Berühmtheit als eine Hochburg der Mafia und der Migration. Von den offiziell knapp 28.000 Einwohner*innen sind Schätzungen zufolge bis zu 20.000 Migrant*innen. Eine unbestimmte Zahl von Menschen, die Mehrzahl von ihnen aus Afrika, lebt in dem vernachlässigten ­Gebiet nördlich des Flusses Volturno, in dem auch Paola Russos Arbeitgeber, die Organisation "Black and White", ihren Stammsitz hat. In den 1960er Jahren zog die lokale Unternehmerfamilie Coppola in dem Gebiet eine gigantische illegale Feriensiedlung hoch. Eine Zeitlang erfreute sich der Komplex "Pinetamare" großer Beliebtheit bei der wohlhabenden Mittelschicht und den Beschäftigten eines nahe gelegenen Stützpunkts der US-Armee. Doch als die Regierung von Kampanien nach dem verheerenden Erdbeben 1980 Obdachlose in den Appartements einquartierte, begann der Niedergang: Investor*innen zogen sich zurück, die Siedlung verfiel immer mehr.

Heute beherbergen die heruntergekommenen Appartementkomplexe vor allem Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis, die als Tagelöhner*innen auf den Feldern in der Umgebung arbeiten. In leerstehenden Bungalows leben Obdachlose, in ehemaligen Hotelanlagen befinden sich Lager des Kokain- und Waffenhandels. Neben der einheimischen Camorra hat sich in Castel Volturno auch die nigerianische Mafia eingenistet. In sogenannten "Connection Houses" und entlang der Küstenstraße arbeiten junge Nigerianerinnen, die Opfer von Menschenhandel wurden, als Prostituierte.

Bereits 2006 skandalisierte der italienische Journalist Roberto Saviano in seinem Mafia-Enthüllungsbuch "Gomorrha", dass sich der Küstenabschnitt im Würgegriff der organisierten Kriminalität befinde. Diese habe aus dem einstigen Bauernland eine Deponie für illegalen Giftmüll und einen Schauplatz für Elendsprostitution und Drogenhandel ­gemacht. 

Eine nigerianische Frau sitzt an einer Nähmaschine, sie trägt eine Hornbrille, das Haar fällt lockig in ihren Nacken.

Finanziert das Studium ihrer Tochter: Patricia Omoruyi Orobosa

In der verbliebenen Landwirtschaft sieht es nicht besser aus: "Viele der Tomaten, Zitronen und Orangen, die wir in den Supermärkten in Deutschland kaufen, werden unter ausbeuterischen Bedingungen von Menschen ohne Papiere in Südeuropa gepflückt, unter anderem in Sizilien", sagt Sophie Scheytt, Asylexpertin von Amnesty International in Deutschland. "Schon vor mehr als zehn Jahren hat Amnesty International die brutalen Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Menschen in Italien in einem Amnesty-Bericht untersucht – auch in Castel Volturno."

Die Missstände bestehen noch immer, aber in der Stadt hat sich auch ein großes Netzwerk an kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen gebildet, die versuchen, der Macht der Mafia mit Bildungs- und alternativen Arbeitsmöglichkeiten etwas entgegenzusetzen. Eine dieser Initiativen ist die soziale Schneiderei "Action Women" in der Viale delle Magnolie, untergebracht in einer ehemaligen Mafiaimmobilie.

