Amnesty Journal Deutschland 07. März 2024

Auch von hier aus die Wahl haben

Eine Frau spricht zu einer Menschenemenge, sie erhebt den rechten Zeigefinger, dei Menge jubelt ihr zu, macht Fotos, Transparente werden hochgehalten.

Hat die Vorwahl der Opposition gewonnen: María Corina Machado (Maracay, September 2023)

Mangelversorgung, humanitäre Katastrophe, harte Repression: Millionen Venezolaner*innen haben das südamerikanische Land verlassen, ein paar Tausend hoffen in Deutschland auf Asyl. Doch es drohen Abschiebungen.

Von Sebastian Lupke

Wenn im zweiten Halbjahr 2024 in Venezuela die nächste Präsidentschaftswahl stattfindet, kann die beliebteste Oppositionspolitikerin womöglich nicht antreten. Aus der Vorwahl der Opposition, den sogenannten Primarias, ging im Oktober 2023 die Politikerin María Corina Machado als haushohe Siegerin hervor und wäre damit automatisch die Gegenkandidatin zum amtierenden autokratischen Präsidenten Nicolás Maduro.

Eine wirklich freie und faire Wahl würde sie voraussichtlich klar gewinnen, und deswegen wird es dazu wohl nicht kommen. Nur Tage, nachdem sie ihre Kandidatur verkündet hatte, wurde sie von der Wahlbehörde aufgrund fadenscheiniger Vorwürfe für alle politischen Ämter gesperrt. Behörden drohten mehreren Mitgliedern des oppositionellen Wahlkomitees mit strafrechtlichen Anklagen, ein Mitglied wurde mehrere Tage lang willkürlich inhaftiert.

Supermarktregale leer, Landeswährung fast wertlos

Argelr Vasquéz und Yolanda Forero kennen diese Art der Repression gut. In Venezuela waren die beiden Aktivist*innen ständiger Überwachung, Bedrohungen und einem Entführungsversuch ausgesetzt. Gemeinsam mit ihren Kindern lebt das Ehepaar jetzt in der sächsischen Kleinstadt Flöha, nahe Chemnitz, im Exil. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte ihren Asylantrag zunächst ab, das Verwaltungsgericht Chemnitz sprach ihnen jedoch nach einem aufreibenden Verfahren endlich den Flüchtlingsschutz zu.

Um auch geflohenen Venezolaner*innen die Teilnahme an den Primarias zu ermöglichen, meldeten sich Vasquéz und Forero im Herbst als freiwillige Wahlkoordinator*innen für ein Wahlbüro in Berlin. "Die Regierung unternimmt alles Mögliche, um zu verhindern, dass Machado als Präsidentschaftskandidatin antritt. In diesem Jahr werden Repression und Einschüchterungen gegenüber der Bevölkerung noch weiter zunehmen, damit sie für Maduro stimmt", sagt Forero. "Wir Venezolanerinnen und Venezolaner werden unsere Stimme erheben, um uns Gehör zu verschaffen und zu fordern, dass unsere Wahlzettel in jedem Winkel der Welt gezählt werden!"

Als wären Unterdrückung, willkürliche Inhaftierungen und Hunderte politische Gefangene nicht bereits genug, leidet Venezuela auch unter einer humanitären Katastrophe. Die Wirtschaft ist genauso zusammengebrochen wie das Gesundheitssystem, Medikamente sind kaum noch erhältlich, die Supermarktregale sind leer, und die Landeswährung ist so gut wie nichts wert. Millionen Menschen haben in den vergangenen Jahren Venezuela verlassen, selbst im fernen Deutschland wurden 2023 mehr als 3.700 Asylanträge von Venezolaner*innen registriert, mehr als jemals zuvor. Seit Jahren werden nahezu alle in Deutschland asylsuchenden Venezolaner*innen im Freistaat Sachsen untergebracht.

Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch vor einem Dokument, hinter ihm hängen zwei Flaggen, die venezolanische und die deutsche.

Engagiert sich in Deutschland für Teilhabe in Venezuela: Argelr Vasquéz

Doch nicht alle haben so viel Glück wie Argelr und Yolanda. Nur noch jeder fünfte Asylantrag von Venezolaner*innen hat beim BAMF Erfolg. Der von Otman Quintero gehörte nicht dazu. Auch Quintero war in der Opposition aktiv, organisierte Workshops an seiner Universität und wurde bespitzelt. Nach einer Razzia der Geheimpolizei SEBIN im Haus seiner Familie floh er nach Deutschland und lebt nun in einer Kleinstadt in Mittelsachsen. Nach dem BAMF lehnte auch das Verwaltungsgericht seinen Asylantrag ab, doch aufgeben wird er nicht: "Eine Rückkehr nach Venezuela ist für mich keine Option, denn die Gefahr, die mir dort droht, ist real. Ich werde weiterkämpfen."

