Amnesty Journal Georgien 27. Oktober 2023

So hätte auch Russland sein können

Menschen stehen in einem mit Lichterketten geschmückten Raum, an der Wand hängt ein Transparenz mit der Aufschrift "Fuck war"

"Fuck war": Künstler*innen-Treff in Tiflis, Georgien, 2023

In Georgiens Hauptstadt Tiflis bauen sich Kulturschaffende aus Russland ein neues Leben auf. Sie flohen aus ihrer Heimat, weil sie gegen den Krieg sind, ihre Arbeit eingeschränkt wird oder ihr Leben in Gefahr ist.

Von Fabian Schäfer (Text) und Maximilian Gödecke (Fotos)

Die Worte "Slava Ukraini", Ruhm der Ukraine, werden mittlerweile fast weltweit verstanden als Solidaritätsbekundung für das von Russland angegriffene Land. In einer Bar mitten in der Hauptstadt Georgiens sind sie das Passwort fürs Wlan. Der Name des Netzwerks: PutinXuylo – sinngemäß und harmlos übersetzt: "Putin ist ein Arschloch".

Unmissverständlicher kann man nicht klarmachen, auf welcher Seite man steht. Das ist nicht nur in der Dedaena-Bar der Fall. In ganz Tiflis wehen blau-gelbe Flaggen, finden Solidaritätsdemonstrationen statt, sammeln Freiwillige Spenden für das überfallene Land.

Rund eine Million Russ*innen haben das Land verlassen

Bis zu eine Million Russ*innen haben seit dem Krieg gegen die Ukraine ihr Land verlassen – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Junge Männer haben Angst, an der Front verheizt zu werden, regimekritische Kulturschaffende werden bedroht und unterdrückt, Oppositionelle fürchten um ihr Leben. Mehr als 100.000 von ihnen zog es nach Georgien. Das südliche Nachbarland bietet bezahlbare Lebenshaltungskosten, verlangt ein Jahr lang kein Visum, und die Älteren in der ehemaligen Sowjetrepublik verstehen Russisch. Doch die einheimische Bevölkerung ist kritisch: Die Mieten steigen rasant, der Kaukasuskrieg vor 15 Jahren ist längst nicht vergessen. Und manche Russ*innen bringen stereotype Ansichten mit, fühlen sich überlegen.

In Tiflis hat sich in den eineinhalb Jahren seit dem russischen Überfall auf die Ukraine eine russische Parallelwelt etabliert. Nicht nur hochbezahlte IT-Fachkräfte haben ihre Heimat verlassen. Auch Teile der Zivilgesellschaft sind jetzt von hier aus aktiv, um über den Krieg zu berichten, ukrainischen Geflüchteten zu helfen oder über Literatur zu sprechen. Ein beispielloser Braindrain, der die Wirtschaft in Georgien, aber auch in anderen Zielländern wie Armenien oder Kasachs­tan wachsen lässt.

Georgisch lernen, das Gespräch suchen

Viele russische Kulturschaffende fühlen sich wohl in Tiflis, auch die eigenen Landsleute seien hier viel offener. So hätte auch Russland sein können, wenn sich alles in eine andere Richtung entwickelt hätte, hört man. Doch die russische Exil-Kulturszene will nicht nur unter sich bleiben. Die Menschen lernen Georgisch. Aus Respekt, aber auch, weil sie wissen, dass sie wohl so bald nicht mehr zurückkehren können. Anna, 30, sucht deshalb für ihr Literaturcafé nach georgischen Übersetzungen der Romane, über die die bislang überwiegend russischen Besucher*innen ­jedes Wochenende sprechen. "Wir wollen miteinander ins Gespräch kommen. Es braucht einen Ort für Menschen, die ähnlich fühlen."

Ein mittelalter Mann sitzt auf einem Stuhl vor einer Wand, er trägt eine Brille.