Ernährerinnen ihrer Familien

Allein in Castel Volturno wurden bisher 155 Mafiaimmobilien enteignet und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt; nicht immer mit Erfolg. Der überschuldeten Kommune fehlen die Mittel, um die zum Teil baufälligen Gebäude gegen Vandalismus zu schützen und instand zu setzen. In der Viale delle Magnolie aber klappte es. In das ehemalige Feriendomizil der Mafiapatin Pupetta Maresca ist neues Leben eingekehrt. "Casa di Alice – der Ort, an dem Träume wahr werden" steht auf einem gemalten Schild über der Tür. Im Garten ragt eine Metallskulptur in Form des afrikanischen Kontinents aus dem Rasen, "Karibu" ist dort eingestanzt, "Willkommen" auf Aramäisch. Seit 2010 residiert in dem spanisch anmutenden weißen Flachbau die Freiwilligenorganisation "Jerry Essan Masslo" – benannt nach einem aus Südafrika stammenden Migranten, der als Tomatenpflücker von der Mafia ausgebeutet und 1989 von Jugendlichen aus dem Ort getötet wurde.

Ziel der Jerry Essan Masslo-Stiftung ist es, den Verletzlichsten Schutz und Perspektiven zu geben. Rund 50 Freiwillige und vier Zivildienstleistende betreiben in den Räumen der Casa di Alice eine Kleiderkammer, bieten Hausaufgabenhilfe, Nachmittagsbetreuung und Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche an. In einem kleinen Raum werden geschälte Tomaten in Flaschen und andere Tomatenprodukte für den Onlineverkauf vorbereitet. Die Initiative bewirtschaftet auch ein Stück Land, das der Mafia ent­rissen wurde und beschäftigt dort Landarbeiter*innen und Pflücker*innen zu ­fairen Bedingungen.

Eine nigerianische Frau arbeitet in einer Schneiderwerkstatt an einer Nähmaschine, eine kleine Lampe brennt über ihrem Arbeitsplatz, um sie herum hängen Stoffe und Kleider.

Entwirft auch Mode: Patience Agbonkonkon

Im ehemaligen Wohnzimmer der ­kleinen Villa ist die Schneiderei untergebracht, in der Vivian Emwindoemwaifo und Patience Agbonkonkon gerade die letzten Taschen fertig nähen. Wenn man es sorgfältig mache, sagt Agbonkonkon, die nur kurz von ihrer Dürkopp-Maschine aufblickt, brauche man 30 Minuten – für eine Taschenseite. Stolz zeigt sie ein langes, raffiniert geschnittenes Wickelkleid aus nigerianischem Stoff, das sie entworfen hat, bei der letzten "Action Women"-Modenschau trug es ihre Tochter, zusammen mit einem passenden, mit Draht verstärkten Haarband, das sie hier "Skaf" nennen.

In Benin-Stadt arbeitete die 55-Jährige als Näherin in einer Textilfabrik, machte sich später mit einer kleinen Schneiderei selbstständig. 2010 verließ sie Nigeria. Drei Mädchen hat sie, zwei gehen noch zur Schule, eine ist Stewardess geworden. Vorher schlug sich Agbonkonkon mit Gelegenheitsjobs durch, putzte und kellnerte, "das Übliche", sagt sie. Mithilfe der Organisation "Black and White" erlangte sie die italienische Staatsbürgerschaft. Seit fast fünf Jahren ist sie in der Schneiderei beschäftigt. "Es ist gut, mit dem zu arbeiten, was ich gelernt habe, mit Menschen, die mich respektieren", sagt sie. "Und es reicht, um meine Familie zu ernähren." Eine ihrer Töchter, erzählt sie, wolle später Ärztin werden – und warum solle sie das nicht schaffen? "Certo", aber sicher, ruft Kollegin Patricia Omoruyi Orobosa. Ihre Tochter studiere jetzt Mode, in Capua.

Vielleicht haben die Modenschauen, an denen sie schon als Kind mitwirkte, sie inspiriert. Oder die Designerinnen, mit denen "Action Women" regelmäßig kooperiert. So erarbeiteten die Schneiderinnen von 2018 bis 2020 mit der römischen Modeprofessorin Barbara Anunziata eine Kollektion und ließen sich von ihr beraten. Seitdem läuft es auch wirtschaftlich. Man verkauft in Läden und auf Kreativmärkten, fertigt Aufträge für lokale Firmen; gerade hat ein Buchladen Kalenderhüllen bestellt.

