Amnesty Journal 31. Mai 2022

Denker fragen: Thomas Elbert

Ein Mann mit Halbglatze trägt Bart, Jeans, Hemd und einen V-Ausschnitt-Pullover, er sitzt auf einer Bank direkt vor einer Fensterfront im Innern eines Gebäudes.

Thomas Elbert ist Spezialist für Traumaforschung und arbeitete in zahlreichen Konfliktgebieten.

Zahlreiche Menschen in Kriegs- und Krisengebieten erleiden Traumata. Was bedeutet es für eine Gesellschaft , wenn diese nicht behandelt werden? Ein Interview mit Thomas Elbert, Spezialist für Traumaforschung.

Interview: Uta von Schrenk

Der Zweite Weltkrieg, die Kriege in Ruanda, auf dem Balkan und nun in der Ukraine: Immer wieder kommt es zu Kriegsverbrechen. Was heißt es, ein Massaker oder eine Massenvergewaltigung zu überleben?

Kriegsverbrechen können die betroffenen Menschen zerstören. Einer Patientin, die nachts im Park vergewaltigt wurde, kann man in der Therapie sagen, dass sie sicher ist, wenn sie den Park nachts künftig meidet. Sie kann sich durch zeitliche und räumliche Zuordnung des schrecklichen Geschehens vom erlebten Trauma erholen. Doch im Krieg gibt es keinen sicheren Ort, keine sichere Zukunft. Diese ständige Gefahrenlage bricht früher oder später jede Widerstandskraft.

Was heißt das konkret?

Traumatisierte wachen nachts schreiend auf, sind ständig erschöpft, bedroht, immer wieder im Alarmzustand. Das vernichtet, wenn keine Bearbeitung des Horrors erfolgt.

Was muss eine Traumabehandlung leisten?

Die psychotherapeutische Behandlung hilft den Patientinnen und Patienten zu unterscheiden, ob das Gedächtnis eine Bedrohung signalisiert, die eigentlich nicht ins "Hier" und "Jetzt" gehört, oder ob es sich um eine reale akute Bedrohung handelt.  Diese Anforderung können Überlebende in weniger als zehn Sitzungen bewältigen lernen.

Bekommen die betroffenen Geflüchteten, die aus Konfliktgebieten zu uns gekommen sind, diese Hilfe?

Für die angemessene Versorgung traumatisierter Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien und nun der Ukraine zu uns gekommen sind, ist unser Gesundheitssystem nicht ausgebaut. Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass einer von drei Betroffenen professionelle Hilfe benötigen wird. Für eine posttraumatische Belastungsstörung bekommt man aber meist kein Angebot für eine wirksame Therapie.

Für die angemessene Versorgung traumatisierter Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien und nun der Ukraine zu uns gekommen sind, ist unser Gesundheitssystem nicht ausgebaut.

Gibt es keine Abhilfe?

Mit unserer Arbeit in verschiedenen Krisenregionen konnten wir zeigen: Man hilft den Betroffenen, indem das Leid, die damit verbundenen Gedanken und Gefühle dokumentiert und der Allgemeinheit rückgemeldet werden. Es geht nicht nur darum, Fakten zu vermitteln, sondern auch zu propagieren, was die Opfer während der Tat gedacht, gefühlt und gespürt haben. Dies hat mehrere positive Effekte: Die Betroffenen fühlen sich verstanden, in der Community wird Verständnis gefördert, und die Stigmatisierung damit reduziert. Das lindert Leiden und kann begrenzt individuelle Therapie ersetzen.

Was bedeutet es für eine Gesellschaft , wenn Traumata nicht behandelt werden?

Eine Gemeinschaft kann nur einen gewissen Anteil traumatisierter Mitglieder verkraften, bevor sie als Ganzes funktionsuntüchtig wird. Im Südsudan und Ostkongo gibt es Dörfer, in denen 20 oder 30 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner erheblich traumatisiert sind. Diese Gesellschaften brechen zusammen, auch ökonomisch, weil zu viele Menschen dort ihrem Alltag und ihrer Arbeit nicht gewachsen sind.

Können Massaker oder Massenvergewaltigungen im Krieg überhaupt verhindert werden?

Da sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Wir erleben derzeit zwei Dutzend Kriege auf der Welt, und ich kann nicht erkennen, dass irgendwo ein Konflikt nach internationalen Vereinbarungen geführt würde. An der Front kommt es immer wieder zu Gräueltaten, das ist schrecklicherweise so. Was ich mich aber immer wieder frage, ist: Was geht nur in den Köpfen derjenigen vor, die sich solche Grausamkeiten am Schreibtisch und im Labor ausdenken, die Streubomben konstruieren und den Einsatz von Folter planen?

Uta von Schrenk ist Redakteurin des Amnesty Journals.

ZUR PERSON

Thomas Elbert

Emeritierter Professor für Klinische Psychologie und Verhaltensneurowissenschaften an der Universität Konstanz und Honorarprofessor an der Université Lumière in Burundi. Er ist Spezialist für Traumaforschung und Psychobiologie der Gewalt- und Tötungsbereitschaft. Er arbeitete in zahlreichen Konfliktgebieten, darunter Afghanistan, DR Kongo, Ruanda, Somalia, Uganda und Sri Lanka. Dort entwickelte er mit Kolleg_innen die "Narrative Expositionstherapie" und Interventionen, bei denen die Community in die Traumabehandlung Betroffener einbezogen werden.

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