Amnesty Journal Deutschland 16. November 2020

Auch wir retten Leben

Eine junge Frau mit schwarzem lockigem Haar steht an einer Ziegelsteinmauer und blickt in die Kamera.

"Menschen auf der Suche nach ihrem eigenen Retter begleiten": Die Psychologin Livia Brandão

In der Klinik, in der eigenen Praxis oder im Mittelmeer: In einer Mini-Serie stellen wir Lebensretterinnen und Lebensretter im Porträt vor.

Von Malte Göbel

Jeder Mensch ist wichtig

Livia Brandão arbeitet in Berlin als Psychologin und ­psychotherapeutische Heilpraktikerin.

"Leben retten bedeutet für mich, Menschen auf der Suche nach einem sinnvollen Lebensweg zu begleiten", sagt Livia Brandão. Die 36-Jährige ist psychotherapeutische Heilpraktikerin in Berlin. Für sie geht es darum, ein Leben in seiner Lebenswürdigkeit zu retten. "Manche Menschen haben das Gefühl, dass ihr Leben nichts wert ist, dass ihre Rolle auf der Welt unwichtig ist, dass ihre Seele durch traumatische Erfahrungen zerstört ist." Livia Brandão begleitet diese Menschen mit psychotherapeutischen Methoden und hilft, in ein sinnerfülltes Leben zurückzufinden.

Einfach ist das nicht. Die Arbeit hat viele Komponenten, etwa Achtsamkeit. "Ich rate meinen Patienten oft: Sei präsent in der Gegenwart, baue immer eine Verbindung auf mit dem Moment und dem Ort, an dem du gerade bist." Die Vergangenheit soll nicht Platz in der Gegenwart nehmen, man soll sich nicht von quälenden Gedanken und Selbstzweifeln ablenken lassen.

Zumal, und das ist die nächste Komponente, man nicht ändern kann, was in der Vergangenheit liegt. "Aber es gibt etwas, das man ändern kann, das ist die eigene Geschichte, die man dazu erzählt, mit welchen Emotionen man sich daran erinnert, wie man sich dadurch verändert hat, wie man stärker geworden ist. Das gibt auch neuen Sinn." Wichtig sind auch Beziehungen und Bindungen zu anderen Menschen. "Bindung ist unser größtes psychologisches Grundbedürfnis, wir sind soziale Wesen, wir brauchen täglich Liebe – egal ob vom Partner, von Freunden oder von der Familie." Es ist also wichtig, Liebe zu bekommen und zu geben und schlechte Erfahrungen zu verarbeiten, "so dass der Mensch echte Liebe für sich selbst und für andere empfindet und spürt, dass Liebe viel größer ist als jeder Konflikt".

 

Leben retten bedeutet für mich, Menschen auf der Suche nach ihrem eigenen Retter zu begleiten. Das heißt auf dem Weg der Wiederverbindung mit ihrer eigenen Seele und dem Sinn des Lebens. Das Bewusstsein für den sinnvollen Lebensweg zu stärken, ist ein großartiger Weg zur Heilung. Wie C.G. Jung schon mal geschrieben hat, das Ziel des Lebens ist nicht Glück, sondern Sinn.

Livia
Brandão
Psychologin und psychotherapeutische Heilpraktikerin

 

Livia Brandão ist seit elf Jahren Psychologin, seit vier Jahren bietet sie Therapien an, seit einem Jahr hat sie ihre eigene Praxis. In den Jahren 2018/19 war sie stellvertretende Leiterin einer Flüchtlingsunterkunft. "Das war mit Stress verbunden, aber auch sehr bereichernd, ich kam mit vielen Kulturen in Kontakt und mit dem Willen, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen." Irgendwann merkte sie, wie wichtig es für sie ist, sich in Einzelarbeit mit Menschen zu beschäftigen und sie persönlich zu begleiten. Also eröffnete sie ihre eigene Praxis. In Deutschland lebt sie seit 2009. "Ich bin in einer Kleinstadt in Brasilien aufgewachsen, in Vila Velha, und ich wollte in eine andere Welt." Eine Freundin erzählte ihr von Berlin, sie fuhr hin  – und blieb. "Alles ist anders hier, es riecht anders, klingt anders. Diesen Stress unterschätzt man anfangs. Aber genau das wollte ich so!"

Therapeutin ist sie geworden, weil sie bei ihrer Mutter erlebt hat, wie wichtig Therapie ist. "Meine Mutter hatte eine depressive Krise, als ich 15 war." Beide fuhren in die Stadt, die Mutter zur Psychotherapie, Livia Brandão zur Physiotherapie. Im Auto erzählte ihre Mutter, wie die Therapie helfe. "Ich konnte miterleben, wie sie die Depression überwunden hat." Das hat sie so beeindruckt, dass sie selbst anderen Menschen helfen wollte.