Danil, Journalist (Tiflis, Georgien, 2023)

Die Sprachbarriere will auch der 45-jährige Journalist Danil überwinden. Er schreibt für das zweisprachige lokale ­Online-Magazin "Paper Kartuli", das Russ*innen und Georgier*innen zusammenbringen will: "Wir wollen, dass sich Russ*innen mehr für das interessieren, was in Tiflis los ist", sagt er. In der Bar, die er im Keller der Redaktion betreibt, klappt das bereits: Hier treffen sich abends oppositionelle Medienschaffende und Aktivist*innen.

Ein junger Mann, kurzes blaugefärbtes Haar, die Augen geschlossen, Oberkörper nackt, Tatoos auf dem Körper, er reibt sich mit der rechtenHand das rechte Auge.

Artur, 23, Koch

Der Kasache Artur, 23, kam für seine Ausbildung als Koch nach Jekaterinburg. Dort eröffnete er eine vegane Bäckerei, die kollektiv organisiert war und als Treffpunkt von ­Regimekritiker*innen bekannt war. "Eines Tages rief mich die Polizei an, die mich für einen ­Extremisten hält. Ich würde aus Russland ausgewiesen. Wenn ich das Land nicht freiwillig ­verlasse, würde ich in Abschiebehaft kommen." In Tiflis gründete er mit Mitstreiter*innen das Restaurant "Shpana", in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen ­überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. "Ich kann mir ein Leben ohne Aktivismus nicht vorstellen. Wir wollen die vegane Küche in Georgien bekannter machen und einen Raum für ­linke Gruppen bieten. Alle Trinkgelder spenden wir an die Ukraine."

Eine junge Frau im Mantel steht auf einer Plattform im Freien, im Hintergrund eine Stadt.

Agatha, Modedesign-Studentin

Der russische Inlandsgeheimdienst FSB bedrohte und observierte Agatha, 22, weil ihr Vater in der Opposition engagiert ist. "Am 24. Februar 2022 hat mich mein Vater angerufen. Es war sofort klar, dass wir nicht in Moskau bleiben können." Die Modedesign-Studentin engagiert sich in einer georgischen Ehrenamtsgruppe auf Telegram, zum Beispiel im Umweltschutz.

Eine Frau mit Jutebeutel über der Schulter steht in einem Säulengang.

Miteinander ins Gespräch kommen: Die russische Exilkünstlerin Anna organisiert Literaturabende in Tiflis

Durch Literatur zusammenkommen, das ist Annas großes Ziel. Die 30-Jährige veranstaltet ein ­Literaturcafé in ihrer Wahlheimat Tiflis. Über ausgewählte Romane und passende Fragen ­kommen die Besucher*innen miteinander ins Gespräch und reflektieren ihr eigenes Erleben. Vor allem Russ*innen unter 30 kommen jedes Wochenende, doch Anna sucht schon lange ­georgische Übersetzungen der Romane, um Georgier*innen anzusprechen. "Es entstehen ­immer spannende Diskussionen über Liebe, Freundschaft oder das Verhältnis der ­Geschlechter. Und wir sammeln Spenden, mit denen wir die Ukraine unterstützen." Bei jedem Treffen ­kommen so umgerechnet etwa 70 bis 130 Euro zusammen. "Das ist zwar nicht sehr viel, aber immerhin eine regelmäßige Unterstützung."

Eine junge Frau beugt sich über einen Tisch, darauf ein beleuchteter Kasten, in dem eine kleine Kulisse ist, vor der Figuren sind, ein Mini-Theater, die Frau trägt beim Verrücken der Figuren einen Gummihandschuh.

Polina, 29, Theatermacherin

Die Theatermacherin Polina, 29, kam mit besonderem Gepäck aus Sankt Petersburg nach Tiflis: ein kleines Figurentheater. Das brachte sie auch zu ukrainischen Waisenkindern aus Cherson, die aus der Ukraine geflohen sind. "Am Anfang hatte ich total Angst, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Ich kannte den krassen Hintergrund der Kinder, dass ich aus Russland bin, war aber gar kein Problem. Wir haben ein kleines Stück mit den Puppen kreiert. Alles war voller ­Liebe und Hoffnung und Verspieltheit."

Fabian Schäfer ist freier Journalist. Maximilian Gödecke ist freier Fotograf. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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