Accessoires aus nigerianischem Stoff

Die Markenzeichen von "Action Women" sind Accessoires und Kleidungsstücke aus nigerianischen Wachsdruckstoffen. Die Meterware müssen die Frauen auf dem Großmarkt in Rom besorgen – die afrikanischen Geschäfte in Castel Volturno und Umgebung verlangen überhöhte Preise, ein weiterer Ausdruck der von kriminellen Strukturen dominierten lokalen Wirtschaft. Die Ornamente und geometrischen Muster in leuchtenden Farben ­werden zu modernen Begleitern genäht: Wickelröcke für den Strand, Shopping­taschen, Handyhüllen sowie die Haar­bänder, die auch Italienerinnen gerne ­tragen. "Das steht auch Blonden", sagt Mary Aighbeghian und grinst. Sie selbst trägt einen Wickelrock aus buntem Stoff, dazu ein orangenes T-Shirt mit der Aufschrift: "I am the seed the Lord has blessed" – wie alle Nigerianerinnen hier ist sie in einer der vielen Pfingstgemeinden aktiv. Die Gemeinde gebe ihr eine Heimat, sagt sie, ebenso wie die Casa di Alice.

"Wir sind eine Oase in der Wüste", sagt Paola Russo. Sie führt durch den Garten, der in den Sommerferien voller Zelte ist, die Freizeitcamps für Jugendliche erfreuen sich großer Beliebtheit. In Urlaub fahren können hier die wenigsten Familien, der Strand in Castel Volturno ist wegen der Giftmüllbelastung fürs Baden gesperrt. Der Garten der Casa di Alice mit seinen alten Bäumen und großen Picknicktischen sei für viele der schönste Freizeitort, den sie kennen, sagt Russo.

Zusammen bilden wir ein Netz des Guten, jeden Tag.

Damiana
Intravaja
Ehrenamtliche in der Casa di Alice

So war es auch für die 22-jährige Damiana Intravaja. Als Zweijährige betrat sie zum ersten Mal die Casa di Alice an der Hand ihrer Tante, die dort in der Kooperative half. Später machte sie dort ihre Hausaufgaben, spielte mit Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft. Als Jugendliche ließ sie sich selbst zur Kinder-und Jugendbetreuerin ausbilden. Gerade zur richtigen Zeit, wie sie findet. "Es waren vor allem ältere Freiwillige vor Ort, die nach vielen Jahren des Engagements ausgebrannt waren", erzählt sie.

"Ich habe ein paar Leute aus der Schule dazu geholt und gemeinsam haben wir für einen Generationswechsel gesorgt." Intravaja und ihre Freund*innen veranstalteten Film- und Diskussionsabende zu den Opfern der Camorra. Und brachten die Freiwil­ligenarbeit als soziale Alternative zum Herumhängen oder einer kriminellen Karriere ins Spiel. An zwei bis drei Tagen in der Woche hilft Intravaja nun neben ­ihrem Studium in der Casa di Alice mit und arbeitet mit den Kindern, so oft es ihr Semesterplan erlaubt. Bedarf gebe es mehr als genug, erzählt sie: "Wir haben zum Beispiel ein kleines Mädchen, deren Mutter von sechs Uhr morgens bis 19 Uhr abends auf den Feldern arbeitet. Sie hat nur uns."

Im Sommer schläft Damiana Intravaja nun wieder im Zelt unter den Bäumen, diesmal als Betreuerin. Sie weiß, dass Initiativen wie Jerry Essan Masslo, die sich mit Projektfinan­zierungen sowie Spenden über Wasser halten, nur einen kleinen Teil der Probleme ihrer Heimatstadt lösen können. Aber sie ist überzeugt, es lohnt sich. "Zusammen bilden wir ein Netz des Guten, jeden Tag." 

Nina Apin ist freie Journalistin und Autorin. Michele Amoruso ist freier Fotograf. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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