Amnesty Journal 15. Juni 2020

Humanität bleibt auf der Strecke

Eine Frau sitzt vor einer bunt bemalten Wand an einer Nähmaschine und näht rote Atemschutzmasken mit schwarzem Gummizug.

Von Tampere zum neuen Migrationspakt der EU-Kommission: Droht ein Abschied von der gemeinsamen europäischen Asylpolitik?

Ein Kommentar von Franziska Vilmar

Wenn es um die Flüchtlingspolitik in der EU geht, kreist alles um den Begriff des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Gibt oder gab es dieses gemeinsame System tatsächlich? Steht es nur auf dem Papier oder nicht einmal mehr das?

Die fortschreitende Harmonisierung verschiedener Politikbereiche in der EU machte Ende der neunziger Jahre auch vor dem Asylrecht nicht Halt. Im Jahr 1999 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs im finnischen Tampere, sich auf den Weg zu einem einheitlichen Asylrecht in der EU zu machen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass gerade ein Krieg in Europa Hunderttausende von Menschen aus Ex-Jugoslawien zu Flüchtlingen gemacht hatte.

Die anschließend von der EU-Kommission vorgeschlagenen Mindestnormen für ein gemeinsames Asylverfahren, einen einheitlichen Flüchtlingsstatus und angemessene Aufnahmebedingungen wurden 2004 verabschiedet. Ob Schutzsuchende in Schweden oder in Griechenland Asyl beantragten, sollte fortan keinen Unterschied mehr machen. Diese Entwicklung war ein Meilenstein, um den Flüchtlingsschutz innerhalb Europas zu stärken. Die Europäische Kommission wurde von Flüchtlingsverbänden als Fürsprecherin verfolgter Menschen wahrgenommen.

Flankiert von der Dublin-II-Verordnung aus dem Jahr 2003 gab es auch Vorgaben dazu, welcher Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig ist. Doch die Verordnung wurde vor allem von den Außengrenzstaaten als ungerecht bezeichnet. Schließlich lag die Hauptzuständigkeit für das Asylverfahren beim Land der ersten Einreise eines Schutzsuchenden – häufig genug Griechenland oder Italien. 

Reste der zuvor oft beklagten "Asyllotterie" blieben bestehen. Hinzu kam, dass die der EU in den Erweiterungsrunden von 2004, 2007 und 2013 beigetretenen Staaten kaum Erfahrung mit der Aufnahme von Flüchtlingen hatten. Aber auch die traditionellen Mitgliedstaaten setzten die neuen Richtlinien nur halbherzig um. Und so galt die Unterbringung in Italien als Katastrophe. In Griechenland blieb das Asylverfahren dysfunktional. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs von 2011 waren die Zustände für Schutzsuchende in dem Land so menschenunwürdig, dass Dublin-Rücküberstellungen nach Griechenland Menschenrechte verletzten.

Syrien und Libyen

Diese und weitere Missstände sollten in der zweiten Harmonisierungsrunde – unter Beteiligung des Europäischen Parlaments – angegangen werden. Im Jahr 2013 wurden aus Mindestnormen gemeinsame Standards, jedenfalls auf dem Papier. Die EU-Staaten konnten sich jedoch in zwei Punkten weiterhin nicht einigen: Wie sieht eine gerechte Verantwortungsteilung für Schutzsuchende in der EU aus, und wie schaffen wir ausreichende legale und sichere Einreisemöglichkeiten für Schutzsuchende und Migranten?

Sowohl der Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien als auch der Sturz Gaddafis in Libyen lösten im Jahr 2011 Flucht- und Migrationsbewegungen aus. Spätestens seit 2012 nahm die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland und Europa zu. Neben Syrien blieben auch der Irak und Afghanistan als Herkunftsländer relevant. Die völlig unzureichende humanitäre Unterstützung sowie fehlende Perspektiven in den Erstaufnahmestaaten der Krisenregionen trugen zu Flucht und Migration nach Europa im Jahr 2015 bei. Und so war die letzte Reform des Asylsystems in vielen Mitgliedstaaten noch nicht umgesetzt, als in Europa zwei Jahre in Folge jeweils mehr als 1,2 Millionen Asylanträge gezählt wurden.

