Amnesty Journal 26. Februar 2024

Empathisches Kino der Menschenrechte

Eine mittelalte Frau mit schulterlangem Haar trägt ein Pflaster auf der Stirn, sie hält den Kopf eines Mädchens in ihren Händen, das Mädchen hat die Stirn verbunden mit einem Verband.

Existenzielle Zwickmühlen: Szene aus "The Strangers´ Case" (2024)

Bei den Berliner Filmfestspielen hat das Fluchtdrama "The Strangers' Case" den Amnesty-International-Filmpreis gewonnen. Zwei lobende Erwähnungen vergab die Jury an die Filme "Intercepted" und "Raíz".

Von Jürgen Kiontke

Die Chirurgin Amira (Yasmine Al Massri) betreut zwei Notfallpatienten gleichzeitig, und diese hassen sich zutiefst. Obwohl vor Schmerzen schreiend, fuchteln sie mit ihren Waffen herum. Noch im Operationssaal muss die Ärztin verhindern, dass einer den anderen umbringt.

Szenen voller Gewalt erlebt sie oft im Krankenhaus. Es herrscht Bürgerkrieg, und Amira arbeitet im syrischen Aleppo; jener Stadt, die traurige Berühmtheit erlangte, weil sie infolge der Kämpfe zwischen Milizen und Regierungstruppen völlig zerstört wurde. Amira hat genug. Weil sie für sich und ihre Familie keine Zukunft mehr sieht, beschließt sie zu fliehen.

Der Wagen, in dessen Kofferraum sie sich mit ihrer Tochter versteckt, wird an einem Checkpoint angehalten. Der Mann vom Geheimdienst befiehlt der Wache, auf das Heck des Wagens zu schießen. Doch der Soldat Mustafa (Yahya Mahayni) hat genug vom Töten unschuldiger Menschen. In einer Rückblende ist zu sehen, dass seine Truppe den ganzen Tag über nichts anderes getan hat. Mit dem Gewehr im Anschlag wird ihm klar: Egal, wie er sich entscheidet – schuldig wird er auf jeden Fall.

Existenzielle Zwickmühlen

"The Strangers' Case" (JOR 2024), das "Los des Fremden", heißt der Film, in dem Menschen angesichts von Krieg und Vertreibung immer wieder in existenzielle Zwickmühlen geraten. Grandios verknüpft Regisseur Brandt Andersen die Geschichten seiner Figuren, die später in einem maroden Schlauchboot wieder aufeinandertreffen, mit dem sie nach Europa übersetzen wollen. Der Schlepper Marwan (Omar Sy), selbst geflohen, braucht Geld für die ärztliche Behandlung seines Sohns. Die Medizinerin Amira und ihre Tochter haben einen Platz ergattert, und auch der desertierte Soldat ist dabei, der getötet hat, um Amira zu retten. Und Stravros (Constantine Markoulakis), der Kapitän eines Boots der griechischen Küstenwache, wird sie alle retten.

Durch unerwartete Wendungen kehrt der Film immer wieder zu Amira und ihrer Tochter zurück, sie sind die Fixpunkte in dieser dramatischen Erzählung, die das Schicksal ihrer Figuren kunstvoll verschränkt. Andersen hat "The Strangers' Case" glänzend besetzt, unter anderem mit dem französischen Schauspielstar Omar Sy, und das Thema Flucht auf die große Leinwand gebracht.

"In diesem Drama werden unterschiedliche Perspektiven einfühlsam erzählt. Diese Geschichte könnte so in jedem Krieg passieren, in jedem Jahrhundert", lobte der Schauspieler Jannik Schümann in seiner Laudatio. Er gehörte gemeinsam mit der Filmproduzentin und Historikerin Alice Brauner und Anne-Catherine Paulisch von Amnesty International zur Jury des Filmpreises, den die Organisation in diesem Jahr zum 19. Mal vergab.

Interview mit Regisseur Brandt Andersen

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Zur Auswahl standen 18 Spiel- und Dokumentarfilme aus aller Welt, die sich auf sehr unterschiedliche Art mit menschenrechtlich relevanten Themen auseinandersetzten. Mit "The Strangers' Case" wolle die Jury erreichen, dass dieser fiktionale und modern erzählte Film viele Menschen ins Kino locke, sagte Jannik Schümann dem Amnesty Journal. Alice Brauner verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, "dass das Thema Fluchtodyssee mit diesem wichtigen Film ein großes Publikum findet". Und Anne-Catherine Paulisch erklärte, der Gewinnerfilm berühre das Publikum und richte den Blick auf das Thema Flucht, "das Relevanz für die ganze Menschheit hat".