 

Hilfe für Mutter und Kind

Mahtab Bazargan ist Gynäkologin in der ­Frauenklinik an der Elbe in Hamburg.

Eine Frau mit schwarzen Haaren trägt eine OP-Hose und ein OP-Hemd und steht mit verschränkten Armen vor einer Wand; sie lächelt.

Anderen Frauen helfen: Die Gynäkologin Mahtab Bazargan

 

"Leben retten bedeutet für mich, Menschen in ihrer Not zu helfen, egal wie und wo", sagt Mahtab Bazargan. Die 49-Jährige ist Gynäkologin in der Frauenklinik an der Elbe in Hamburg, Deutschlands größter gynäkologischer Tagesklinik. Ihr Aufgabengebiet: "Alles, was mit dem weiblichen Genital zu tun hat", sagt sie.

Sie operiert viel, meist ambulant, 80 Prozent ihrer Patientinnen können am gleichen Tag schon wieder nach Hause. Operieren mache ihr Spaß, sagt sie, und beginnt zu schwärmen: "Es ist ein großartiges Handwerk. Man greift buchstäblich in den Körper der Menschen ein und hilft ihnen. Und nach der Operation geht es ihnen besser. Ich habe einen Beruf, der Menschen glücklich macht. Das ist schön."

 

 

Ich rette Leben, weil jedes Leben lebenswert ist.

Mahtab
Bazargan
Gynäkologin

 

Doch kann sich Mahtab Bazargan nicht vorstellen, den ganzen Tag nur im Operationssaal zu stehen. Dafür ist ihr der Kontakt zu den Patientinnen viel zu wichtig. "Ich habe gern mit Menschen zu tun, ich mag es, zuzuhören und dann gemeinsam Probleme anzugehen." Und sie mag es, dass sie so viel mit Frauen zu tun hat. "So von Frau zu Frau kann man manche Dinge besser nachvollziehen und sich besser in die Lage der anderen versetzen." Seit 20 Jahren ist sie Gynäkologin, und sie hat es nie bereut. "Es ist ein sehr facettenreicher Beruf", sagt sie, "und genau deswegen habe ich ihn ausgewählt." 

Mahtab Bazargan wollte schon immer Ärztin werden. Ihre Kindheit verbrachte sie im Iran, doch als sie 15 war, beschlossen ihre Eltern, das Land zu verlassen. "Meine Eltern wollten wegen der politischen Lage nicht im Iran bleiben." Sie gingen nach Hamburg, ihre Tochter kam dort in die neunte Klasse und musste erst einmal Deutsch lernen.

In Hamburg hat sie dann auch Wurzeln geschlagen, trotz ­Abstechern für Praktika in andere Teile Deutschlands und sogar in die USA. "Ich habe gute Freunde in Hamburg gefunden und hatte nie einen Grund, wegzugehen." Heute wohnt sie in Altona. "Das ist meine Heimat heute."

 

Leben retten bedeutet für mich, Menschen in ihrer Not zu helfen, egal wie und wo.

Mahtab
Bazargan
Gynäkologin

 

Eine Zeitlang hatte sie die Absicht, Entwicklungshelferin zu werden, und machte während ihres Studiums ein sechswöchiges Praktikum in Nicaragua. "Aber das kann ich seelisch nicht, man sieht so viel Leid und ist selbst so hilflos." Die Möglichkeiten vor Ort seien sehr begrenzt im Vergleich zu dem, was sie aus Deutschland gewohnt ist. "Man braucht das Drumherum, das Team, das Equipment. Es ist nicht so einfach, wie ich es mir als Medizinstudentin gedacht habe."

In ihrem Geburtsland war sie seit der Jugend nicht mehr. Aber sie schwärmt: "Ich koche gern persisch, und die iranische Kultur ist großartig. Ich würde gern mal wieder hin, mit der ganzen Familie." Sie ist Mutter eines neun- und eines siebenjährigen Jungen. Beide haben viel vom Iran gehört und sind heiß darauf, das Land zu besuchen. "Sie träumen von persischen Gärten, von Granatäpfeln und Maulbeeren." Auch in anderer Weise folgen die Söhne der Mutter. "Beide sagen, sie wollen später anderen Menschen helfen, die in Not geraten."

Malte Göbel arbeitet als freier Journalist in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Leben retten – hier und überall: www.amnesty.de/allgemein/kampagnen/retten-verboten

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