Die Auswirkungen sind bekannt: Seit 2016 beherrschen flüchtlingsfeindliche Diskurse die Medien und die Politik, der EU-Türkei-Deal wurde geschlossen, um die Fluchtroute über das östliche Mittelmeer zu verriegeln, die Kooperation mit der libyschen Einheitsregierung dient zur Abschottung der zentralen Mittelmeerroute. Die Zusammenarbeit Spaniens mit Marokko hat das Ziel, auch die Flucht über die spanischen Enklaven in Nordafrika oder die Straße von Gibraltar unmöglich zu machen. Menschenrechte bleiben bei dem Ziel, Fluchtbewegungen nach Europa drastisch zu reduzieren, auf der Strecke. Man könnte behaupten, das gemeinsame europäische Asylsystem sei nicht für große Zahlen von Schutzsuchenden gemacht. Hektisch wurde 2016 eine dritte Reform gestartet, die ohne Abschluss blieb.

Solidarität beim Flüchtlingsschutz lässt sich eben nicht auf dem Gerichtsweg durchsetzen – eines der Kernprobleme des gemeinsamen europäischen Asylsystems.

Franziska
Vilmar
Amnesty-Referentin für Asylpolitik und Migration

Man könnte aber auch feststellen, dass einige Mitgliedstaaten das geltende EU-Recht schlicht ignorieren. Polen, Ungarn und Tschechien verweigern ihre Solidarität mit Schutzsuchenden, indem sie die mehrheitlich beschlossene Umverteilung geflüchteter Menschen aus Griechenland und Italien innerhalb Europas ignorieren. Anfang April 2020 hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass diese drei Länder gegen Europarecht verstoßen. Die Entscheidung hat allerdings reine Symbolkraft. Solidarität beim Flüchtlingsschutz lässt sich eben nicht auf dem Gerichtsweg durchsetzen – eines der Kernprobleme des gemeinsamen europäischen Asylsystems.

Einige meinen, es seien die geflüchteten Menschen, die sich unerlaubt innerhalb Europas fortbewegten und die Funktionalität des Systems unterminierten. Wäre die Anerkennung eines Flüchtlings durch einen Mitgliedstaat jedoch eine europaweit akzeptierte Entscheidung und könnten sich anerkannte Flüchtlinge dort niederlassen, wo sie Arbeit finden, gäbe es deutlich weniger Anreize für Weiterwanderungen während des Asylverfahrens – vorausgesetzt, es wird fair und zügig durchgeführt. Für diese schnellere Freizügigkeit nach dem Asylverfahren setzt sich Amnesty International schon lange ein.

Neue Formen der "Solidarität"

Vielleicht ist die Dublin-Verordnung, die – zumal in ihrer fehlerhaften Anwendung in etlichen Mitgliedstaaten – unbrauchbar für die Festlegung der Zuständigkeit für das Asylverfahren. Wären die Menschen 2015 schnell und gerecht auf die verschiedenen EU-Länder verteilt und ihr Asylverfahren dort zügig bearbeitet worden, hätten die Rechtspopulisten möglicherweise kein leichtes Spiel gehabt.

All diese Fragen will die EU-Kommission mit einem "neuen Migrationspakt" beantworten. Nachdem es zuletzt nur Konsens für mehr Außengrenzschutz und mehr Migrationskooperation mit Transitstaaten zur Flüchtlingsabwehr gab, ist damit zu rechnen, dass man einige EU-Mitgliedstaaten aus der Verantwortung für den aktiven Flüchtlingsschutz entlässt und neue Formen der Solidarität definiert. Finanzielle Beiträge oder verstärkte Abschiebungen statt aktiver Aufnahme schutzsuchender Menschen.

Die Diskussionsvorschläge Deutschlands und anderer Mitgliedstaaten, die seit Ende 2019 in den europäischen Hauptstädten kursieren, lassen Schlimmes befürchten. Mehr Hotspots an den EU-Außengrenzen nach dem "Vorbild" der auch von Amnesty International immer wieder heftig kritisierten Lager auf den griechischen Inseln mit allen unbeantworteten Fragen zum Thema Haft oder Rechtsschutz dürfen unter keinen Umständen eine Lösung für die Krise der europäischen Asylpolitik sein.

Der Bundesregierung, die ab dem 1. Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, stünde es gut an, sich von den grundlegenden Werten der EU und von ihren positiven Erfahrungen bei der Flüchtlingsaufnahme leiten zu lassen, wenn erneut über das europäische Asylsystem verhandelt wird.

Franziska Vilmar ist Amnesty-Referentin für Asylpolitik und Migration.

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