"Geflüchtete aus der Anonymität holen"

Regisseur Brandt Andersen bedankte sich in einer emotionalen Rede für den Amnesty-International-Filmpreis. Er arbeite seit Langem daran, Geflüchtete aus der Anonymität zu holen und ihre Schicksale individuell erlebbar zu machen. Der US-amerikanische Aktivist und Filmemacher hat mehr als 30 Filme produziert. Er filmte in Flüchtlingslagern und rückte die Lebensbedingungen der Geflüchteten dort ins Bild. Sein Regiedebüt, der Kurzfilm "Refugee", war für einen Oscar nominiert.

"Das Thema Flucht ist mir ein Herzensanliegen", sagte er dem Amnesty Journal und verkündete, er wolle das Preisgeld von 5.000 Euro an Amnesty International Deutschland spenden – was vor ihm noch kein Preisträger getan hat.

Gruppenfoto der drei Jury-Mitglieder und dem Regisseur, der eine Urkunde in der Hand hält. Die vier Personen stehen nebeneinander und lächeln.

Regisseur Brandt Andersen (2. v.r.) wurde auf der Berlinale 2024 für seinen Film "The Strangers' Case" von den Amnesty-Jury-Mitgliedern Anne-Catherine Paulisch, Dr. Alice Brauner und Jannik Schümann mit dem Amnesty-Filmpreis ausgezeichnet (24. Februar 2024).

Lobende Erwähnungen

Auch zwei lobende Erwähnungen vergab die Jury. Eine ging an den Dokumentarfilm "Intercepted" (CAN/F/UKR 2024) von Oksana Karpovych. Er zeigt die Zerstörungen, die der Krieg in der Ukraine angerichtet hat, unterlegt mit einer grauenvollen Tonspur: Telefongespräche russischer Soldaten mit ihren Eltern, die ukrainische Telekommunikationsunternehmen mitgeschnitten haben. Ein Dokument kaum auszuhaltender Brutalität und ein Plädoyer gegen den Krieg.

Lobend erwähnt wurde auch der in Peru angesiedelte und von jungen Darsteller*innen eindrucksvoll gespielte Film "Raíz" (PER/CHL 2024) von Franco García Becerra, der Umweltzerstörung durch Rohstoffabbau aus der Perspektive eines Kindes ins Bild setzt.

Darüber hinaus beeindruckte das Programm der Berlinale mit Filmen wie "Voices of The Silenced" (JPN/KOR 2024), der zwar etwas schwerfällig erzählt ist, aber dennoch sprachlos macht. Die 80-jährige, fast blinde Autorin und Aktivistin Park Soo-nam erzählt anhand vieler Dokumente, Interviews und Bilder vom Schicksal koreanischer Zwangsarbeiter, die in den Werften Nagasakis starben, als die US-Streitkräfte zum Ende des Zweiten Weltkriegs dort die Atombombe abwarfen. Auch den vielen Koreanerinnen, die von der japanischen Armee entführt und als "Trostfrauen" – sprich Sexsklavinnen – von Soldaten missbraucht wurden, setzt sie ein eindrucksvolles Denkmal.

Mit "My Favourite Cake" (IRN/F/SWE/D 2024), "My Stolen Planet" (D/IRN 2024) und "Shahid" (D 2024) stand der oft hart geführte Kampf um Frauenrechte im Iran auf dem Programm und mit "Das leere Grab" (D/TZA 2024) die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Deutschlands in Tansania.

Schwere Stoffe, die jedoch im Kino ihren festen Platz haben müssen. Oder in den Worten von Alice Brauner: "In Zeiten, da Medien zu Mitteln von Polarisierung und Propaganda werden, darf sich der Film nicht allein der leichten Unterhaltung oder dem ästhetischen Genuss verpflichten. Er muss ein Medium der Verständigung sein."

"The Strangers´ Case" ("Los des Fremden") von Brandt Andersen mit Yasmine Al Massri, Yahya Mahayni, Omar Sy u.a., Jordanien 2024, Philistine Films.

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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