Quintero hat Medizin studiert, schloss bereits einen Deutschkurs ab und bemüht sich um eine Approbation in Deutschland, um auch hier als Arzt arbeiten zu können. Die Ablehnung seines Asylantrags versteht er nicht: "Sind eine Razzia ohne Durchsuchungsbeschluss und ständige Drohungen etwa kein Anzeichen für politische Verfolgung?"

Beliebige Entscheidungen

Auch der Fall von Alexander Saavedra zeigt, wie verbreitet Repression in Venezuela ist. Im Januar 2019, als nach der international nicht anerkannten Wiederwahl Maduros die Proteste in Venezuela eskalierten und die Gewalt gegen Demonstrierende ihren bisherigen Höhepunkt erreichte, organisierte Saavedra als Studierendenvertreter eine Protestveranstaltung in der Hauptstadt Caracas. Am darauffolgenden Morgen stürmte die Geheimpolizei das Haus seiner Familie und drohte, man werde Alexander töten, wenn man ihn finde. Er übernachtete damals an einem anderen Ort, andernfalls wäre eine Begegnung mit dem SEBIN wohl gefährlich geworden. Sicherheitskräfte töteten seinerzeit Dutzende Regierungsgegner*innen, Tausende wurden inhaftiert.

Ein Tisch bei einer Wahlabstimmung, eine Box mit einem Schlitz steht darauf, mehrere Menschen stehen und sitzen um den Tisch und lächeln.

Engagiert sich in Deutschland für Teilhabe in Venezuela: Yolanda Forero (2. v. r.)

Saavedra arbeitet inzwischen beim Chemnitzer Verein AGIUA in einem Projekt zur Stärkung der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe von Migrant*innen. Eine möglichst hohe Wahlbeteiligung der venezolanischen Exilgemeinden für die Präsidentschaftswahl bedeutet ihm viel, auch wenn Skepsis in seinen Worten mitschwingt: "Die Diktatur versucht nicht nur, möglichst viele Stimmen zu gewinnen, sondern auch, die Wähler der Opposition zu demotivieren oder Hindernisse für ihre Wahlteilnahme zu schaffen. Das wird sich auch dieses Mal nicht ändern. Sie werden nach allen möglichen Wegen suchen, um die Wahlbeteiligung der Venezolaner im Ausland zu verhindern oder zu erschweren, da diese mit überwältigender Mehrheit das System Maduro ablehnen."

Auch Saavedras Asylantrag wurde ­zunächst vom BAMF abgelehnt, das Verwaltungsgericht sah das jedoch später anders und sprach ihm den Flüchtlingsschutz wegen staatlicher Verfolgung zu.
Warum die nahezu gleichen Verfolgungsgründe im einen Fall zur Asylgewährung führen, im anderen jedoch nicht, bleibt das Geheimnis des Chemnitzer Verwaltungsgerichts. Aus dieser Beliebigkeit der Entscheidungen resultiert eine starke Verunsicherung der venezolanischen Community in Sachsen.

Umso mehr, als der Freistaat 2023 erstmals seit Jahren wieder Abschiebungen nach Venezuela vornahm. Der Sächsische Flüchtlingsrat dokumentierte acht Abschiebungen nach Venezuela sowie mehrere fehlgeschlagene oder abgebrochene Abschiebeversuche. Amnesty International fordert wegen der katastrophalen politischen wie humanitären Lage einen sofortigen Abschiebungsstopp in das Land.

Sebastian Lupke ist Mitglied der ­Amnesty-Länderkoordinationsgruppe Venezuela und ­Chile von Amnesty Deutschland.

HINTERGRUND

Annexion von Esequibo

Im Dezember 2023 führte Venezuela ein Referendum über die Annexion von Esequibo durch. Dabei handelt es sich um ein Territorium, das an der Ostgrenze des Landes liegt und völkerrechtlich zum Nachbarstaat Guyana gehört. Nach Regierungsangaben sprach sich eine große Mehrheit für die Annexion aus, damit steigt die Gefahr eines bewaffneten Konflikts. Die Regierung konnte bisher aber keine offiziellen Wahlergebnisse vorlegen, vielmehr häufen sich Berichte über nahezu verlassene Wahllokale.

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