Amnesty Journal 19. Oktober 2021

Amnesty-Mitbegründer Gerd Ruge: "Wunderbar, dass es sich so entwickelt hat"

Das Bild zeigt das Porträt eines älteren Mannes

War glücklich, als er anfangs für Amnesty 100 bis 150 Menschen zusammenbrachte: Journalist und Amnesty-Mitbegründer Gerd Ruge im Jahr 2014.

Gerd Ruge war 1961 an der Gründung von Amnesty ­International beteiligt. Ohne ihn wäre Amnesty in ­Deutschland wohl nicht das geworden, was es heute ist. Am 15. Oktober 2021 starb der Journalist im Alter von 93 Jahren.

Von der Journal-Redaktion

Es war ein unangekündigter Besucher, der aus dem engagierten Journalisten Gerd Ruge einen Menschenrechtsaktivisten machen sollte. Im Juni 1961 fand in Köln das Sommerfest des Kongresses für die Freiheit der Kultur statt. "Es klingelte an der Tür und Eric Baker kam herein, ein Freund von Amnesty-Gründer Peter Benenson aus London", erinnerte sich Ruge später. "Er erzählte uns von Benensons Appell für die Freilassung politischer Gefangener. Auf dem Fest waren viele Schriftsteller_innen und Journalist_innen, die sich für Meinungsfreiheit und für die Menschenrechte einsetzen wollten. Noch in derselben Nacht ­beschlossen wir, die deutsche Sektion zu gründen. Die Zeit war reif, etwas zu tun."

Mit dem Mauerbau wenige Wochen später erreichte der Kalte Krieg einen neuen Höhepunkt. Die Gegensätze zwischen Ost und West hatten sich immer weiter verschärft, das Misstrauen nahm stetig zu. "Gleichzeitig gab es aber viele Menschen, die politischen Gefangenen und Menschen in Gefahr helfen wollten, ohne sich von der einen oder anderen Seite instrumentalisieren zu lassen. Da kam die Idee aus London genau richtig". Diese Idee war neu und besagte, dass jede Amnesty-Gruppe drei politische Gefangene betreuen sollte: Einen aus dem Ostblock, einen aus dem Westen und einen aus einem Land der sogenannten Dritten Welt.

 

YouTube-Video: Interview mit Gerd Ruge aus dem Jahr 2011

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Amnesty schien wie für Ruge gemacht: "Es war das erste Mal, dass ich mich bei einer Organisation wohlfühlte, denn es war ein Verein, der weder links noch rechts war, weder kommunistisch noch antikommunistisch, und der sich nicht nur gegen Rassismus einsetzte, sondern dafür, dass Menschen frei leben, denken, arbeiten und ihr Schicksal selbst aussuchen konnten".

Der am 9. August 1928 in Hamburg geborene Ruge erlebte als Jugendlicher den Nationalsozialismus und wurde kurz vor Kriegsende als Soldat eingezogen. Themen wie Freiheit und Humanismus bewegten ihn schon in jungen Jahren: "Die Antworten, die man in der NS-Zeit bekam, waren vollkommen unbefriedigend. Und ich wollte mir nicht von oben in meinen Kram reinreden lassen." Diese Erfahrungen teilte er mit den meisten anderen deutschen Gründungsmitgliedern, die den Nationalsozialismus oder die Diktatur in der DDR erlebt hatten: "Der Umgang mit den autoritären Zwangssystemen hatte viele von uns geprägt und auch die Notwendigkeit deutlich gemacht, etwas wie Amnesty zu schaffen". Ihnen ging es nicht um Ideologien, sondern um Menschen.

Als Ruge im Sommer 1961 auf Eric Baker traf, war er als Journalist bereits bekannt. 1950 berichtete er aus Jugoslawien – als erster westdeutscher Journalist nach dem Krieg; von 1956 bis 1959 war er der erste Korrespondent der ARD in Moskau. Dem Amnesty Journal sagte er im Jahr 2008: "Ich war 16, als der Krieg zu Ende war. Als Reporter zu arbeiten, war damals die einzige Möglichkeit, aus Deutschland rauszukommen – und das wollte ich."

Ruge wurde zu einem bedeutenden deutschen Fernsehjournalisten. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang berichtete er uneitel und ohne viel Pathos über die großen Ereignisse und Persönlichkeiten seiner Zeit, verlor dabei aber auch nie die Menschen jenseits der Macht aus dem Blick. Er war Reporter in den USA, als Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden, berichte von den Kriegen in Korea und Vietnam, aber auch aus China, als die Regierung die Proteste auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" niederschlug. Er war erneut in Moskau, als Gorbatschow die Perestroika einleitete und das Militär einen Putschversuch unternahm.

Das Bild zeigt einen Mann der an einer gelben Aufstellwand mit Amnesty-Branding steht. Er lächelt in die Kamera.

Gerd Ruge, Mitbegründer der deutschen Amnesty-Sektion, bei der Gala zum 50-jährigen Bestehen von Amnesty International am 27. Mai 2011 in Berlin

Während seiner journalistischen Laufbahn erlebte Ruge immer wieder die Folgen von Verfolgung und Unterdrückung, so zum Beispiel in den 1960er Jahren in den USA, als die Regierung die Bürgerrechtsbewegung schikanierte. 1956 freundete er sich in mit dem russischen Schriftsteller Boris Pasternak an, der bei der KPdSU in Ungnade gefallen war. Auch Ruge geriet ins Visier des KGB. Dem Tagesspiegel erzählte er 2011: "Später lernte ich einen ehemaligen KGB-Mann kennen, der sagte: 'Sie waren unser schlimmster Fall! Wenn wir Ihre Wohnung durchsuchten, da war eine solche Unordnung, man brauchte Stunden, um etwas zu finden!’ Ich konnte darüber lachen."

"Staaten wurden vorsichtiger"

Die Anfangsphase der deutschen Amnesty-Sektion verlief chaotisch, schließlich betraten alle Gründungsmitglieder Neuland: "Wir wussten nicht einmal, wer die Kasse führen sollte", berichtete Ruge. Doch mit Hartnäckigkeit, Fleiß und Kreativität gelang es, weitere Mitglieder zu gewinnen und Spender zu finden. Die junge Organisation hatte mit Rückschlägen zu kämpfen, konnte aber auch schon früh Erfolge feiern. Der internationale Druck, den verschiedene Amnesty-Sektionen gemeinsam aufbauten, zeigte Wirkung: "Staaten wurden vorsichtiger bei den Verhaftungen von politischen Gegnern und sie ließen etwas mehr Meinungsfreiheit zu. Denn der Ärger im Ausland, der durch Amnesty entstand, war allen Staaten peinlich".

Ruge wurde der erste Vorsitzende der deutschen Sektion und nahm an der internationalen Amnesty-Gründungssitzung im Herbst 1961 in Luxemburg teil. Bis er 1964 als ARD-Korrespondent nach Washington umzog, prägte er das Profil der deutschen Sektion, wie sich Mitbegründerin Carola Stern (1925–2006) bei einem Amnesty-Kongress 1999 erinnerte.

Amnesty-Tweet zum Tod von Gerd Ruge:

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Dass Ruge und seine Mitstreiter_innen den Grundstock legen würden für die weltweit größte Menschenrechtsorganisation, war damals nicht abzusehen: "Niemand hat sich vorstellen können, dass wir eine Millionenbewegung würden. Wir waren ja schon glücklich, wenn wir in den Anfangsjahren in Deutschland 100 bis 150 Menschen zusammenbrachten. Und eben nicht nur Journalist_innen wie wir, sondern Leute aus verschiedenen Berufen und Teilen der Gesellschaft. Es ist wunderbar, dass es sich so entwickelt hat durch all die vielen Menschen, die mitgearbeitet und Ideen eingebracht haben."

Auch nach seiner Zeit als Vorsitzender blieb Ruge Amnesty verbunden und verfolgte die Entwicklung der Organisation aufmerksam. Bei den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen von Amnesty im Jahr 2011 nahm er teil und blickte in Interviews, Pressekonferenzen und Podiumsveranstaltungen auf die turbulenten Anfangsjahre zurück. Den Mitgliedern wünschte er "viel Glück": "Vor ihnen liegt viel Arbeit, denn die Welt wird sich nicht ändern. Deswegen ist Weitermachen das Wichtigste. Und dass man sich weiterhin einsetzt für die Freiheit. Für Meinungsfreiheit, für politische Freiheit, für die Freiheit von Angst und Verfolgung. Freiheit ist die Grundlage von allem. Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts."

Gerd Ruge ist am 15. Oktober im Alter von 93 Jahren gestorben. "Seine welterfahrene Art und sein leidenschaftlicher Einsatz für die Menschenrechte werden uns schmerzhaft fehlen", sagt Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.

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